Essays & Auszüge
Auf dieser Seite präsentieren wir Essays und Übersetzungen, die im Rahmen von TRADUKI-Projekten in Auftrag gegeben worden sind.
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Leipziger Buchmesse 2023 - Übersetzungen
Judita Šalgo | Stubovi Kulture Verlag | 1997
Übersetzt Von Elvira Veselinović
Gemäß einer Randgestalt unter den Nachkommen der Familie Rothschild lautet deren Genesis folgendermaßen:
Als Gott den Menschen erschuf, nannte er ihn Mayer Amschel Rothschild. Dieser lebte siebzig Jahre und bekam sieben Söhne, die er in fünf europäische Metropolen schickte. Der Londoner Sohn Nathan, genannt der Goldene, finanzieller Sieger der Schlacht von Waterloo, gebar Lionel, den Financier des Suez-Kanals und britischen Parlamentarier; Lionel lebte siebzig Jahre und gebar Nathaniel, den ersten Lord unter den Rotschilds und a…
Đorđe Lebović | Laguna Verlag | 2016
Übersetzt von Jelena Dabić
Ich notierte in mein Allerlei-Notizheft: „15. Juli 1938. Ein wichtiges Datum: ab heute bin ich kein Millionär mehr.“ An diesem Tag tauchten wieder die G-men auf. Diesmal fehlte Charly Chen. Sie kamen herein, größten den Stiefvater, setzten sich, der Birnenkopf sagte: „Ich würde Sie bitten, das Radio leiser zu stellen“, und Stiefvater erwiderte: „Das ist nicht das Radio, sondern meine Frau, im Nebenzimmer, sie hält eine Klavierstunde.“ Der Birnenkopf sagte darauf: „So ist es, ich entschuldige mich. Ich hab…
Leipziger Buchmesse 2021 - Essays
von Zoran Žmirić
Deutsch von Mascha Dabić
Ich sitze bei einem Kaffee mit Liam, der geschickt eine Zigarette rollt, das Papier mit Speichel befeuchtet, den Rauch ausbläst und dann sagt: „Ich habe ein Kapitel aus deinem Roman gelesen. Hervorragend übersetzt. Schreibst du sonst auch immer Horror?“ Galway und Rijeka sind Kulturhauptstädte 2020, und es lief darauf hinaus, dass ich früher oder später einem aktiveren Mitglied der irischen Kunstszene über den Weg laufen würde. Liam ist fingerstyle Gitarrist, Maler und Dichter, und während meines kurzen Aufenthalts in Galway ist er …
von Xhevdet Bajraj
Deutsch von Anila Wilms
Die ersten Noten des Beerdigungs-Blues für Jugoslawien erklangen ein Jahr nach Titos Ableben. Zehn Jahre lang spielte diese Musik, ehe der Totentanz der jugoslawischen Auflösung begann, der ebenfalls knapp zehn Jahre dauerte.
Jugoslawien stellte ein sozialistisches System mit “menschlichem Antlitz” dar – zu einem solchen wurde es zumindest von den Ideologen der Zeit verklärt. Ob dieses Antlitz schön oder hässlich war, bleibe dahingestellt; doch kennt die Geschichte keinen (ex-)sozialistischen Staat, in dem es sich besser lebe…
von Rumena Bužarovska
Deutsch von Michael Ebmeyer
Zu meinen schönsten Erinnerungen an das Jugoslawien der mittleren 80er-Jahre zählen die langen Sommer. Den ganzen Juli und August über war Skopje, die Hauptstadt Mazedoniens (heute Nordmazedoniens), eine menschenleere, verträumte Landschaft, zu der die Grillen den Soundtrack beisteuerten. Mein Bruder und ich verbrachten die Schulferien in Mavrovo, in einem Haus, das mein Großvater zusammen mit einem befreundeten Partisanen aus dem griechischen Bürgerkrieg gebaut hatte – mein Großvater war griechischer, sein Freund mazedonischer Herkunf…
von Blerina Rogova Gaxha
Deutsch von Anila Wilms
Mein Vater ist kein besonders geselliger Mensch. Gespräch ist seine Sache nicht. Selten redet er, und wenn, dann nur kurz. An jenem Septembertag 1990 machte er den Mund gar nicht erst auf. Er kam von der Arbeit nach Hause und zog sich schweigend in sein Zimmer zurück.
Es ist für Nahestehende nicht immer leicht zu erkennen, wenn jemand einen Absturz erleidet. Aber bei verschwiegenen Menschen, wie meinem Vater, erst recht. Als Maschinenbauer leitete er zu jener Zeit die Energieabteilung in der Fabrik Metaliku bei Gjakova – eine Stadt im Südw…
von Aleksandar Bečanović
Deutsch von Mascha Dabić
Im Jahr 1992 kam das Album von Jura Stublić und seiner Band „Film“ heraus, Futter für die Tauben. Unter A2 war eine Nummer mit dem folgenden Titel zu finden: Eh, mein Belgrader Freund. Es war der letzte jugoslawische Pop-Song.
In der Periode meines Aufwachsens in den achtziger Jahren in Montenegro und in Jugoslawien spielte die Suche nach der eigenen Identität eine große Rolle. Ich weiß nicht, wie die Dinge jetzt liegen, für die heutige Jugend, die im Netz nationaler Stereotypen gefangen ist, aber im Post-Tito-Jugosla…
von Drago Jančar
Deutsch von Daniela Kocmut
Wenn das gemeinsame Leben in einer Ehe unerträglich wird, entscheiden sich die Eheleute für eine Scheidung. Und wenn dies nach langen und mühseligen Gesprächen, nach schrecklichen und allseitig erniedrigenden Formalitäten endlich eintrifft, kommt auf beiden Seiten eine gähnende Leere zum Vorschein. Die Leere einer ausgeräumten Wohnung, die Leere einer menschlichen Amputation, der leere Klang der Stille dessen, was fehlt. Und dies obwohl es zahlreiche Konflikte gegeben hat, jawohl, sogar Hassgefühle. Aber wo Hass herrscht, da herrscht au…
von Slobodan Šnajder
Deutsch von Mirjana und Klaus Wittmann
Es gibt eine Stelle in seinen Memoiren, die Josip Broz, schon als junger Untergrundkämpfer der Alte genannt, inzwischen aber wirklich alt, bequem im Sessel sitzend, einmal vortrug. Broz (später Tito genannt) lutschte dabei an einer jener Zigarren, die Fidel Castro ihm regelmäßig zukommen ließ. Zwei Dinge verbanden die beiden Männer: die besten Zigarren der Welt und die Tatsache, dass sie die unbestrittenen Anführer ihrer Revolutionen waren. Man könnte noch ein drittes hinzufügen: Beinahe auf die gleiche Weise wird heute gelöscht, was …
von László Végel
Deutsch von György Buda
„Du hättest in keine bessere Zeit geboren werden können
als gerade in die heutige, in der wir alles
verloren haben.”
Simone Weil
1992 verabschiedete ich mich mit meinen Tagebuchaufzeichnungen von Jugoslawien. Es war Winter und Schnee fiel. Ich notierte mir damals, dass der AVNOJ, der Antifaschistische Rat der Nationalen Befreiung Jugoslawiens, fünfzig Jahre zuvor, im November 1942, in Bihać gegründet worden war. Dort wurden die Grundsteine für das sozialistisc…
von Faruk Šehić
Deutsch von Elvira Veselinović
Die Zeit meines persönlichen Kataklysmus beginnt am 21. April 1992. An diesem Tag griffen bewaffnete serbische Extremisten, unterstützt durch die ehemalige Jugoslawische Volksarmee, meine Stadt an. Es waren unsere ‘Nachbarn’, Mitbürger, die sich in einer konzertierten Aktion aus der Stadt zurückgezogen hatten, um uns von den umliegenden Bergen her anzugreifen.
Der Angriff auf mein Land hatte schon vor diesem Datum stattgefunden, denn bis zum 21. April waren bereits viele Städte an der Ostgrenze zu Serbien, das damals noch Jugoslawien hi…
von Darko Cvijetić
Deutsch von Mascha Dabić
(poetischer Essay, früher November des Jahres 2020)
EINFÜHRUNG…
von Lidija Dimkovska
Deutsch von Michael Ebmeyer
1) Meine jugoslawische Kindheit
Ich verbrachte meine Kindheit in einem kleinen Dorf in Mazedonien, Šlegovo hieß es, bei meinen Großeltern. Meine Eltern blieben der Arbeit wegen in Skopje, meiner Geburtsstadt, und sie besuchten mich an jedem Feiertag. Daher liebte ich die nationalen Feiertage Jugoslawiens, den Tag der Armee, den Tag des Staates, den 1. Mai, denn sie brachten meine Eltern zu mir. Später brachten die gleichen Feiertage mich zu meinen Großeltern….
von Tomislav Marković
Deutsch von Margit Jugo
Der blutige Zerfall Jugoslawiens fiel in die Zeit meiner Kindheit und meines Heranwachsens. Während der oberste Kommandant der Horde des Bösen, Slobodan Milošević, danach strebte, mein Land gründlich auseinanderzunehmen, formte ich mich als Person und denkendes Wesen. Nicht nur in meinem, sondern im Namen von uns allen, die wir in den Siebzigern geboren sind, kann ich sagen, dass uns die Erfahrung des Zerfalls Jugoslawiens entscheidend beeinflusst hat, dass sie uns als Menschen geprägt und bestimmt hat, was wir sind und sein werden. Auch …
von Andrej Nikolaidis
Deutsch von Margit Jugo
Was kann euch einer über Nostalgie erzählen, der sein Leben lang über sie liest und schreibt?
Vielleicht kann er sich vor allem selbst die Frage zu erklären versuchen: Woher diese ganze Nostalgie? Wo entspringt ihr breiter Lauf, der sich wie eine füllige, uralte Schlange nicht zum Meer hinbewegt, sondern zur blauen Leere der Melancholie?…
von Mile Stojić
Deutsch von Klaus Detlef Olof
Drei Jahrzehnte sind seit dem Tod des sozialistischen Jugoslawien vergangen, und darüber ist mehr oder weniger alles gesagt. Der Sozialismus ist untergegangen, und untergegangen ist auch der Staat, der diese Bezeichnung getragen hat, denn, so wird der ausländische Betrachter sagen, nichts auf der Welt ist ewig, auch kein Staat. Der zweite Staat der Südslawen ist allerdings schmählich untergegangen, sein Zerfall war ein blutiger und lange währender, mit Bergen von Leichen, die jetzt die ehemaligen „Brudervölker“ spalten, aber sein geis…
von Goran Vojnović
Deutsch von Klaus Detlef Olof
Mein Vater liebt unsere Lieder, und ich auch. Volkstümlich würde mein Vater sie nennen, aber das mir scheint nicht die richtige Bezeichnung für sie zu sein. Diese Lieder sind Sevdalinke, traditionelle altstädtische Romanzen, Kaffeehauslieder, mazedonische Volkslieder, jugoslawische Schlager. Sie habe viele Namen und sind doch namenlos. Bosnische Lieder würde man hier, in Slowenien, zu ihnen sagen, obwohl es unter ihnen auch kroatische, serbische, mazedonische und montenegrinische Lieder gibt. Am besten könnte ich sie wohl als Lieder besch…