Bei der Langen Nacht der Ideen 2018 füllte Traduki das Berliner Kino Babylon mit Literaturbegeisterten und wortgewandten Autor*innen. Dieses Mal drehten wir den Spieß um. Die Balkan Film Night brachte am 19. Juni 2020 die siebente Kunst direkt in die Wohnzimmer!
Zu sehen: Eine Auswahl südosteuropäischer Filme. Den Anfang machten wir mit dem Kurzfilm Blind Vaysha, gefolgt vom Dokumentarfilm The Final Adventure of Kaktus Kid. Später am Abend überließen wir es dem Publikum, zu entscheiden, wie es die Nacht fortsetzen wollte. Zur Auswahl standen zwei vielschichtige Filme zum Thema Herkunft und Zugehörigkeit, Borders, Raindrops und Gott existiert, ihr Name ist Petrunya.
Außerdem konnte man auf unserem YouTube-Kanal Gespräche und Interviews mit unseren Gästen verfolgen, u.a. der Balkan Film Week Kuratorin Marija Katalinić, der Berlinale-prämierten Regisseurin Teona Strugar Mitevska und dem Comiczeichner Aleksandar Zograf. Um Mitternacht war Schluss, dann lief nur noch der Abspann.
Alle Balkan Film Night Talks sind auch weiterhin hier rechts oder direkt auf unserem YouTube-Kanal abrufbar!
Wir bedanken uns bei allen Teilnehmer*innen!
Die Balkan Film Night ist eine Veranstaltung im Rahmen der Langen Nacht der Ideen.
#LNDI2020
18:00 Uhr
Auftakt: Online Empfang mit Marija Katalinić
Moderation: Barbara Anderlič
18:30 Uhr
Blind Vaysha
19:00 Uhr
Interview mit Georgi Gospodinov
Moderation: Hana Stojić
19:30 Uhr
The Final Adventure of Kaktus Kid
21:00 Uhr
Interview mit Aleksandar Zograf
Moderation: Ivan Petrović
21:30 Uhr
Diskussion mit Teona Strugar Mitevska und Vlastimir Sudar
Moderation: Marija Katalinić
22:00 Uhr
Borders, Raindrops
22:00 Uhr
Gott existiert, ihr Name ist Petrunya
Blind Vaysha
Theodore Ushev, 2016, 8 Min., Kurzfilm
Kanada
Original (Englisch)
Produktion und Vertrieb: National Film Board of Canada
Der Film basiert auf der gleichnamigen Geschichte von Georgi Gospodinov und erzählt vom Leben eines Mädchens, das mit einem Auge die Zukunft und mit dem anderen die Vergangenheit sieht. Der Film war 2017 in der Kategorie Best Animated Short für den Oscar nominiert.
The Final Adventure of Kaktus Kid
Đorđe Marković, 2018, 62 Min., Dokumentarfilm
Serbien
OmeU
Der bekannte Cartoonist Aleksandar Zograf entdeckt ein ungewöhnliches Comicbuch aus dem Zweiten Weltkrieg. Der Held des Comics ist Kaktus Bata – ein kleiner Kaktus, der in seinem Topf gefangen ist. Fasziniert beginnt Zograf das Leben des Schöpfers dieses Werks, des wenig bekannten Künstlers Veljko Kockar, zu recherchieren. Zografs Untersuchungen enthüllen eine komplexe und verknotete Geschichte. Während er Kockars Leben erforscht, sieht sich Zograf mit seinen eigenen persönlichen und künstlerischen Problemen konfrontiert: Warum haben diese kleinen Zeichnungen eine solche Kraft, Trost zu spenden, aber auch zu Gewalt zu führen?
Borders, Raindrops
Nikola Mijović / Vlastimir Sudar, 2018, 94 Min., Spielfilm
Bosnien und Herzegowina / Montenegro / Serbien / Großbritannien / Schweden
OmeU
Ein Sommer in einem Bergdorf an der Grenze zwischen Kroatien, Bosnien und Herzegowina. Die junge Philosophiestudentin Jagoda aus Montenegro besucht ihre Familie und bricht die vermeintliche Monotonie des Dorflebens auf. Der Jugoslawienkrieg hat hier und in der Familie viele Wunden hinterlassen. Doch dieser Sommer steht im Zeichen der Versöhnung. Während die Älteren sich mit den neu geordneten Staatsgrenzen abfinden, sind die Jüngeren bereit, diese zu brechen. So kommt der kroatische Grenzsoldat Nikola der Familie von Jagoda immer näher.
Gott existiert, ihr Name ist Petrunya
Teona Strugar Mitevska, 2019, 100 Min., Spielfilm
Nordmazedonien / Belgien / Slowenien / Kroatien / Frankreich
OmdU
Petrunya ist 32 und arbeitslos. Sie hat Geschichte studiert. Doch Historikerinnen werden in Nordmazedonien nicht gebraucht. Während ihres Vorstellungsgespräches bei einem Textilfabrikanten mokiert sich der Arbeitgeber über ihr geblümtes Kleid. Den Job hat sie nicht bekommen. Am Dreikönigstag springt sie, einem alten Brauch folgend, mit Männern ins Wasser und sucht nach dem Heiligen Kreuz. Sie findet es als Erste und verteidigt es gegen die Horde. Der Film hatte seine Premiere auf der Berlinale 2019.
Teilnehmer*innen
Barbara Anderlič
BFN Projektleitung
Georgi Gospodinov
Autor von Blind Vaysha
Marija Katalinić
Balkan Film Week Kuratorin
Ivan Petrović
Übersetzer von Zografs Partisanenpost
Hana Stojić
Kuratorin des Common Ground Programms
Teona Strugar Mitevska
Regisseurin von Gott existiert, ihr Name ist Petrunya
Vlastimir Sudar
Co-Regisseur von Borders, Raindrops
Aleksandar Zograf
Comiczeichner und Protagonist von The Final Adventure of Kaktus Kid
From Film Week to Film Night and Beyond
Die Balkan Film Week im März 2020 verstand sich als Auftakt des Projektes Common Ground: Literatur aus Südosteuropa, das 2020-2022 auf den Leipziger Buchmessen den Westbalkan als Schwerpunktregion vorstellen wird. Common Ground soll über drei Jahre die Präsenz südosteuropäischer Autor*innen und ihrer faszinierenden und vielfältigen Literatur im deutschsprachigen Raum befördern. Das übergreifende Thema für 2020 lautet Herkunft und Zugehörigkeit. Und so ging es auch in den acht Filmen, die auf der 2. Balkan Film Week vorgestellt wurden, um das ewige Sein oder Nichtsein, um die und um uns. Bei der Balkan Film Night zeigen wir 2 Filme aus diesem Programm. Hier zum Nachlesen Marija Katalinićs wunderbarer Einführungstext zur Filmwoche:
Common Ground: Herkunft und Zugehörigkeit
Das Gefühl und das Wissen um die eigene Zugehörigkeit gehören zu den verblüffendsten Erfahrungen im Leben. Zwar scheint Zugehörigkeit eine persönliche Angelegenheit zu sein, doch das Verb gehören verlangt a priori nach einem dazu. Zu wissen, dass man dazugehört, beispielsweise zu einer Gruppe, deren Werte und Merkmale, deren gemeinsame Erlebnisse man teilt, erzeugt ein Gefühl der Akzeptanz; als Subjekt von bestimmbarer Herkunft wird man anerkannt. In dieser Formel übernimmt die Herkunft die Rolle einer „Quelle“, sie ist Schauplatz der eigenen Zugehörigkeit – zu Familie, Nationalität, Land, Gesellschaft und Kultur. Zugehörigkeit kann das starke Gefühl vermitteln, am rechten Platz und dabei anerkannt zu sein, gleichzeitig können dadurch aber auch die immerwährenden Fragen nach der eigenen Identität aufkommen und, im besten Falle, produktive Debatten losgetreten werden. Nicht ohne Grund war, historisch gesehen, die Idee der Zugehörigkeit eigentlich immer mit Begriffen wie Traditionalität, Strenge und Rigidität verwoben.
In diesem gedanklichen Gewebe sind „Wurzeln“ eine oft wiederholte Metapher: Bilder von fruchtbarem Boden werden heraufbeschworen, verleiten zum Nachdenken über lineare Lebensgeschichten, über Beständigkeit und: Zugehörigkeit. Dieses Bild aber konkurriert mit der Anschauung, Identität sei ein fluides, geschmeidiges Wesen, das sich durch die Einflüsse von „außen“ immer wieder neu erfindet. Letztendlich wird Zugehörigkeit ein Leben lang im Zusammenleben mit verschiedensten Personen, zu diversen Zeitpunkten, an unterschiedlichen Orten, mit dem sich wandelnden Ich immer wieder aufs Neue verhandelt.
Das Programm der zweiten Leipziger Balkan Film Week zeigt Filme, die dem diesjährigen Thema Common Ground: Herkunft und Zugehörigkeit folgen und vor dem Hintergrund des vielschichtigen geografischen Raumes der Balkanregion komplexe Geschichten um und über Identität zeigen. Während der vier Filmtage ist das Publikum dazu eingeladen, in zahlreiche Welten einzutauchen, die das Thema Zugehörigkeit aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten, auf eine Art und Weise, die nicht nur an den Südosten Europas gebunden ist, sondern zu vielen Orten und Plätzen unserer Welt Bezug hat. Die unterschiedlichen Facetten von Zugehörigkeit spannen einen weiten Bogen: von der Zugehörigkeit zur Familie, zum Heimatland oder der neuen Heimat (als Migrant, Flüchtling oder Asylsuchender), zur Religion oder zur Neudeutung derselben, zur eigenen Sexualität bzw. zum eigenen Gender, und nicht zuletzt zu einer bestimmten und bestimmenden Kultur. Die acht Filme, die dieses Jahr präsentiert werden, untersuchen und diskutieren die subtilen Kämpfe und Kompromisse, die dem Phänomen der Zugehörigkeit innewohnen. Denn Zugehörigkeit schließt von Natur aus einige ein und folglich andere aus. In der heutigen globalisierten Welt, in der immer strengere innere Grenzen gezogen werden – eigentlich eine contradictio in adiecto, ist die Dialektik der Gleichzeitigkeit von Inklusion und Exklusion ein unumgängliches Thema.
Marija Katalinić, Balkan Film Week Kuratorin
Illustration: Lea Zupančič
Gestaltung (Postkarte und Banner): Janett Andrejewski