Essays & Auszüge

Auf dieser Seite präsentieren wir Essays und Übersetzungen, die im Rahmen von TRADUKI-Projekten in Auftrag gegeben worden sind.

Zwischen den Zeilen – Zwischen den Zeiten

Leipziger Buchmesse 2023 - Übersetzungen

  • Judita Šalgo | Stubovi Kulture Verlag | 1997
    Übersetzt Von Elvira Veselinović

    Gemäß einer Randgestalt unter den Nachkommen der Familie Rothschild lautet deren Genesis folgendermaßen:

    Als Gott den Menschen erschuf, nannte er ihn Mayer Amschel Rothschild. Dieser lebte siebzig Jahre und bekam sieben Söhne, die er in fünf europäische Metropolen schickte. Der Londoner Sohn Nathan, genannt der Goldene, finanzieller Sieger der Schlacht von Waterloo, gebar Lionel, den Financier des Suez-Kanals und britischen Parlamentarier; Lionel lebte siebzig Jahre und gebar Nathaniel, den ersten Lord unter den Rotschilds und a…

  • Đorđe Lebović | Laguna Verlag | 2016
    Übersetzt von Jelena Dabić

    Ich notierte in mein Allerlei-Notizheft: „15. Juli 1938. Ein wichtiges Datum: ab heute bin ich kein Millionär mehr.“ An diesem Tag tauchten wieder die G-men auf. Diesmal fehlte Charly Chen. Sie kamen herein, größten den Stiefvater, setzten sich, der Birnenkopf sagte: „Ich würde Sie bitten, das Radio leiser zu stellen“, und Stiefvater erwiderte: „Das ist nicht das Radio, sondern meine Frau, im Nebenzimmer, sie hält eine Klavierstunde.“ Der Birnenkopf sagte darauf: „So ist es, ich entschuldige mich. Ich hab…

Archipel Jugoslawien

Leipziger Buchmesse 2021 - Essays

  • von Zoran Žmirić
    Deutsch von Mascha Dabić

    Ich sitze bei einem Kaffee mit Liam, der geschickt eine Zigarette rollt, das Papier mit Speichel befeuchtet, den Rauch ausbläst und dann sagt: „Ich habe ein Kapitel aus deinem Roman gelesen. Hervorragend übersetzt. Schreibst du sonst auch immer Horror?“ Galway und Rijeka sind Kulturhauptstädte 2020, und es lief darauf hinaus, dass ich früher oder später einem aktiveren Mitglied der irischen Kunstszene über den Weg laufen würde. Liam ist fingerstyle Gitarrist, Maler und Dichter, und während meines kurzen Aufenthalts in Galway ist er …

  • von Xhevdet Bajraj
    Deutsch von Anila Wilms

    Die ersten Noten des Beerdigungs-Blues für Jugoslawien erklangen ein Jahr nach Titos Ableben. Zehn Jahre lang spielte diese Musik, ehe der Totentanz der jugoslawischen Auflösung begann, der ebenfalls knapp zehn Jahre dauerte.

    Jugoslawien stellte ein sozialistisches System mit “menschlichem Antlitz” dar – zu einem solchen wurde es zumindest von den Ideologen der Zeit verklärt. Ob dieses Antlitz schön oder hässlich war, bleibe dahingestellt; doch kennt die Geschichte keinen (ex-)sozialistischen Staat, in dem es sich besser lebe…

  • von Rumena Bužarovska
    Deutsch von Michael Ebmeyer

    Zu meinen schönsten Erinnerungen an das Jugoslawien der mittleren 80er-Jahre zählen die langen Sommer. Den ganzen Juli und August über war Skopje, die Hauptstadt Mazedoniens (heute Nordmazedoniens), eine menschenleere, verträumte Landschaft, zu der die Grillen den Soundtrack beisteuerten. Mein Bruder und ich verbrachten die Schulferien in Mavrovo, in einem Haus, das mein Großvater zusammen mit einem befreundeten Partisanen aus dem griechischen Bürgerkrieg gebaut hatte – mein Großvater war griechischer, sein Freund mazedonischer Herkunf…

  • von Blerina Rogova Gaxha
    Deutsch von Anila Wilms

    Mein Vater ist kein besonders geselliger Mensch. Gespräch ist seine Sache nicht. Selten redet er, und wenn, dann nur kurz. An jenem Septembertag 1990 machte er den Mund gar nicht erst auf. Er kam von der Arbeit nach Hause und zog sich schweigend in sein Zimmer zurück.

    Es ist für Nahestehende nicht immer leicht zu erkennen, wenn jemand einen Absturz erleidet. Aber bei verschwiegenen Menschen, wie meinem Vater, erst recht. Als Maschinenbauer leitete er zu jener Zeit die Energieabteilung in der Fabrik Metaliku bei Gjakova – eine Stadt im Südw…

  • von Aleksandar Bečanović
    Deutsch von Mascha Dabić

    Im Jahr 1992 kam das Album von Jura Stublić und seiner Band „Film“ heraus, Futter für die Tauben. Unter A2 war eine Nummer mit dem folgenden Titel zu finden: Eh, mein Belgrader Freund. Es war der letzte jugoslawische Pop-Song.

    In der Periode meines Aufwachsens in den achtziger Jahren in Montenegro und in Jugoslawien spielte die Suche nach der eigenen Identität eine große Rolle. Ich weiß nicht, wie die Dinge jetzt liegen, für die heutige Jugend, die im Netz nationaler Stereotypen gefangen ist, aber im Post-Tito-Jugosla…

  • von Drago Jančar
    Deutsch von Daniela Kocmut

    Wenn das gemeinsame Leben in einer Ehe unerträglich wird, entscheiden sich die Eheleute für eine Scheidung. Und wenn dies nach langen und mühseligen Gesprächen, nach schrecklichen und allseitig erniedrigenden Formalitäten endlich eintrifft, kommt auf beiden Seiten eine gähnende Leere zum Vorschein. Die Leere einer ausgeräumten Wohnung, die Leere einer menschlichen Amputation, der leere Klang der Stille dessen, was fehlt. Und dies obwohl es zahlreiche Konflikte gegeben hat, jawohl, sogar Hassgefühle. Aber wo Hass herrscht, da herrscht au…

  • von Slobodan Šnajder
    Deutsch von Mirjana und Klaus Wittmann

    Es gibt eine Stelle in seinen Memoiren, die Josip Broz, schon als junger Untergrundkämpfer der Alte genannt, inzwischen aber wirklich alt, bequem im Sessel sitzend, einmal vortrug. Broz (später Tito genannt) lutschte dabei an einer jener Zigarren, die Fidel Castro ihm regelmäßig zukommen ließ. Zwei Dinge verbanden die beiden Männer: die besten Zigarren der Welt und die Tatsache, dass sie die unbestrittenen Anführer ihrer Revolutionen waren. Man könnte noch ein drittes hinzufügen: Beinahe auf die gleiche Weise wird heute gelöscht, was …

  • von László Végel
    Deutsch von György Buda

    Du hättest in keine bessere Zeit geboren werden können
    als gerade in die heutige, in der wir alles
    verloren haben.
    Simone Weil

    1992 verabschiedete ich mich mit meinen Tagebuchaufzeichnungen von Jugoslawien. Es war Winter und Schnee fiel. Ich notierte mir damals, dass der AVNOJ, der Antifaschistische Rat der Nationalen Befreiung Jugoslawiens, fünfzig Jahre zuvor, im November 1942, in Bihać gegründet worden war. Dort wurden die Grundsteine für das sozialistisc…

  • von Faruk Šehić
    Deutsch von Elvira Veselinović

    Die Zeit meines persönlichen Kataklysmus beginnt am 21. April 1992. An diesem Tag griffen bewaffnete serbische Extremisten, unterstützt durch die ehemalige Jugoslawische Volksarmee, meine Stadt an. Es waren unsere ‘Nachbarn’, Mitbürger, die sich in einer konzertierten Aktion aus der Stadt zurückgezogen hatten, um uns von den umliegenden Bergen her anzugreifen.

    Der Angriff auf mein Land hatte schon vor diesem Datum stattgefunden, denn bis zum 21. April waren bereits viele Städte an der Ostgrenze zu Serbien, das damals noch Jugoslawien hi…

  • von Darko Cvijetić
    Deutsch von Mascha Dabić

    (poetischer Essay, früher November des Jahres 2020)

    EINFÜHRUNG…

  • von Lidija Dimkovska
    Deutsch von Michael Ebmeyer

    1) Meine jugoslawische Kindheit

    Ich verbrachte meine Kindheit in einem kleinen Dorf in Mazedonien, Šlegovo hieß es, bei meinen Großeltern. Meine Eltern blieben der Arbeit wegen in Skopje, meiner Geburtsstadt, und sie besuchten mich an jedem Feiertag. Daher liebte ich die nationalen Feiertage Jugoslawiens, den Tag der Armee, den Tag des Staates, den 1. Mai, denn sie brachten meine Eltern zu mir. Später brachten die gleichen Feiertage mich zu meinen Großeltern….

  • von Tomislav Marković
    Deutsch von Margit Jugo

    Der blutige Zerfall Jugoslawiens fiel in die Zeit meiner Kindheit und meines Heranwachsens. Während der oberste Kommandant der Horde des Bösen, Slobodan Milošević, danach strebte, mein Land gründlich auseinanderzunehmen, formte ich mich als Person und denkendes Wesen. Nicht nur in meinem, sondern im Namen von uns allen, die wir in den Siebzigern geboren sind, kann ich sagen, dass uns die Erfahrung des Zerfalls Jugoslawiens entscheidend beeinflusst hat, dass sie uns als Menschen geprägt und bestimmt hat, was wir sind und sein werden. Auch …

  • von Andrej Nikolaidis
    Deutsch von Margit Jugo

    Was kann euch einer über Nostalgie erzählen, der sein Leben lang über sie liest und schreibt?

    Vielleicht kann er sich vor allem selbst die Frage zu erklären versuchen: Woher diese ganze Nostalgie? Wo entspringt ihr breiter Lauf, der sich wie eine füllige, uralte Schlange nicht zum Meer hinbewegt, sondern zur blauen Leere der Melancholie?…

  • von Mile Stojić
    Deutsch von Klaus Detlef Olof

    Drei Jahrzehnte sind seit dem Tod des sozialistischen Jugoslawien vergangen, und darüber ist mehr oder weniger alles gesagt. Der Sozialismus ist untergegangen, und untergegangen ist auch der Staat, der diese Bezeichnung getragen hat, denn, so wird der ausländische Betrachter sagen, nichts auf der Welt ist ewig, auch kein Staat. Der zweite Staat der Südslawen ist allerdings schmählich untergegangen, sein Zerfall war ein blutiger und lange währender, mit Bergen von Leichen, die jetzt die ehemaligen „Brudervölker“ spalten, aber sein geis…

  • von Goran Vojnović
    Deutsch von Klaus Detlef Olof

    Mein Vater liebt unsere Lieder, und ich auch. Volkstümlich würde mein Vater sie nennen, aber das mir scheint nicht die richtige Bezeichnung für sie zu sein. Diese Lieder sind Sevdalinke, traditionelle altstädtische Romanzen, Kaffeehauslieder, mazedonische Volkslieder, jugoslawische Schlager. Sie habe viele Namen und sind doch namenlos. Bosnische Lieder würde man hier, in Slowenien, zu ihnen sagen, obwohl es unter ihnen auch kroatische, serbische, mazedonische und montenegrinische Lieder gibt. Am besten könnte ich sie wohl als Lieder besch…

Put u Birobidžan (Reise nach Birobidschan)

Judita Šalgo | Stubovi Kulture Verlag | 1997
Übersetzt Von Elvira Veselinović

Gemäß einer Randgestalt unter den Nachkommen der Familie Rothschild lautet deren Genesis folgendermaßen:

Als Gott den Menschen erschuf, nannte er ihn Mayer Amschel Rothschild. Dieser lebte siebzig Jahre und bekam sieben Söhne, die er in fünf europäische Metropolen schickte. Der Londoner Sohn Nathan, genannt der Goldene, finanzieller Sieger der Schlacht von Waterloo, gebar Lionel, den Financier des Suez-Kanals und britischen Parlamentarier; Lionel lebte siebzig Jahre und gebar Nathaniel, den ersten Lord unter den Rotschilds und allen sonstigen Juden, und Walter, den ruhmreichen Zoologen. Der französische Sohn des Mayer Amschel, James, ein britischer Banker in Paris, lebte fast sechsundsiebzig Jahre und gebar den im ganzen Judentum bekannten Baron Edmond, den Gründer des Fonds zum Rückkauf des palästinensischen Landes, Philanthropen und herausragenden Sammler, der viel Geld in alles Jüdische, was da im Lande Palästina kreuchte und fleuchte, investiert hat. Auch die übrigen drei Söhne von Mayer Amschel, der neapolitanische, der Frankfurter Sohn und der Wiener, Männer von hohem Kontostand und hohen Maßstäben, Industrielle, Konstrukteure, Banker, Wohltäter, gebaren allesamt würdige, fleißige und reiche Söhne und Töchter,  jedoch wurden in Tagen des Übels ihre Pforten aufgebrochen, ihre Häuser geplündert und ihre Knochen zerstreut.

Für unsere Geschichte am wichtigsten ist Edmond, der besagte Kunstsammler und Liebhaber der Kunst und der Menschen, an den sich die ersten Kolonisten in Palästina um 1880 herum mit der Bitte wandten, sie finanziell zu unterstützen. Er erhörte sie und übernahm nach und nach die Sorge für alle jüdischen Siedlungen, schickte Geld, Fachleute für Landwirtschaft und Beamte, mit der Aufgabe, die Juden wieder zum Anbau von Getreide, Wein, Gemüse, Geflügel und Vieh zu bewegen. Er kaufte von den Arabern und Türken 125.000 Acker Land für sie und errichtete Siedlungen in Samaria und Galiläa. Er starb, bereits sehr betagt, im Jahre 1934. Seine dankbaren Landsleute überführten zwanzig Jahre später seine Gebeine nach Israel.

Der edle Baron nahm sich also der Aufgabe an, ein Heim für die Juden zu erwerben und das längst verlorene Land der biblischen Väter zurückzukaufen. Dies war keineswegs einfach, da der türkische Sultan entschieden gegen die jüdische Besiedelung Palästinas war. Das türkische Gewohnheitsrecht spielte den Kolonisten jedoch in die Hände: Hatte jemand erst einmal seine vier Wände errichtet und drei junge Bäume gepflanzt, würde ihn keine Staatsmacht dieser Welt mehr von dort wegbewegen, selbst wenn er das Land gesetzeswidrig erworben hatte. So wird jedes neue Tomatenbeet, jede Reihe Zwiebeln zum Schutzwall für die Heimat.

Es waren ernsthafte Streitigkeiten und Teilungen aufgeflammt unter den Juden zu Zeiten der Jahrhundertwende. Die emanzipierten, wohlhabenden Juden aus dem Westen waren der Meinung, eine Heimat müsse man sich suchen, kaufen oder sie bekommen, egal wo sie sich befand – in Uganda, unter britischem Protektorat; in Argentinien nach dem Hirsch-Plan; in der ehemaligen Hova-Monarchie auf Madagaskar; in Südwest-Australien oberhalb von Esperance, in Amazonien oder eben Palästina, sollte der Sultan die Urkunde unterzeichnen. Die Juden aus dem Osten hingegen, ständige Opfer von Pogromen, ausgeraubt und gemeuchelt, forderten ein Palästina wie es ihnen nach historischem Recht zustand und waren zu keinerlei Kompromiss bereit. Der westliche Zionismus stellte sich aus taktischen Gründen auf ihre Seite. Die Assimilationisten beider Seiten behaupteten, das Übersiedeln nach Palästina würde das Judentum in der Diaspora tödlich schwächen, die Judenfrage jedoch nicht lösen; die Hassiden in Polen liebäugelten einfach nur mit dem Zionismus, und die Reformisten würden sich selbst gar nicht für Angehörige einer besonderen Nation halten, sondern einer Glaubensgemeinschaft. Und schließlich sprechen sich die jüdischen Gewerkschaftler in Russland, nachdem sie alle miteinander verschmäht haben –  die seidenen Rothschild-Landkäufer ebenso wie die zionistischen Blender,  die bürgerlichen Nationalisten und die kosmopolitischen Assimilationisten – für die kulturelle Autonomie innerhalb der künftigen Gesamtrussischen sozialistischen Föderation aus, und sehen ihr künftiges Heim unter dem neugeborenen Sowjet-Stern.

Der Baron de Rothschild blieb seinem Konzept der käuflichen Geschichtsschaffung treu, aber diese verschiedenen Vorstellungen von der Judenfrage weckten in ihm zwangsläufig den Wunsch, seine Fürsorge und sein Geld in verschiedene Richtungen zu leiten. Und wie es sich für jeden wahren Sammler und Wohltäter gehörte, der beim Bezahlvorgang für die eine Verpflichtung bereits nach einer neuen suchte, hielt auch Rothschild, noch während er ein Haus für arme Verwandte in Palästina kaufte, bereits nach einem Dach über dem Kopf für die armen Nachbarn Ausschau, und dann nach einem dritten, vielleicht auch vierten kleinen Ersatzheim für die Stammesgenossen in der Zerstreuung, jedes unter einem anderen Himmel, alle verschieden aber ähnlich abgeschieden, so weit wie möglich von den Marktplätzen und Scheiterhaufen der Welt entfernt. Denn es ist nur recht und billig, dass ein jahrhundertelang zerstreutes Volk ohne Heimat zum Schluss mindestens zwei davon bekommt. In der einen bedroht, wird es Rettung in der anderen suchen; verbannt aus der zweiten, wird es in der dritten um Zuflucht bitten. In diesem Gedanken suchte der Baron die Weltkarte  bereits nach geeigneten Orten ab: sumpfige, unattraktive Flussdeltas, von natürlichen Hindernissen umgebene Hochebenen, Inseln mit Steilklippen und Unterwasser-Landzungen direkt am Hafen, Dschungel-Gegenden, in denen Staatsgrenzen verschoben wurden, überquollen oder sich zurückzogen, gemeinsam mit den Schlingpflanzen und den Holzfällern. Mit der Gänsefeder in der Hand, träumerisch aber konzentriert, folgte er auf der Landkarte den Erd-, Meeres- und Luftströmen, die die Welt erschufen, abrissen und veränderten. Er dachte über die Macht nach, der sich Golf- und der Labradorstrom unterordneten; fragte sich, was die globalen Winde, die Aal- und Vogelmigrationen steuerte, die Wanderungen von Völkern, Sprachen und Geld. Er tauchte die Feder in die Tinte, strich den überflüssigen Tropfen am kristallenen Hals des Tintenfasses ab und senkte die angeschnittene Spitze an der Ostküste des Levantinischen Meeres ab. Wie abwesend ließ er zu, dass der zweite Tropfen auf das holzfreie Papier fiel und vom Küstenblau des antiken Jaffa aufgesaugt wurde, um sich dann überraschend, mit der Geste eines Künstlers, der nach langem Zögern endlich den ersten Strich zieht, von seiner Phantasie treiben zu lassen und nach Westen abzubiegen, an der afrikanischen Küste entlang, wonach er an den Felsen von Gibraltar hängenblieb, kurz am Ufer des Guadalquivir verharrte, dann nach oben entlang der Pyrenäen und entlang den Häfen der Mitte des europäischen Kontinents weiterlief; um genau in dem Moment, wo er hinunter zum schwarzen Meer fahren sollte, oder auch nicht; zum Fuße des Kaukasus und über Kleinasien die Ellipse der Diaspora genau so zu schließen wie die Erde ihren Weg um die Sonne abschloss; genau in dem Moment machte Baron de Rothschild aus einer Laune heraus einen baronesken oder einfach nur künstlerischen Schwenk, flog über das düstere, undurchsichtige Asien und bohrte die Feder außerhalb jeder Umlaufbahn in den tiefen untersten Rand Ostsibiriens.

Ein jeder Mensch fühlt sich beim Herumkritzeln auf der Landkarte wie Kolumbus, wie ein Abenteurer, Visionär und geistiger Eigentümer einer neuen Welt; der Baron Edmond war all das und noch mehr. Seine Stammesgenossen waren von Gott und dem Lauf der Geschichte über einen breiten Rand von Mittelmeer und Schwarzmeer verteilt worden, mehrfach zu Reisen über den Atlantik in beide Amerikas gezwungen worden. Nun würde der bebende Tropfen von Edmonds Tinte den semitischen Samen bis an die Enden der Welt tragen und dort neue Baumschulen gründen; sichere, so Gott will, aus denen, gestärkt durch die raue Umgebung sibirischer Rassen, ein erneuertes, erstarktes jüdisches Geschlecht erwachsen würde. Dieser Ort im Nordosten Asiens, in dem des Barons tintenverschmierter Pfeil steckengeblieben war, befand sich außerhalb der Wege und Ströme, auf denen sich bisher das Judentum bewegt und gelitten hatte, außerhalb von dessen Wünschen und Befürchtungen. Der Baron schaute durch die dichten Wimpern an den fleischigen Lidern auf bis dahin nie gesehene Flüsse Biro und Bidschan, die aus seiner Feder entsprangen und von dort zum Amur rannen. Dieser Ort war unendlich weit vom Berg Zion entfernt, zu dem sein Geist mit Dankbarkeit zurückkehrte wie in einen Luftkurort, von den inneren Landschaften, an die er alle Exponate seiner Kunstkollektion angepasst hatte, weit weg von den dunkelblauen Olivenhainen, den Zedern, den Mittelmeerpinien, den Datteln, Orangen – der erste jüdischen Sumpf seit der Sintflut. Eine Heimat würde nah-, die andere fernöstlich sein; eine historisch, die andere parahistorisch; sollte sie sich als unbewohnbar erweisen, würde sie schon zu irgendetwas gut sein: zum Vermieten, Tauschen, Verkaufen, oder als vorübergehende und zur Not auch ewige Herberge.

Der Baron hatte also bemerkt, dass sich ein weiterer Fleck seiner Tinte über die Weltkarte ergossen hatte. Dieser Tintenklecks, der später den Namen Rothschild-Fleck bekam, wurde zum Gegenstand wissenschaftlicher Neugier; jüdische Forscher lasen daraus in den kommenden Jahrzehnten wichtige Andeutungen ab. Und tatsächlich äußerte bei einer Auktion in London 1953, auf der einige weniger bekannte Exponate aus der Kollektion des Barons sowie Teile seines persönlichen Archivs versteigert werden sollten, ein uralter Mann mit dem Gesicht einer Mumie seine Zweifel bezüglich der Herkunft des kobaltblauen Flecks auf dem Atlas, indem er behauptete, Baron de Rotschild habe trotz moderner Weltanschauungen keine blaue Tinte verwendet, diese technologische Neuerung auf Anilinfarben-Basis, sondern schwarze, speziell für ihn aus einer Mischung von Eisenverbindungen und Kohle hergestellt, wie sie die alten Semiten verwendet haben, oder aber, seltener, eine wundersame Flüssigkeit aus verkohltem Tannenharz, Weinhefe und Gummi arabicum nach ägyptischem Rezept. Mit solcher Tinte soll Moses in seiner Jugend geschrieben haben, sagte der Freund des Hauses Rothschild, vielleicht hat er genau damit den Entwurf der Gebote niedergeschrieben, die er dann im entscheidenden Moment im Namen Gottes in Tontafeln ritzen sollte.

Die Biografen dieses prominenten Mitglieds der Familie Rothschild erwähnen diesen ostsibirischen Punkt und die damit verbundenen möglichen Pläne nirgendwo ausdrücklich, aber es gibt Tatsachen, die darauf hinweisen, dass bereits zu Lebzeiten des Barons, in den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts, zu deren Realisierung übergegangen wurde. In Ostsibirien wirkte allerdings nicht das Geld des Barons, sondern die russische Regierung. Die Planer revolutionärer Veränderungen müssen wohl während der konspirativen Lehrzeit in Europa den Gedanken des Barons auf die Spur gekommen sein, diese mit den Ideen Leo Trotzkis zu dieser Frage gekreuzt haben und schon bald nach der Proklamation der neuen Staatengemeinschaft die Möglichkeiten einer jüdischen Kolonisierung der Amur-Ebene erforscht haben. Der Bericht von der ersten Expedition ist allerdings nicht besonders ermutigend: es wird eingeräumt, dass das Gelände in den betreffenden Gebieten nicht zum Leben tauglich ist, weswegen ausführliche Vorbereitungen unerlässlich sein werden, aber es wird nicht von dem Plan abgerückt,  schon 1929 den ersten jüdische Konvoi Richtung Birobidschan aufbrechen zu lassen.

Der gealterte Baron hat keinen Einfluss mehr auf den realen Lauf der Dinge, wohl aber die sowjetischen und andere Propagatoren. Ihr Ruf ist unter den Juden des Sowjetischen Russlands nicht auf das gewünschte Echo gestoßen, jedoch hat die Idee des birobidschanischen Staates in Polen, Rumänien, Großbritannien und den Vereinigten Staaten viele Anhänger gefunden. Man sammelt Geld für die Kolonisierung, Kontingente von Landmaschinen aus der ganzen Welt kommen nach Moskau, um von dort aus in den Osten weiterzureisen. Mit den Maschinen werden auch Menschen abgefertigt: Nach dem Programm der Sowjetregierung sollten im Jahr 1932 bereits 18.000 Juden in die Autonome jüdische Provinz Birobidschan verbracht werden, im nächsten Jahr 31.000, aber davon kamen in diesen beiden Jahren nur ein Fünftel, und auch die, die kamen, sind nach Aussagen westlicher Zeitungen meistens wieder geflüchtet.

Die jüdische Presse verfolgte den Birobidschan-Feldzug aus der Ferne und berief sich auf die Aussagen vereinzelter Zeugen. Das für die Ansiedelung der Juden vorgesehene Territorium, berichteten diese, sei in der Tat ein furchtbarer Morast mit ungesundem Klima, kurzen feuchten Sommern und langen, regnerischen Wintern, was sogar die ukrainischen Bauern, die Vorgänger der Juden in diesem Experiment, dazu brachte, dahin zurückzukehren, woher man sie einst geholt hatte. Aber die Regierung gibt nicht auf. Kalinin unterschreibt 1934 ein Edikt über die Gründung des Autonomen jüdischen Territoriums und teilt mit, dass bereits 1937 dort 150.000 Juden wohnen werden. Ein Film aus jener Zeit, »Die Glückssucher«, zeigt die Freude der zugezogenen Neu-Birobidschaner. Der Film brachte sogar einen Teil der russischen Juden dazu, sich trotz aller bitteren Erfahrungen ins neue gelobte Land aufzumachen.

Über ihr Schicksal gibt es allerdings keine Berichte. Vereinzelt taucht in der Presse vor dem Krieg Birobidschan noch auf, aber die Birobidschaner nicht. In der Moskauer Iswestija wird im Juni 1939 anlässlich der Volkszählung angeführt, dort lebten mehr als einhunderttausend Menschen, aber gemäß einer im Westen veröffentlichten Reportage sind davon noch nicht einmal dreißigtausend Juden. Vor der deutschen Invasion fliehen Hunderttausende Juden nach Osten, nach Usbekistan, Kasachstan, Tadschikistan, aber nur ganz wenige reisen weiter nach Birobidschan. Sie werden auch nach dem Krieg nicht dort hinziehen, wenngleich ihre Heime in Russland, Ukraine, Weißrussland und Polen abgebrannt und ihre Verwandten ausgerottet sind. Anschließend verschwindet Birobidschan zusammen mit anderen Wörtern und Menschen aus der Verwendung in der Öffentlichkeit. Zwar wird Kalinin 1945 einem Newyorker Journalisten sagen, die sowjetische Regierung würde im Einklang mit der Verfassung das Autonome Territorium in eine jüdische Republik verwandeln, sobald darin einhunderttausend Juden lebten. Auf die Frage der Journalisten, ob es denn nicht längst so viele gäbe, antwortet der Präsidiumsvorsitzende des Obersten Sowjets, es fehlten noch ein paar. Der Journalist weiß selbstverständlich, dass es in Birobidschan zu dem Zeitpunkt höchstens zehntausend gibt, also sogar zwanzigtausend weniger als vor dem Krieg, da sehr viele gestorben oder geflohen sind. In den Jahren darauf wird das Autonome jüdische Territorium eine Zone der ethnisch neutralen Standarddeportation, ein großes KZ nach der Vision von Lawrenti Pawlowitsch Berija. Nach Stalins Tod und Berijas Liquidierung holt Malenkow die Idee der Judaisierung Birobidschans wieder aus der Schublade hervor. Allerdings ist der jiddische Birobidschaner Schtern da bereits erloschen, über Schulen gibt es keine Angaben, über die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung existieren keine Angaben. Die Moskauer Prawda führt Anfang 1954 an, bei den baldigen Wahlen im A.J.T. würden fünf Deputate gewählt, und die Birobidschanskaja Swesda kündigt heiter die Ankunft weiterer Juden aus der Ukraine, Russland und Weißrussland an …

(Die verfügbaren Handbücher bringen kein Licht ins Geheimnis. Die Enzyklopädie des Lexikographischen Verbands der Föderativen Volksrepublik Jugoslawien von 1955 führt lediglich an, Birobidschan sei eine Stadt mit 38.000 Einwohnern an der Strecke der Transsibirischen Eisenbahn, und man lebe dort von der Verarbeitung von Holz und Fleisch sowie der Herstellung von Ziegelsteinen. Die Jüdische Enzyklopädie von 1955/56 schätzt die jüdische Bevölkerung auf 100.000 Seelen, was die Hälfte der Bevölkerung des gesamten Territoriums darstellt. Jiddisch, seinerzeit als Amtssprache anerkannt, wurde durch das Russische verdrängt, das jiddischsprachige Theater geschlossen. Von 64 staatlichen Bauernhöfen sind 18 jüdisch. Die sowjetische Enzyklopädie von 1970 präzisiert, dass die Stadt Birobidschan, gegründet 1928 an der Stelle des Haltepunkts Tichonkaja, Zentrum der gleichnamigen Region Chabarowsk der RSFSR, 56.000 Einwohner hat, Anlagen zur Herstellung von Trikotage, Konfektion und Schuhen, zwei Theater – ein russisches uns ein jüdisches – sowie zwei Provinzblätter: den Birobidschaner Schtern, der dreimal wöchentlich auf Jiddisch in einer Auflage von 12.000 Exemplaren erscheint und Birobidschanskaja Swesda auf Russisch, fünfmal wöchentlich 19.0000 Stück. Die Encyclopedia Britannica von 1987 verfügt über die Angabe, dass in der Stadt Birobidschan 75.000 Menschen leben, und im gesamten Territorium 200.000. Die Oblast ist demzufolge hauptsächlich eben, sumpfig, von Sumpfwäldern und Weiden durchzogen, die jetzt größtenteils beackert sind. Im Norden und Nordwesten wird das Tal vom Bureja-Gebirge und dem Chingan begrenzt, die mit Fichten, Kiefern, Tannen und Lärchen bewachsen sind. Die Winter sind trocken und sehr kalt, die Sommer warm und feucht. Die Bevölkerung siedelt hauptsächlich an der Transsibirischen Eisenbahnstrecke und am Fluss Amur. Sie züchten Weizen, Roggen, Hafer, Soja, Sonnenblumen und Gemüse, im Amur fangen sie Fisch, hauptsächlich Lachs. Zusätzlich zu Baumaterialien, Schuhen und Textilwaren stellen sie Anhänger für Traktoren her.)

Die Verbindung zwischen der Familie Roth aus Novi Sad zu Birobidschan ist ähnlich mythisch wie die des Barons. Im Übrigen gilt dies auch für die Beziehung zwischen den Roths und den Rothschilds, was sich der gemeinsamen ersten Silbe des Nachnamens niederschlägt. In den Jahren zwischen den zwei Weltkriegen, als sie sich gerade auch selbst irgendwie konsolidiert hatten, verfolgten die Roths die Wege und Vorhaben der Rotschilds mit einer Art familiärer Nachgiebigkeit und Wohlwollen: Die Macht der Rotschilds jedenfalls verbarg sich in der zweiten Silbe ihres Nachnamens, dem Schild, dem roten Ladenschild, welches das Haus der Familie in Frankfurt bereits vor vier Jahrhunderten zierte, während die Novisader sich an keine ähnliche Immobilie erinnern konnten, was bedeutete, dass sie die einsilbige Farbe ihres Nachnamens einzig und allein in ihren Adern durch die Zeit tragen konnten, während sie abgenutzte rote Spuren auf dem Kopfsteinpflaster und dem Staub hinterließen. Die Leere im Stammbaum füllten die Roths mit der Geschichte von der bayrischen Stadt Rothenburg, die, wie man behauptete, ihren Namen nach dem jüdischen Blut bekommen hatte, das hier seit der Zeit des berüchtigten Rindfleisch-Massakers sowie späterer Pogrome zu Zeiten der Pest vergossen worden war. Einem entfernten Vorfahren der Roths war es angeblich gelungen, dem Pöbel zu entkommen, und um seine Spuren zu verwischen und seine Herkunft zu verschleiern, nahm er einen deutschen Namen an nach der Stadt, die ihm alles genommen hatte und machte sich mit dieser gekappten Silbe auf der Schulter auf in die weite Welt der Täschner. In dieser einsilbigen Welt konnten Roths und Rothschilds Brüder sein: alle Juden waren einer Tasche entsprungen. Der Zufall wollte es, dass ein weiteres entferntes Familienmitglied,  der amerikanische zionistische Anführer Morris Rothenberg eine Rolle in der Geschichte von Birobidschan spielt. Über seine Artikel begegnete ein amerikanischer Roth, Onkel Leopold in den zwanziger Jahren den Ideen des legitimen Zionismus und danach auch des Birobidschanismus, der wie eine Häresie, wie ein falscher sozialistischer Messianismus zu jener Zeit einige Kreise des amerikanischen und deutschen Judentums erfasst hatte. So begann die imaginäre Reise der Roths nach Birobidschan über Amerika.

Leopold Roth war ein Mensch von unruhigem Herzen, mit hohen aber wechselhaften Idealen, anspruchsvollen Plänen, die er jedoch kaum je realisierte. Nachdem er eine Vielzahl an Adressen und Beschäftigungen gewechselt hatte, fand er die Lösung aller seiner Probleme schließlich in der Idee, das gelobte Land müsse ja gar nicht zwingend in Palästina und auch nicht im schillernden Manhattan sein, sondern könne auch an einem ganz anderen Ort sein, gleichermaßen entfernt sowohl von der Vergangenheit als auch von der Gegenwart und gleichermaßen erreichbar sowohl für die Erfolgreichen als auch jene, die es nicht waren, besonders Letztere. Als jüdischer Halbproletarier in Amerika war er ebenso mit dem Überleben wie mit sozialistischen Ideen beschäftigt, insbesondere mit der Frage des Absterbens des Staates. Der Staat ist nicht von Dauer, schrieb er seinem Bruder Emil nach Novi Sad, den er schon seitdem er sich als Schulabbrecher nach Amerika abgesetzt hatte nicht mehr gesehen hatte. Die Gesellschaft der Zukunft würde den kapitalistischen Apparat ausnutzen, um mit dessen Hilfe allem dem Garaus zu machen, was alt und verbraucht war, die Herrschaft wird dem Volk übertragen werden, und der Staat einfach verschwinden. Das kann man aus deinem Krämerladen vielleicht noch nicht sehen, aber von der Spitze dieses teuflischen Empire State Buildings aus ist es klar, dass die Zukunft keine Grenzen anerkennt. Birobidschan, von dem ich dir bereits schrieb, wird niemals jener Staat sein, von dem die Zionisten träumen, sondern der Brennpunkt der jüdischen Revolution, die die Welt verändern wird. Sobald ich mit meinen Geschäften hier Fuß gefasst habe, werde ich einen stattlichen Geldbeitrag für Birobidschan spenden und anschließend auch selbst dorthin aufbrechen, wenngleich Barbara sich dagegen sträubt. Ich würde mir wünschen, dass das im Frühling klappt, ich höre, dass sich eine Gruppe bereits auf die Reise vorbereitet. Ich bin ganz sicher, dass die Zionisten im Unrecht sind. Die Juden sollten nicht von Rückkehr träumen, sondern davon, wohin sie weiter ziehen sollen. In jedem Fall werde ich dich über den Stand der Dinge und meine weiteren Vorbereitungen informieren. Vielleicht erreicht dich mein nächster Brief schon mit einem Poststempel von Birobidschan. Wie geht es Vali und den Kindern? Viele Grüße an alle, es umarmt dich dein Leo. Es kam der Frühling und dann der Sommer, doch Leopold meldete sich weder aus New Jersey, wo er die letzten beiden Jahre gelebt hatte, noch aus Birobidschan. Auch Barbara, Leos Frau – oder Witwe, Gott bewahre, sollte dem Unglückseligen auf dem Weg ins Gelobte Land etwas zugestoßen sein – reagierte nicht auf Emils besorgte Briefe, ebensowenig die Vermieter, sollte Barbara mit den Kindern ihm gefolgt sein. Es kamen auch keine Briefe zurück, was der Fall sein sollte, wenn die Wohnungsgeber, irgendwelche Juden aus Minsk, sich ebenso nach Birobidschan aufgemacht hätten oder das Wohnhaus abgerissen worden war, was in Amerika, einem Land ohne Grundstein, häufig der Fall war. Drei Jahre zogen in unheilvoller Stille dahin, ohne dass ein einziges Lebenszeichen von irgendeinem Kontinent zu vernehmen war, und das reichte aus, um im Novisader Zweig der Familie Roth die Vorstellung von einem giftigen Apfel der Sorte “Birobidschan” reifen zu lassen, der die Plaudertaschen und Phantasten tötete, die nach all jenem gierten, was in der Luft hing. Als sich Leopold endlich, gegen Ende der Großen Krise, von einer neuen Adresse aus einer neuen Stadt in einem neuen amerikanischen Bundesstaat meldete und kurz von seiner neuen Arbeit und dem neuen Familienmitglied berichtete, platzte die Birobidschan-Blase und befreite eine ziemliche Menge an unterdrückter Angst, Ärger, Humor und fieberhafter Hoffnung. Birobidschan wurde eine hitzige Metapher, durchwirkte die Redensarten, die Sprichwörter – sowohl scherzhafte als auch bittere – die Flüche und Ausrufe, Belehrungen an Kinder und Flattergeister; ein asiatischer Name, ausgesprochen mit ungarischem Akzent, hatte sich niedergelassen wie ein Straßenköter bei einem selbstgewählten Herrchen. Der Händler Emil Roth pflegte seinem Sohn zu sagen: Ich kaufe dir ein Auto, wenn ich die Bank in Birobidschan ausgeraubt habe. Zur ältesten Tochter: Du heiratest, wenn der Gouverneur von Birobidschan um deine Hand anhält. Den gelben Davidsstern nannte er den Birobischan-Stern, und vor der Deportation 1944 verabschiedete er sich von seinem Freund Sava Jakšić mit den Worten – Wir sehen uns in Birobidschan. Nach dem unerwarteten Tod des amerikanischen Verwandten, mit dem alles begonnen hatte, wurde Birobidschan als dessen Nachlass unter den Familienmitgliedern verteilt und blieb fortan noch zwei Generationen im Wortschatz. Emils Sohn Stevan, Zahnarzt mit Leib und Seele, fest wie eine Plombe und gegen jede Sentimentalität gefeit, konnte nicht umhin, gegen Ende der Hochzeitsnacht seiner Auserwählten ganz gerührt etwas vom untergehenden Mond und der aufgehenden Sonne im fernen Birobidschan zuzuflüstern. Für seine junge Gattin Olga blieb dieser exotische geographische Begriff lange Zeit die Verkörperung von Stevans erstem und leider auch letztem lyrischen Auftritt. Sie bemühte sich, mit dem Lichtstrahl dieser Empfindsamkeit ihre Ehe zu erhellen. Sie wehrte sich gegen die Erklärung, Birobidschan sei lediglich ein von wenigen Menschen und vielen Mücken bewohnter Sumpf. Sie glaubte dass sich, wie in jeder überzeugenden Geschichte, hinter dem Trugbild aus Sumpfgasen und fauligen Baracken ein heller, steinerner Liebeshüter verbarg, der birobidschanische Taj Mahal.

Man kann sagen, dass Olga, wenngleich eine geborene Kraus, die einzige Fortsetzung der birobidschanischen Ader der Familie Roth war. Ihre erste jugendliche Unruhe hatte sie auf Palästina fokussiert und sich, nachdem sie Mitglied von Hashomer Hatzair geworden war, darauf vorbereitet, nach dem Abitur mit einer Gruppe Gleichaltriger dorthin zu gehen, aber durch die Verlobung mit Stevan Roth wurde dieses Vorhaben auf ein andermal verschoben. Nach der Rückkehr aus dem KZ schwor sie sich, den Rest ihres Lebens in ihrer eigenen Küche und ihrem Esszimmer zu verbringen, aber schon auf den ersten Ruf Israels hin war sie bereit, Küche und Esszimmer in eine Truhe zu packen und sich auf die Reise zu machen. Die erste, zweite und dritte Alija waren schon vorbei, alle, die es vorhatten, gingen nach Israel; Stevan erklärte schließlich, er würde seinen Zahnarztbohrer nicht hier zurücklassen, um dort mit einer Picke Steine zu hacken, er würde definitiv nirgendwo hingehen, aber schon bald, im Herbst 1952, packte auch er seine Sachen und ging mit seiner Assistentin – für immer. Damit war ein Strich unter Olgas Verluste gezogen: fast alle ihre Liebsten waren tot, ihr Herz verwüstet. Wären wir doch irgendwo hingegangen, zur Not auch ins verdammte Birobidschan! kreischte sie, als Stevan ihr sagte, er habe hier nichts mehr verloren. Wären wir doch wenigstens ins verdammte Birobidschan gegangen, wimmerte sie noch lange, während sie mit einer Binde über der migränegeplagten Stirn durchs Zimmer torkelte, und ihr vierzehnjähriger Sohn Nenad an der Tür stand, als Hüter des Ausgangs nach Birobidschan, und aufpasste, dass seine Mutter nicht zufällig durchkam. Ins verdammte Birobischan, ins verdammte Birobidschan, jammerte sie noch tagelang, und ihr Sohn erstarrte jedes Mal angesichts einer ungesunden Leidenschaft, die sich durch Schichten von Nachthemden, Schlafröcken und damastener Kopfbinden aus den finsteren Tiefen ihres Ungemachs einen Weg an die Oberfläche bahnte.

Nenad Roth verlegte das ‘Birobidschan’ genannte Familiengut rechtzeitig in die Prärien des Wilden Westens und besiedelte es mit Komantschen, Schoschonen und Birobidschanern. Endlose Rinderherden weideten auf dem harten, scharfen Gras, Pferdeherden flogen pfeilschnell über die Ränder der Hochebene und verschwanden hinterm Horizont. Eines Abends, vierzig Jahre später, stürmten sie im Galopp das Leben des Nenad Roth, jetzt ein Novisader Anwalt mittleren Alters. Die Vorahnung von Gefahr, von allumfassendem Unglück, brachte die Jungenträume in Bewegung und zerstreute sie. Aus dem fernen Birobidschan wehte ein globaler Schauder herbei und ließ die Wirbelsäule gefrieren. Der Birobidschaner Galopp hallte in den Knochen wider.

Bestimmte Ausprägungen des Birobidschan-Syndroms tauchten fast gleichzeitig auch bei Dina Roth auf, Nenads Tochter aus erster Ehe, und besonders hart und schmerzhaft bei deren Mann Miloš Bojić. Diese würden die Erkrankung auf ihre Kinder übertragen, sollten sie welche bekommen, und alle ihre Nachkommen und die Nachkommen der Nachkommen würden ihr eigenes Birobidschan haben, diesen ständigen Brennpunkt und Zufluchtsort, der sich vor der Welt versteckt und nur beiläufig oder im Traum erwähnt wird. Es ist schwer vorauszusagen, was Birobidschan in Zukunft bedeuten wird, aber in Zeiten großer Erschütterungen, wenn ganze Welten in die Vergangenheit abstürzen, existiert auch nichts anderes. Die europäischen Zentren London, Paris, Neapel, Frankfurt und Wien sind nur noch Telegrafenstationen, Informationsknotenpunkte: alle Wege führen nach Birobidschan. Im Laufe des Jahrtausends ist der Mittelpunkt der Welt von Ort zu Ort gewandert: Ur, Memphis, Babylon, Jerusalem, Athen, Alexandria, Rom, Konstantinopel, Mekka, Moskau, Berlin, New York, Tokio: in dem Moment, wo diese Geschichte beginnt, heißt der Mittelpunkt des Trichters der Welt, des globalen Vergessens – Birobidschan. Am Belgrader Flughafen sind alle Flüge abgesagt. Der Bildschirm im Wartebereich spuckte eines Nachts einen Bestimmungsort aus, der in keinem Systemspeicher existiert: Birobidschan. Durch das elektronische Flackern des einsamen Wortes rief eine metallische Stimme die Reisenden zum Ausgang B2.

Unzählige Birobidschans! Das ist hoffnungslos!, sagte Miloš Bojić, drehte sich um und verließ das Flughafengebäude.

Am Abend des dritten und letzten Tages ihres Belgrad-Aufenthaltes war Bertha Pappenheim bei der Familie des Kaufmanns Josef Gutman in der Ulica majke Jevrosime zum Abendessen eingeladen. Die nachmittägliche Versammlung der Föderation Belgrader Frauenvereine hatte sich in die Länge gezogen, und die aus Frankfurt angereiste Bertha wollte die Gelegenheit nutzen, sich energischer für die Abschaffung einer schandhaften, jämmerlichen und dummen Bestimmung einzusetzen, gemäß derer die Prostituierten aus den Pensions-Bordellen wie Gefangene behandelt wurden, ohne Recht auf Bewegungsfreiheit. Dies hatte wiederum dazu geführt, dass die Gans ein wenig durchgebratener war, als Frau Gutman gewollt hatte.

Die Stunde des Wartens kam den Familienmitgliedern länger vor, als sie eigentlich war, nicht, weil sie besonders empfindlich bezüglich Pünktlichkeit und anderer europäischer Manieren waren, sondern weil zu dieser Zeit der scharfen und unangenehmen Abgeschnittenheit von Österreich-Ungarn und Europa, der Kälte und Gefahr, die von Save und Donau in Richtung Österreich-Ungarn wehten, für die serbischen Juden jede Berührung mit europäischen Juden  – selbst wenn sie Aschkenasim waren – ein Fünkchen Hoffnung und Erwartung barg; Ermutigung, dass die Dinge schon nicht schief laufen würden, jedenfalls nicht mehr, als die innerjüdischen Unterschiede verlangten.

So gingen auch der Hausherr Josef und sein Bruder Solomon, sowie ihr entfernter Verwandter Haim Azriel als erfolgreicher Leder- und Wachshändler, als Aktionäre der Exportbank, in der Haim Mitglied des Aufsichtsrats war, davon aus, dass eine Frau mittleren Alters, die sich allein auf den Weg durch die Balkanländer gemacht hatte, mit dem (angeblichen?) Ziel, Jagd auf Menschenhändler zu machen, einen ausreichend mächtigen Beschützer und Finanzierer haben musste, eine starke jüdische Gemeinde in Frankfurt und Wien, und dass ihre Anwesenheit in Belgrad dazu genutzt werden konnte, die während der Zollkrise gerissenen Fäden wieder zusammenzubinden.

»Wenn der Wiener Maximilian Kraus serbischen Kaufleuten auch während der Krise Kredite geben konnte«, sagte Josef, während er seine Taschenuhr in der Hand drehte wie einen Kompass, »dann gibt es keinen Grund für die neuen Quellen jüdischen Kapitals, sich gegenüber ihren balkanischen Landsleuten nicht zu öffnen, jetzt, da die Krise beendet ist.«

Josefs Gattin empfing Fräulein Pappenheim voller Bewunderung für deren Mission und Mut, sich auf die riskante Reise durch den Balkan einzulassen, sorgte sich jedoch gleichzeitig, diese weitgereiste Jüdin fragwürdiger Religiosität könne an ihrem Esstisch alle möglichen Geschichten über jüdische Bordelle und uneheliche Kinder auftischen.

Als Fräulein Pappenheim gegen halb neun in Begleitung von Doktor Savić endlich erschien, mit energischen Bewegungen und lebhaftem Blick, die ihre Müdigkeit verbargen, und sich sofort allen Hausbewohnern gegenüber öffnete, ahnte Flora sofort, dass sie die Art Person war, in deren Gegenwart sich stets bahnbrechende Dinge ereigneten, die Bewegung, Veränderung und Ereignisse einfach befeuerten, die Dinge aufforderten, sich zu formen, zu ereignen und sich im wahren Licht zu zeigen, und deshalb oft mit Misstrauen und Unbehagen empfangen wurden, mit Beklommenheit, Ablehnung und oft auch mit zu hohen Erwartungen. Ohnehin war der Moment ein solcher; derart überspannt, dass sogar die Anwesenheit einer weniger wichtigen Person oder ein belangloses Ereignis den Vorhang hätte beiseite ziehen können, der den wahren Zustand, die wahren Gefühle verbarg.

»Belgrad ist übrigens eine wunderbare Stadt«, sagt Bertha Pappenheim, »ich fühle mich hier äußerst wohl«, und während sie zum dritten Mal slatko und Wasser nimmt – Frau Gutman hatte ihr erklärt, das sei ein einheimischer serbischer Brauch – und große, bernsteinfarbene Kirschen aus der Kristallschale zum Mund führt, spürt sie, das der Moment gekommen ist, den Gastgebern den Gefallen zu tun, ihre Stadt zu loben. Sie ist erst den dritten Tag in Belgrad und Serbien, morgen muss sie leider schon weiter Richtung Süden, nach Sofia, aber was sie gesehen hat, hat sie weitgehend ermutigt, und sie wird alles tun, um zumindest ihre Mitarbeiterinnen und Freundinnen in Frankfurt, und nach Möglichkeit auch die breitere deutsche Öffentlichkeit, zu überzeugen, dass jene, die Europa als »Nasenabschneider« bezeichnete, eigentlich ein intelligentes und liberales Völkchen seien, zukunftsoffen und Europa sehr zugewandt, wenngleich in gewissen Dingen auch etwas anachronistisch. Dennoch, das Kopfsteinpflaster sei furchtbar und man könne nur mit Mühe darauf gehen, wovor man sie in Wien gewarnt habe, aber sie gehe dennoch lieber zu Fuß, als übel durchgeschaukelt zu werden. Ohnehin könne man eine Stadt nicht kennenlernen, ohne sich die Fußsohlen abzuscheuern. »Aber Kopfsteinpflaster bleibt Kopfsteinpflaster.«

»Zum Glück ist die Krise beendet und es gibt keinen Grund, warum die Wege des Kapitals sich nicht wieder zu uns nach Belgrad ergießen sollten«, sagte Josef Gutman, »im Übrigen braucht man nach dem neuen Abkommen ja noch nicht mal mehr einen Reisepass.«

»O ja«, nimmt Fräulein Pappenheim an und legt das Löffelchen zurück in die Schale mit Wasser, »das wird den Menschenhandel noch um einiges leichter machen«.

Die Besucherin machte keinen Hehl daraus, dass sie den Ereignissen sozusagen entgegenlief. Andernfalls hätte sie niemals so viele Dinge in zwei-drei Tage und deren Beschreibung in zehn Minuten pressen können. In der kurzen Zeit, bevor sie sich zu Tisch begeben hatten, hatte sie, ohne viele Worte über die Gründe und Motive für ihre Reisen zu verschwenden – als würde sie bereits eingeweihte Mitarbeiter informieren  – erzählt, wo sie in Belgrad überall war, wen sie alles getroffen hatte und mit welchem Ergebnis. Direkt am ersten Tag hatte sie den österreichisch-ungarischen Herrn Konsul besucht, in dessen Büro seit November ein sehr wichtiges Memorandum zum Menschenhandel hing, und anschließend auch den deutschen Konsul Doktor Sch., der, das musste man zugeben, weitaus gebildeter und freilich kompetenter war als sein Wiener Kollege. Er hatte sie auf den Polizeioberst (Chef de Sȗreté) verwiesen, der acht Jahre beim Studium in Frankfurt am Main verbracht hatte und nun bemüht war, der Besucherin bestimmte Daten über die Prostitution in Belgrad und Serbien zu beschaffen. Außerdem hatte sie mit dem überaus liebenswürdigen Doktor Savić – hier verneigte sich Fräulein Pappenheim höflich vor ihrem Begleiter – und einem Polizeibeamten das jüdische Viertel nahe dem Donauufer besucht und dort fünf Freudenhäuser besichtigt, die zugegebenermaßen neu gebaut waren und wie sehr ertragreiche Objekte wirkten. »Es ist interessant«, sagte sie, »dass die meisten Freudenmädchen Ungarinnen sind, Jüdinnen gibt es nur sehr wenige. In Budapest und Galizien ist das leider ein wenig anders.«

Sie referierte den Gutmans gegenüber, als spräche sie auf einem Kongress, über Tatsachen, die diese angeblich nicht wussten. Doch über die Zahl von Prostituierten gab es ohnehin keinen Konsens. Der Polizeichef behauptete, es gäbe um die fünfhundert, Doktor Savić hingegen, es wären dreitausend.

Sie zählte ihre Besuche bei zahlreichen angesehenen und einflussreichen Damen  auf, besonders bei der Gattin eines angesehenen Oberst, die sie zur Besichtigung eines schönen Kinderheims eingeladen hatte und ihr alles über den Frauenverein erzählte, den vor 35 Jahren Königin Natalija gegründet hatte und der sowohl ein Altenheim betrieb als auch eine Frauenzeitung herausgab. Fräulein Pappenheim hatte natürlich auch noch andere Leute getroffen, sie hatte eine christliche Familie kennengelernt, den einstigen Bürgermeister, Minister und Professor, an dessen Namen sie sich jetzt nicht erinnern konnte; doch um so lebendiger war ihre Erinnerung an das süße Rosengelee, das ihr in dessen Hause serviert worden war. Sie hatte freilich auch eine Sephardenfamilie besucht und viele neue Dinge gelernt, da sie zu ihrer Schande nichts über die Sepharden wusste, somit auch nicht, dass es in einer so angenehmen Stadt wie Belgrad eine strenge Trennung zwischen Sephardim und Aschkenasim gab, ja eine richtige Feindschaft, einschließlich der Streitigkeiten um die neue Synagoge, ansonsten ein schönes und harmonisches Bauwerk. Sie beschrieb kurz ihren Halbtagsausflug nach Pančevo, wo sie nach vorheriger telegrafischer Ankündigung des Konsuls beim Hauptmann der Grenzpolizei über die Frage des Menschenhandels informiert worden war. Leider traf sie den Hauptmann selbst nicht an, sein Assistent jedoch informierte sie, dass von den dreihundert Mädchen, die auf der Suche nach Arbeit aus Rumänien nach Belgrad gekommen waren, hinter dem Grenzort Torontálálmas fünfzig bis sechzig spurlos verschwunden waren.

»In jedem Fall«, sagte sie, »muss der Verein zum Schutz der Frauensicherheit (Secours féminin) aus Frankfurt Kontakt zu den zuständigen Behörden in Budapest aufnehmen, denn dies ist eine Angelegenheit des Nationalkomitees in Ungarn, in dessen Prärogative sich der Frankfurter Verein nicht einmischen darf.«

Auf der Rückkehr über Zemun gelang es ihr, den sehr entgegenkommenden Beamten  der Hafenbehörde davon zu überzeugen, wie wichtig es war, einen Agenten für die Aufdeckung von Menschenhandel zu engagieren. Um drei Uhr nachmittags war sie bereits in Belgrad, todmüde, doch konnte sie den Ausführungen auf dem Frauenkongress noch lauschen und sich am Ende auch selbst zu Wort melden, mit einem mittelbaren Appell an die serbische Regierung, die veraltete, dumme Bestimmung abzuschaffen, durch die der Nachwuchs in den Freudenhäusern wie Gefangene behandelt wurde. »Ich erzählte ihnen vom Fall einer zwanzigjährigen Frau, die schon seit zwei Jahren keine Sonne mehr gesehen hatte.«

»Jedes Gespräch über eine Frau«, sagte Haim Azriel auf Französisch, durchaus bewusst, dass neben der Besucherin auch Flora diese Sprache verstand, »sollte mit dem Tribut und der Verneigung vor einem Menschen begonnen werden, einem tragischen Genie, dessen Werk, unkonventionell, kompromisslos und auf eine unwiderstehliche Weise finster, die Geister in Wien und einigen anderen europäischen Städten aufgewühlt hat, und der sich in seinem vierundzwanzigsten Lebensjahr (so alt werde auch ich dieser Tage) das Leben genommen hat, da er keine Möglichkeit sah, mit der Frau in sich klarzukommen, noch mit den Frauen außerhalb von sich; obendrein wusste er als umgetaufter Jude nicht, was er mit dem Juden in sich noch mit den Juden an sich anfangen sollte und sah keine Lösung, keinen Ausgang der »Judenfrage«. Fräulein Pappenheim hat den unseligen genialen Landsmann Otto Weininger vielleicht kennengelernt, aber jedenfalls gelesen, dessen Werk so maßlos wie kompromisslos ist, auf eine unwiderstehliche Weise finster. Wenn man dessen scharfe und schwer in Frage zu stellende Urteile über Frauen im Sinn hat, ahnt Fräulein Pappenheim wahrscheinlich auch selbst am Grunde ihres Herzens, wie vergeblich und vielleicht auch nutzlos ihre Mühen bezüglich der gefallenen Frauen sind. Er selbst wisse, dass die Menschenhändler, denen Fräulein Pappenheim vielleicht das Handwerk legen will, womöglich eine sehr nützliche Arbeit tun. Als die Engländer vor mehreren Jahrzehnten in dem Wunsch, ihr Land von Sträflingen zu befreien, diese nach Australien brachten, träumten sie noch nicht einmal davon, dass sie dort gerade eine neue Welt gründeten. Vielleicht ist jedes Bordell oder jeder Harem der Same eines neuen Kontinents.

»Und auch ihre Schützlinge, die Frauen im Bordell, können ihre Händler kaum erwarten, sie eilen deren Netzen geradezu entgegen. Wahrscheinlich haben sie schon einen Schiffsfahrschein für irgendein neues Australien.«

»Auf diese Weise verschwinden also die Frauen«, sagte Fräulein Pappenheim lächelnd.

Frau Gutman versteht nicht, was der junge Azriel sagt. Mit dem Blick bittet sie Doktor Savić, es ihr zu übersetzen. Doktor Savić übersetzte für die Hausherren stets rücksichtsvoll, behutsam und selektiv, doch das französische Wort »Bordell« war von internationalem Gewicht, und die Dame des Hauses senkte den Blick immer tiefer. Durch eine übergeordnete weibliche Intuition weiß sie, was ihre Tochter vielleicht nicht ahnen kann: dass dieser plötzliche, aberwitzige Hass, die Intoleranz und Verachtung ihres zukünftigen Schwiegersohns gegenüber gefallenen Frauen – über die sie selbst in der Tat auch eine ganz bestimmte Meinung hatte – seine Wurzeln woanders hat, sie begreift, dass ihr potentieller Schwiegersohn seine eigene Schiffsfahrkarte in der Hand hält. Wie infolge seiner heiseren Worte, ausgesprochen durch den Qualm einer Zigarette (die er sehr unanständig vor dem Ende des Abendessens angezündet hatte), durch die silberne Zigarettenspitze wie durch einen winzigen Magen, die Welt ihrer Tochter und ihre eigene zum Einsturz gebracht wurde. Obwohl sie kaum Französisch kann, zweifelt Flora nicht, dass der plötzliche Zynismus und die Feindschaft in Haims Haltung insbesondere ihr galten. Zuerst wirkte es, als scherzte Haim, als wollte er nur die Besucherin verwirren und sich mit Übertreibungen und Abstoßung irgendwie ihren Übertreibungen und ihrem brennenden Aktivismus entgegensetzen und so Flora einen Stich versetzen, die vielleicht bis jetzt einfach verschlossen und schamhaft war und ihm nicht klar genug gezeigt hatte, wie sehr ihr trotz aller elterlichen Warnungen an ihm gelegen war.

Doktor Savić würde gern die ganze Sache wieder in den Rahmen der medizinischen Wissenschaft und Praxis zurückversetzen, doch nach einem halben Tag mit Frauen-Aktivistinnen und zwei Gläsern Wein hat er dazu weder Kraft noch Lust, und es täte ihm auch leid, Haims Breugelhafte Phantasiebilder in die Flasche zurückzuweisen, mit der Messerklinge den qualvollen Erguss von Haims verborgenen Neigungen und Obsessionen aufzuhalten, die Flora nun vielleicht definitiv von ihm trennen würden, ihr zeigen, dass sie von diesem finsteren Manne nichts zu erwarten hatte, weder Liebe noch Respekt, nichts außer einer wankelmütigen Leidenschaft voller Gegensätze, explosiver Intoleranz und Gewissensbissen. Und deshalb hatte Doktor Savić keine Wahl, außer Öl ins Feuer zu gießen, um das, was sich als Emotion, Laune und fixe Idee ergossen hatte, mit einer wissenschaftlichen Erklärung und Unterstützung zu untermauern, und das, was die medizinische Seite der Dinge sein sollte, in eine Fortsetzung und Unterstützung der Fantasie zu verwandeln. Im Hinblick auf seine dichterische Natur, in der er Trost und ästhetische Wiedergutmachung für die emotionale Wüste der Einsamkeit, den Verlust und all die widerlichen Anblicke suchte, die ihn täglich bedrückten, fuhr er mit diesem Spiel fort, ohne Gewissensbisse; wobei er Unterstützung in seine Sinns für Humor und seiner lange unterdrückten Natur eines Träumers und Dichters fand, die seinen Pragmatismus kontrollierten und die Arbeit irgendwie erträglich machten.

War es Haim Azriel, der, nachdem er seine Gabel mit einem Stück Gänsefleisch abgelegt hatte, die Besucherin anschaute, Flora mit dem Blick streifte und sagte: »All diesen Abschaum sollte man auf eine einsame Insel voller Frösche verbannen«? – und war es Flora selbst, die gegen Ende des Abendessens, nachdem sie ein Glas Wein zu schnell heruntergestürzt hatte, enttäuscht und völlig bewusst, dass sich Haim unwiederbringlich von ihr entfernt hatte, die Idee von einem weiblichen Kontinent aussprach, einem gelobten Land, in dem sie Rettung vor männlichem Zynismus und Gewalt finden würden; und von einer Frau, einer starken, unwiderstehlichen Figur mit Sendungsbewusstsein, dem weiblichen Messias, einer Messianin, die ihre Leidensgenossinnen gemäß der Geschichte aufrufen wird?

Ende April 1953 schrieb Sara Alkalaj ihrer Schulfreundin Olga Roth Folgendes:

»Meine liebe Olga!

Ich bin glücklich, dass du wieder zu unserer Gemeinde gehst. Tsvi und ich waren auf der Feierlichkeit im Märtyrerwald und haben fünf junge Bäumchen gepflanzt. Aus Jerusalem hat sich eine Buskolonne auf den Weg gemacht, es kamen Freunde aus Haifa, Nahariya und Bassa. Wir waren etwa fünfhundert Jugoslawen, die sich ansonsten selten sehen, als wären wir auf … Aus Belgrad kam Isak Samokovlija. Er redete schön, ich weinte hässlich: »Ein Wald, der lebt und atmet, wächst und blüht, stellt einen Sieg des Lebens über den Tod, des Lichts über das Dunkel dar.« Es sprachen auch noch andere, und als Rabbi Alatarac den Kaddisch sprach, mussten alle weinen. Später gab mir Tsvi einen Kiefernsetzling in die Hand, er nahm sich vier und nahm mich mit zum Hang, wo bereits Löcher ausgehoben waren. Ich zählte die ganze Zeit nach, wie viele Setzlinge ich pflanzen musste, wenn ich meine Familie sowohl mütterlicher- als auch väterlicherseits mitrechnete, aber ich irrte mich ständig, die Sonne hatte mich benommen gemacht, mein Gehirn hatte aufgehört zu funktionieren und ich kehrte ständig an den Anfang zurück. Ich weinte, ich konnte gar nicht mehr aufhören; am Ende, als wir alle unsere Bäumchen gepflanzt hatten, standen statt fünf schwarzen Löchern fünf Bäumchen vor mir. Ich fragte mich, wer so viele Bäumchen pflanzen sollte.

Es freut mich, meine liebe Olga, dass du die Kraft gefunden hast, diese großartige Aktion zu unterstützen. Ansonsten geht es uns gut; wie du siehst, schreibe ich aus Jerusalem. Wr haben das Häuschen in Yasur verkauft und sind hierher gekommen. Tsvi arbeitet bei der Post. Deine Schwester Ila schrieb mir, du und Pišta, ihr hättet euch getrennt. Ich kann das nicht glauben. Kommt doch her und versucht es noch einmal von vorn.«

Zwei Monate vor dem Ereignis, das Dina Alkalaj beschrieb, am Tag an dem der Beginn des Pflanzens von Setzlingen im jugoslawischen Teil des Märtyrerwaldes verkündet wurde, forderte der Verband jüdischer Gemeinden seine Mitglieder auf, sich der Aktion anzuschließen, also 300 Dinar oder ein israelisches Pfund pro Bäumchen einzuzahlen, für jeden Familienangehörigen, der im Krieg umgekommen war und dem der Kiefernsetzling gewidmet sein sollte. Das erwies sich als schwierig, da einige Tausend verbliebener jugoslawischen Juden für 60.000 Setzlinge zahlen mussten. Die Einzahlungen wurden bei der jüdischen Gemeinde gemacht. Ein Teil der Frauen hatte sich bereit erklärt, diejenigen zu Hause aufzusuchen, die von sich aus noch nicht reagiert hatten, Olga Roth war auch unter ihnen. Mit Quittungsblock in der Tasche und ihrem Sohn als Verstärkung machte sie sich auf zu den eher unangenehmen Hausbesuchen. Es bedurfte gewisser Ermutigung und Überredungskünste, besonders bei den Alten oder Kranken; Geizigen oder Selbstsüchtigen; die alte Steinitzen zum Beispiel lebte vom Sockenstopfen und einer kleinen Rente und hätte als einzige Überlebende für etwa Dreißig Getötete zahlen müssen. »Für wen denn?«, fragte sie. Der schwerhörige Sonnenfeld wollte nichts von irgendwelchen Bäumen wissen. »Ich kann nicht hören«, brüllte er. Sein älterer Sohn war im Sommer 1941 in Jajinci erhängt worden, die Schuld für diesen Tod teilte mit den menschlichen Übeltätern jeder Baum, ob jung oder alt, lebendig oder als Laternenmast. Mirko Kohn fiel ein, dass für seine Verwandten längst andere bezahlt hatten. Für die Eltern war es der Bruder in Rijeka; für die Schwester und ihre Kinder der Schwager in Daruvar. Er hatte weder in Rijeka noch Daruvar lebende Verwandte. Magda Roth erklärte in der Gemeinde, die ganze Aktion sei eigentlich ein Missbrauch des menschlichen Glaubens an die Macht der Symbole, natürlich auch nur eine weitere Bestätigung jüdischer Spitzfindigkeit: wie schafft man es, Hektar um Hektar besten Nadelwalds zu pflanzen, ohne dass dies den Staat Israel irgendetwas kostet, und dass die Spender dabei sogar noch überglücklich sind, weil ihnen Gelegenheit gegeben wurde, für ihr Leben zu zahlen.

Alle zehn bis vierzehn Tage brachte Olga die neuesten Zahlungsnachweise nach Hause, zuerst aus Novi Sad und dann auch aus anderen Städten. Als Ende April ein Brief von Dina Alkalaj aus Jerusalem kam, über den Beginn der Feierlichkeiten für das Pflanzen von Setzlingen auf den Judäischen Höhen, verfügten wir in unserem Haus bereits über die Angaben, dass in Belgrad 1371 Juden für 254 Bäumchen 76.400 Dinar bezahlt hatten, was im Vergleich ein wesentlich schlechteres Ergebnis war. Dies konnte heißen, dass man in Novi Sad ein höheres Maß an Pflichtgefühl und Pietät gegenüber den Toten hatte, oder einfach nur, dass man dort mehr Verpflichtungen gegenüber einem einzelnen Toten empfand. Es war auch nicht auszuschließen, dass die Aktion in Novi Sad schlichtweg besser organisiert war und dank Volontären wie Olga Roth das Einsammeln des Geldes nicht dem Zufall, der Unsicherheit, den Gewissensbissen oder der seelischen Instabilität der Einzelnen überlassen worden war. Mancherorts, beispielsweise in Bačka Palanka, entsprach die Zahl der Mitglieder der jüdischen Gemeinde ungefähr der Zahl der Einzahlungen, während in Bjelovar fünfzehn Überlebende für insgesamt 156 Bäumchen zeichneten und bis April 1954 sogar für 658. Zu den relativ erfolgreichen Gemeinden zählten überdies Čakovec, Vinkovci, Donji Miholjac, Karlovac, Slavonski Brod, Tuzla und Daruvar. Woche um Woche tauchten im Heft neue Städte auf, deren Reihenfolge in einer imaginären Tabelle wechselte: im Frühjahr führte Belgrad in der absoluten Bäumchenmenge, im Laufe des Jahres wurde es von Zagreb und Sarajevo überholt. Novi Sad schlug sich ganz gut und war den größten Städten dicht auf den Fersen, bis es im November 1954 plötzlich nachließ, um dann nur ziemlich mittelmäßig abzuschneiden. Bjelovar hielt bis zum Schluss das beste relative Resultat, die kleine weiße Stadt hatte sich selbst im Vergleich zum großen Belgrad hundertfach übertroffen. Olga und Nenad hatten sich völlig in die Zeilen und Spalten vertieft, die sich über unserem Esstisch ausbreiteten und wuchsen wie ein lebendiger Wald, wie ein Schlachtplan.

Als das Ende der Aktion verkündet wurde, war ich fast sechzehn und fühlte mich ermüdet durch das ständige Zählen und Vergleichen, alt geworden über dieser endlosen Hausaufgabe, einer vertrackten Algebra-Operation mit einer ständig und bis ins Unendliche wachsenden Zahl an Unbekannten. Lange konnte ich mich von den Zahlen nicht befreien, obwohl sie mich zuvor nicht interessiert hatten, der Wald wuchs auch nach Abschluss aller Einzahlungen beständig an, ging mit Olga Roth und den anderen Frauen von Tür zu Tür, gewann, eroberte, führte immer neue und neue Setzlinge davon. Du wolltest, dass ich dich bei diesen Hausbesuchen begleite – mir ist es nicht entgangen, dass meine Anwesenheit einen positiven Effekt hatte. Sie sollte bedeuten: Hier, liebe Freunde oder Freundinnen, so würde euer (dein) Sohn oder Enkel oder Neffe jetzt aussehen, hätte er überlebt, also mach eine Einzahlung für ein Bäumchen für ihn und er wird weiter wachsen. Ich war die lebendige Garantie, dass das investierte Geld für die Rückkehr der Verlorenen sorgen würde, für 300 Dinar bekam man ein Leben, das der Nächsten oder das eigene, ich war ein Muster der erreichbaren Unsterblichkeit, und dazu hob ich Ansehen und Preis meiner Mutter. Meine Anwesenheit schien zu sagen: habt Vertrauen zu der Frau, der es gelungen ist, ihren einen Sohn zu retten; was ihr von ihr kauft, ist nicht nur ein Andenken, eine Täuschung, sondern das Leben selbst. Ich muss wohl darin auch ein eigenes Interesse oder zumindest Bestätigung gesehen haben, ein stärkeres Empfinden für die Welt und somit auch Wichtigkeit. Ich hatte selbst eingewilligt, dich zu begleiten auf diesen Besuchen voller Stöhnen, Jammern, Zögern, eingerahmter Fotografien, Träumereien, Erkundigungen nach der Lebensdauer mediterraner Nadelbäume und der Ewigkeit und göttlichen Herkunft judäischer Gebirge, die von nun an bis in Ewigkeit die Erinnerung, die ihnen durch diese kleine Operation an einen regnerischen April- oder Junimorgen in Novi Sad eingepflanzt wurde, bewahren würden. Zugegeben, manchmal ärgerte mich der Geiz, Altersstarrsinn oder das Misstrauen Einzelner. Mirko Kohn hatte, bevor er endlich dem Schicksal für das eigene Leben bezahlte und seine 300 Dinar aus der Hand gleiten ließ, wissen wollen, wo genau sein Bäumchen gepflanzt wird und ob er es erkennen würde, wenn er persönlich dort hin führe, und ob an jedem Bäumchen eine Platte mit Vor- und Nachnamen angebracht werde, wie in einem Arboretum an seltenen, exotischen Bäumen und Exemplaren aus der Pflanzenwelt. »Nein«, sagte ich in der Absicht, die Qual des alten Mannes noch zu verstärken. Einer Kiefer reicht es, wenn sie Weißkiefer, Schwarzkiefer, vielleicht noch Goldkiefer oder ähnlich heißt, in einer lebendigen oder toten Sprache, auf Serbisch, Englisch oder Latein, sie braucht nicht noch zusätzlich einen Vor- und Zunamen. Auch ich würde nicht wollen, dass sich eines Tages ein Baum aus dem Wald absondert, auf mich zukommt und sagt: »Ich bin Daniel Stern, dein Bruder. Du und deine Mutter, ihr habt mich für ein Pfund gekauft. Ich gehöre euch«. Und dann mit uns nach Hause geht.«

Im Übrigen wusste ich, dass Wälder wachsen, sich ausbreiten und die Welt besiedeln, weniger durch den Willen der Menschen und gemäß ihren Plänen als vielmehr durch das Spiel des Schicksals, des Windes und des Wassers, und dass die Bäume, die du und ich in den deprimierenden Zimmern rekrutieren, dort wachsen werden, wo es das Schicksal für sie bestimmt oder sie selber wollen, an strahlenden Gebirgshängen, an den Rändern der Kontinente, weit genug weg, um von den Quittungseigentümern weder gesehen noch erkannt zu werden.

Zum Hausbesuch bei den Lebls war ich mit viel Zögern und Neugier aufgebrochen. Sonja Lebl war mein Jahrgang, sie beendete gerade die achtjährige Grundschule. Wir waren keine Freunde, ja noch nicht einmal offiziell miteinander bekannt; bei Begegnungen im Schulhof oder Flur tauschten wir mehr oder weniger bedeutungsvolle Blicke statt Grüßen: wir waren die einzigen Juden in der Schule, und in unserer Generation einschließlich Lila Klein und Joška Tešić wohl auch die einzigen in der Stadt, aber wir benahmen uns, als würden wir dem nicht sonderlich viel Bedeutung beimessen, was wir wohl auch nicht taten. In Gegenwart von anderen machte ich, wann immer ich Gelegenheit dazu hatte, klar, dass zwischen uns nichts war. In etwa so wie bei Halbgeschwistern, Bruder und Schwester von einem gemeinsamen, ziemlich problematischen Vater: sie waren zwar verwandt, jedoch brachte sie das einander nicht näher, und es freute sie auch nicht, sondern erinnerte sie lediglich an das gemeinsame Leid, die Peinlichkeit und Scham. Dennoch, genau wie so ein Halbbruder, bemühte ich mich aus der Ferne von der Seite stets um sie. Ich wusste, was sie für Schulnoten hatte, mit wem sie befreundet und in wen verliebt war. Sie war rundlich, gründlich, mit olivgrüner Haut und schwarzen lockigen Haaren, die sich widerspenstig aus dem buschigen Pferdeschwanz entwanden, um den eine brave breite weiße Schleife gebunden war. Sie gefiel mir nicht sonderlich, doch verzieh ich anderen keine Bemerkung über sie. »Blöde Kuh«, sagte ich einmal vor eine Gruppe Klassenkameraden, wodurch ich mein Urteil besiegelte und die kleinen Bemerkungen und Bissigkeiten der anderen überflüssig machte. Ein paar Wochen später begab es sich, dass Sonja endlich erfuhr, dass sie nicht als Tochter von Helena und Rafael Lebl geboren worden, sondern deren Nichte war. Angeblich war eine Frau auf der Straße auf sie zugegangen und hatte gesagt: »Herr Rafael Lebl ist nicht dein Vater, sondern ein Onkel, und Frau Helena deine Tante. Dein Vater hieß Leopold und deine Mutter Emma, ich habe bis zum Krieg bei euch gearbeitet. Ich dachte, Gott würde es mir übelnehmen, wenn ich dir das vorenthielte.«

Rafael Lebl und seine Frau waren keine Mitglieder der jüdischen Gemeinde und konnten nicht sofort begreifen, um was für Bäumchen und was für Einzahlungen es sich handelte. »Ah ja, da ist so ein Schreiben gekommen«, sagte Rafael, »meine Frau und ich werden dieser Tage bei der Gemeinde vorbeischauen und bezahlen.« Im Wohnzimmer der Lebls war es stickig, die Fenster geschlossen, damit der kleine grüne Wellensittich, den man aus dem Käfig gelassen hatte, nicht auf die Straße flog. Aus dem Nachbarzimmer hörte man Geraschel, Schritte auf dem Parkett und Schranktüren quietschen – wahrscheinlich Sonja. Ich wollte nicht fragen, ob sie zu Hause war. Wir entschuldigten uns, dass wir ungebeten gekommen waren; sie wiederum, dass wir wegen ihrer Nachlässigkeit Zeit verlieren mussten. Die Dame des Hauses brachte eine Flasche selbstgemachten Kirschlikör, Rafael fiel ein, dein Mann könne vielleicht den berühmten Radoslav Mijuški gekannt haben, einen Vorkriegsattaché in der serbischen Regierung, Stimmwerber für den Abgeordneten der Radikalen Cveta Maglić. Nach dem Krieg war er Angestellter beim Amt für Sozialversicherung, wurde aber bald wegen diverser Spekulationen verhaftet und zu drei Jahren Haft verurteilt. Nach dem Gefängnis fuhr er mit seinen einträglichen Geschäften fort. Er stellte Stempel erfundener Firmen her und stempelte damit Bestellformulare verschiedenster Firmen in Zagreb, Sarajevo, Skopje und anderen Städten. »Erinnern Sie sich, Frau Stern? ‘Te-Ko’, ‘Agrometal’ und viele andere. Die Ware kam am Bahnhof Sombor an und wurde dort von Vertrauensleuten in Empfang genommen. Die Lieferanten wurden nicht bezahlt, doch die teure Ware verkaufte er zu gepfefferten Preisen in der Vojvodina und rings umher. Er lebte auf großem Fuße, es kam vor, dass er in einer Nacht 30.000 Dinar ausgab. Bei der Durchsuchung seiner Wohnung wurden hunderte Kilos Anilinfarbe beschlagnahmt, einige Rollen feinsten Stoffes, viel Geld und jede Menge Stempel nichtexistierender Unternehmen …«

Du hörtest ihm angespannt zu, die Stirn in Falten gelegt, und versuchtest dich an diesen berühmten Mijuški zu erinnern, in dessen Gebiss dein Mann sehr wahrscheinlich Zahnfüllungen und goldene Brücken angebracht hatte; dann bemerktest du, dass der blanko gestempelte Quittungsblock noch auf der Spitzentischdecke lag. Der Kreis und der sechszackige Stern sowie die Buchstaben des Stempels der Jüdischen Gemeinde Novi Sad waren unscharf, zerlaufen und zögerlich; du verdecktest ihn wie zufällig mit der Hand und schobst ihn in deine Handtasche. Was man mit solchen Quittungen alles tun konnte, dachte ich mir, niemandem etwas wegnehmen, jedem alles quittieren. Ich hätte erfundene Schulden quittieren und mich selbst einer erfundenen Schuld bezichtigen können. Ich könnte eine Quittung ausstellen für jeden Bissen, den ich in meinem Elternhaus gegessen habe. In meinem Alter könnte ich auch schon alle Schulden zusammenrechnen und einen Strich darunter ziehen. Ich befürchtete, dass uns die Lebls nicht vertrauten, dass sie uns misstrauisch anschauten wie Handlungsreisende, die hundertjährigen Nebel oder die Gipfel des Himalaya, Wälder und Seen in der Wüste verkauften und ihrem Leid nur noch ein weiteres Übel hinzufügen wollten.

Sie kam in dem Moment ins Esszimmer, in dem wir gerade Richtung Diele aufbrechen wollten. Wenn man am Ende eines missglückten, verfehlten Besuches hereinkommt, konnte das kein Zufall sein, sondern es war berechnend, auf eine bestimmte Wirkung hin zielend.

»Guten Tag, Frau Stark«, sagte sie mit höflichem Ernst. »Hallo, Nenad.« Sie hatte mich noch nie im Leben angesprochen. Sie grüßte uns mit dem Entgegenkommen einer freundlichen Hausfrau und ging sofort zur Sache über:

»Mama, warum sollten wir nicht sofort für je ein Bäumchen für meine verstorbenen Eltern bezahlen? Ich habe ein wenig gespart. Ich hole das gleich.«

Ihre Haare waren am Hinterkopf zusammengebunden, aber nicht zu einem Pferdeschwanz, sondern einem leicht hängenden Dachs- oder Hundeschwanz. Ihre Freundlichkeit war kühl, gekünstelt, sie glaubte, sie sei über Nacht zur Frau geworden und war zu allem bereit, um das unter Beweis zu stellen. Ob es daran lag, dass sie erfahren hatte, dass sie nicht die Tochter ihrer Eltern war? In der Tat befürchtete auch ich, dass das Heranwachsen nichts als eine Reihe von Niederlagen war, von unerwarteten Erkenntnissen, mit denen man die Kindheit von sich abwusch, schälte, ablegte und schüttelte wie verkrusteten Schlamm von der Hose nach einer Schlägerei.

Doch sie kam nicht mit ihrem Ersparten wieder. Stattdessen rief sie mich in ihr Zimmer, um mir ein Briefmarkenalbum zu zeigen, das ihre Eltern hinterlassen hatten. Dort gab es dreieckige Marken von Mauritius, Madagaskar, der Jüdischen Autonomen Oblast Birobidschan. Es stellte sich heraus, dass das Album schon lange da gewesen war, doch sie hatte gerade erst erfahren, dass es ihr Eigentum war. Sie musste dringend etwas damit unternehmen.

»Was meinst du, was soll ich mit dem Album machen? Rafi sagt, es sei eine wertvolle Sammlung.« Ihren Vater Rafael nannte sie nun Rafi. »Ich habe keine Lust, es weiter zu vervollständigen; wenn ich es verkaufe, wird man mich betrügen, wenn ich es aufbewahre, was soll ich dann damit? Briefmarken sammeln irgendwelche muskulösen Träumer, Feiglinge, die ihre Augen vor der Realität verschließen. Weißt du irgendetwas über Briefmarken und Philatelie?«

»Soll ich es für dich verkaufen?«

Ich beschloss Folgendes: Wenn Sonja ihren Fall erwähnte, konnte ich jetzt mit ihr darüber reden. Ich würde ihr sagen: »Siehst du, ich habe überlebt, doch mein Bruder Daniel, der Erstgeborene, nicht. Warum und wie? Weil ich einwilligte, getrennt zu werden, meine Eltern zu verraten, aber Daniel nicht. Weil ich 1944, direkt vor der Deportation, wortlos bei Unbekannten geblieben war, einer gewissen Katica und ihrer Mutter, da ich im Gegensatz zu meinem Bruder mit kaum vier Jahren kapiert hatte, dass dies die einzige Art war, zu überleben, und Daniel mit seinen sechs Jahren beschlossen hatte, dem unter diesen Bedingungen nicht zuzustimmen, er klemmte sich an Mamas Hand und ließ nicht los, um nichts in der Welt. Ich ließ sie fallen, Daniel nicht. Du hast diese Probleme nicht. Und schließlich ist es ja wichtig, dass du geliebt wirst« … an dieser Stelle sank meine Stimme zu sehr männlichen Tiefen, und mit dieser neu erworbenen männlichen Kraft holte ich von dort die Botschaft hervor: »… und hättest du alles in deinen reiferen Jahren erfahren, und nicht, sagen wir, im empfindlichsten Alter, wenn du …« und so weiter, und dann würde ich sie für alle Fälle fragen, was wahr war: dass jene ehemalige Dienstmagd sie an der Ecke der Ulica Zlatne grede angehalten und ihr ihre Geschichte erzählt hatte, oder ob es stimmte, dass sie die ganze Sache selbst in der Straßenbahn aufgedeckt hatte, als sie aus der Schule kam und mit ihrem Zeugnis zum ersten Mal auch ihre Geburtsurkunde erblickte, die sie auch früher schon mit in die Schule und wieder nach Hause gebracht hatte, und die Namen ihrer Eltern und Adoptiveltern las, sich durch die volle Straßenbahn kämpfte bis zum Fahrer und diesem zurief, er solle halten, und dann zur Tür stürmte.

»Verstehst du was von Briefmarken?« fragte sie mich, und ich wusste nicht, was ich antworten sollte.

»Sieh mal, ich bin …« fing ich an, doch Sonja packte meine Hand, schob ihr Gesicht vor meins, sorgfältig darauf achtend, dass sie mich mit ihren vollen Entenbrüsten nicht berührte, und drückte entschlossen ihre Lippen auf meine. Gleichzeitig ergriff sie auch meine andere Hand, um mich so daran zu hindern, sie zu umarmen oder wegzuschieben. So unerfahren ich auch war, ahnte ich dennoch sofort, dass in diesem Kuss keinerlei Verlangen, Zärtlichkeit oder Aufruf zur kooperativen Zuneigung lag, ebensowenig Herausforderung, Vertrauen oder Trotz, Versuchung. Als hätte sie mich geküsst, um mich mit Grippe oder Erkältung anzustecken, um mir Gelegenheit zu geben, in der Schule zu fehlen; mehr als alles andere war dies eine Vorstellung für die jenseits der Tür, die falschen Eltern und alle anderen im Wohnzimmer, eine an sie gerichtete Herausforderung, ein lautloser Aufruf, zufällig die Tür zu öffnen und ein unziemliches Bild von Ungehorsam und Protest vorzufinden. Der Kuss war ein Krampf; als hätten wir in den paar Sekunden mit unseren Mündern und Zähnen den heruntergelassenen Vorhang eines kleinen dilettantischen Haustheaters festgehalten, um dem Publikum zu suggerieren, dahinter spiele sich etwas ab, eine herzergreifende Handlung.

Als der Kuss nachließ und die Lippen sich wieder voneinander entfernt hatten, folgte ich ihnen, und erst in Sonjas unerwartetem Rückzug erahnte ich das Verlangen, das bei ihrer Annäherung und ihrem Kuss gefehlt hatte. Die sich entfernenden Lippen gehörten nun nicht mehr jenem unbeholfenen, beleidigten Backfisch, der sie soeben angeboten hatte, sondern einem jungen Mädchen, das in diesem ungeschickten Körper gerade erst zum Leben erwachte.

Und tatsächlich verwandelte sich Sonja kurz nach unserem Besuch bei den Lebls aus einem entenförmigen, festbrüstigen Mädchen fast blitzartig in eine Frau, wie ein Stück Ton auf der Töpferscheibe in eine Vase, durch deren schmale Taille zwischen den runden Brüsten und Hüften gerade einmal ein dünner Strauß Schnittblumen hindurchpassen würde. Ihre Gesichtshaut war rein geworden, die Härchen an den Schläfen ausgedünnt, die zuvor schamhaft eng stehenden Augen an den richtigen Platz gerückt; mit einem Wort – sie war plötzlich erwachsener und schöner geworden und hatte mich vergessen.

Doch für mich bewahrte dieser Kuss einen anderen Sinn, eine besondere Bedeutung, er gab meinem Problem, das mich quälte wie Juckreiz, Namen und Form: Auch ich war nicht der leibliche Sohn meiner Eltern. Sonja hatte mich durch diesen Kuss ermahnt, benachrichtigt, belastet, gebrandmarkt, verraten; mich mitgeschleift; sie hatte mir klargemacht, dass auch ich mit einer Lüge herangewachsen war, und vielleicht gar nicht der war, der ich zu sein glaubte. Aus diesem Kuss sollte ich die Botschaft mitnehmen, dass ich vielleicht gestohlen war, adoptiert als Ersatz für Daniel, ungefähr so wie sein Baum, der ihn auf Erden repräsentieren sollte. Ich hatte nicht das Bedürfnis, das zu überprüfen. Trotz den Dokumenten und allen möglichen Zeugnissen von Katica und ihren Eltern darüber, wie sie mich versteckt und behütet und schließlich nach der Befreiung  wohlbehütet wieder zu meinen Eltern zurückgebracht hatten, festigten sie lediglich meine Überzeugung, auch ich sei Teil einer parallelen Aktion der Aufforstung, der Vertuschung. Warum sollte sich mein Schicksal von Sonjas unterscheiden; der Tod war stets wahrscheinlicher als das Leben, die Lüge wahrscheinlicher als die Wahrheit. Die Zeitungen jener Tage waren voll von Berichten über die Suche nach den Brüdern Finaly, und auch in unserem Haus wurde viel darüber geredet. Es handelte sich um zwei jüdische Jungen, die während der Besatzung, nach der Deportation ihrer Eltern, einer Französin anvertraut worden waren, die sie als Katholiken großzog und sich nach dem Krieg, als klar war, dass die Eltern im KZ umgekommen waren, weigerte, sie ihrer Tante zurückzugeben. Die Jungen verschwanden spurlos, ganz Frankreich suchte nach ihnen, die Spannung stieg wie im Kino. Die beschuldigte Frau Antoinette Braun versteckte sie zunächst in französischen und dann in einem spanischen Kloster, wo ihre Spur verschwand. Millionen waren tot, aber alle, auch deine Schwester, schimpften über die Katholikin Antoinette, als hockte sie im Nachbarzimmer und lauschte; doch ich war auf ihrer Seite, ich hoffte, dass die Jungs nie gefunden und ihren Verwandten zurückgegeben wurden; ich wollte, dass sie in einem geheimnisvollen, finsteren Kloster blieben, dass die scheinbare Gerechtigkeit nie hergestellt wurde, die tröstliche Lüge nicht siegte; das Leid gezeigt wurde, die brutale Wahrheit. Und als endlich bekannt wurde, dass Robert und Gerald dank der aufwändigen Kampagne und der Aktivitäten der jüdischen Gemeinde in Frankreich gefunden worden seien, fühlte ich mich besiegt; ich begriff, dass die Friedhofsgerechtigkeit über das Risiko und die Abenteuerlust gesiegt hatte und dass es Robert und Gerald nicht gelungen war, der Lüge des halbglücklichen Endes zu entkommen, der Heimkehr der verlorenen Söhne, der Zeremonie der allgegenwärtigen tröstlichen Operation der Vertauschung. Ich wünschte mir, das wahre Angesicht der Dinge möge sich zeigen. Es gab keine erfolgreiche Vertauschung, keinen Trost; ein jeder sollte schmachten, eingekerkert in seinem eigenen Kloster.

Daniel war durch den Tod zum Gewinner geworden. Für ihn gab es eine Büste im Schlafzimmer, einen Baum auf 900m über der Meeresspiegel, seine Liebe und mich, den Lebenden, als Ersatz. Die ganze Welt hallt mit seinem Namen wider: Dan-Dan! Die Glocke der orthodoxen und der katholischen Kathedrale, jede Stunde, an der Friedhofskapelle, die Glocke am Feuerwehrauto, an der Straßenbahn, der altertümlichen Kutsche, die Schulglocke, mindestens zehnmal täglich, die Glocken an den Schiffen und Schleppern, die in beide Richtungen die Donau entlang tuckern, der Adria und den entfernten Meeren, alle Alarmglocken, die Glocken der Leithammel und an den Rinderhälsen, die Glocken an den Hälsen der Aussätzigen und Schwachsinnigen, alle Glocken – Dan-Dan-Dan-Dan. So macht mein Bruder Daniel sich bemerkbar und teilt sich mit, erkennt von Bild zu Bild, von Geräusch zu Geräusch, von Geläut zu Geläut, Klang zu Klang, ruft mich, fordert mich heraus, irritiert und neckt mich und windet sich heraus. Wir waren nicht gleichberechtigt, er regierte über eine Welt, in der ich erfolglos versuchte, meinen Platz zu finden. Er, der Unwirkliche, war der wahre Sohn, ich, der wirkliche, war ein unklarer, unvollständiger, nicht anerkannter Ersatz. Es wäre leichter für mich gewesen, hätte ich einen greifbaren Beweis gehabt, dass ich nicht dein Sohn qua Geburt war. Im Wäldchen an der Donau, unweit vom Schulsportplatz, suchte ich mir eine Weide aus, an der ich mich erhängen wollte, wenn die Zeit gekommen war. Die Zeit sollte im Mai des Folgejahres 1954 kommen, zum zehnten Jahrestag von Daniels Tod. Ich wollte bis dahin sechzehn Jahre alt geworden sein und alles vorbereiten für meinen Plan, damit der Selbstmord Ausdruck meines freien Willens und meiner Reife war. Doch ich hatte zu viel geplant, so viel, dass ich nicht alles schaffte. Und auch Luka verlangte viel von mir: die ganze Grammatik und Rechtschreibung der serbokroatischen Sprache, außerdem Krieg und Frieden und Die toten Seelen, die nicht Bestandteil der Pflichtlektüre waren. Deshalb war ich, als der besagte Tag kam, auch nicht bereit. Ich ging dennoch zum Wäldchen, zum ausgewählten Baum, fest entschlossen, mit der Spitze meines Taschenmessers ein Zeichen darauf zu hinterlassen, bis auf weiteres. Es war ein schöner, kerniger Baum mit glatter Rinde, und als ich den ersten Strich meiner Initiale machte, begann die Rinde sich zu lösen und ich hörte den Baum »NE«, nein, sagen. Ich zuckte zusammen, doch die Klinge ritzte von allein darunter ein »DA«, ja. So waren wir beide eingeritzt, ich, Nenad und mein Bruder Daniel, ich der Leugnende und er der Bejahende, Einverstandene. Ich hatte nicht aufgegeben, nur aufgeschoben. Der Baum war der, der  sich das merken sollte.

»Und, willst du nun für deine Eltern bezahlen?« fragte ich, um meine Verwirrung zu verbergen. Es klang in der Tat blöd, als hätte ich sie gefragt, ob ich zwei Kinokarten kaufen solle. Und vielleicht hatte ich auch so etwas im Sinn. Gerade liefen die Verbotenen Spiele von René Clemant, und obwohl ich mir sonst niemals einen solchen Film anschauen würde, stellte ich mir vor, dass ein Mädchen wie Sonja ihn auf jeden Fall sehen sollte, genauer gesagt, dass es ein Film war, den man sich mit ihr gut anschauen konnte.

 

 

Im März 1954 kehrte Eva Berger, die mit der ersten Gruppe Aussiedler gegangen war, unerwartet aus Israel nach Novi Sad zurück.

»Da bin ich, wieder zu Hause, ich bin heimgekehrt!« sprach sie, während sie vom Trittbrett des Schnellzugs hinuntersprang, der sie aus Rijeka direkt in die Umarmung von Olga Roth gebracht hatte, »ich dachte, ich wache nie wieder auf.«

Die Freundinnen weinten fast den ganzen Heimweg in der Kutsche, bis zu Olgas Wohnung. Als der Kutscher das Gepäck auf den gefrorenen Rasen auslud, musste Olga sich kurz völlig entkräftet auf den größten Koffer setzen: ‚ich bin froh, dass du wieder da bist‘ wollte sie sagen, doch ihre Stimme versagte.

»Da bin ich, ich bin heimgekehrt«, es lag etwas Berauschendes in diesem Satz, den Eva Berger wieder und wieder sagte, beim Treffen mit alten Bekannten und ihren wenigen Verwandten; zu Beginn ganz aufgeregt, mit Wärme und Freude, die sie von jenen erwartete, zu denen sie zurückgekehrt war, später mit immer mehr Zögern, Unsicherheit und Schuldgefühlen, die den Satz auf »Da bin ich« zusammenschrumpfen ließen. Sie war da, das war das einzig Unstrittige, ob sie heimgekehrt war oder gerade erst von zu Hause fortgegangen, war eine Frage, die nur von der Geschichte beantwortet werden konnte. Jene, die seinerzeit nicht genug Entschlossenheit und Mut gehabt hatten, selber auszuwandern, nahmen Eva jetzt übel, dass sie den gemeinsamen Traum vom gelobten Land verraten hatte, doch heimlich, sogar vor sich selbst verborgen, waren sie ihr dankbar, dass sie zurückgekehrt war, denn ihre Angst vor neuen Schwierigkeiten und einem Neubeginn in einem neuen Land – sie war begründet.

Olga Roth war seinerzeit die einzige Person gewesen, die Eva den Wegzug hatte ausreden wollen. Doch Eva war damals nicht zu halten. Seit dem Augenblick, da sie 1944 mit einer Kugel im Oberschenkel und gebrochenen Rippen in einem Leichenhaufen in Bergen-Belsen aufgewacht war, hörte sie nicht auf, aus einem Traum in den nächsten zu fliehen, vielmehr aus einem Aufwachen ins nächste. Als sie im Frühjahr 1945 im Kurbad Palić nackt aus einer Badewanne stieg, sagte sie »ich dachte, ich wache nie wieder auf.« Nur vier Jahre später, im Morgengrauen, nach einer mondlosen Mittelmeernacht, während das Schiff sich dem Hafen von Haifa näherte, sagte Eva, auf Zehenspitzen stehend, um durch die verschlafene Masse von Emigranten zumindest für einen Augenblick den bläulichen Berg Karmel zu erspähen, erneut: »Mein Gott, ich dachte, ich wache nie wieder auf.« Eva konnte nicht erklären, warum die vier Jahre, die sie im Novi Sad der Nachkriegszeit verbrachte, für sie zum Alptraum geworden waren, ebensowenig konnte sie jetzt erklären, warum sie aus Netanya geflohen war. Sowohl das Leben im Novi Sad der Nachkriegszeit als auch das in Israel der Nachkriegszeit hatten begonnen wie von der Morgensonne beschienen, doch sie waren bald verbraucht, verschwanden hinterm Horizont, verdichteten sich zu einem schweren, finsteren Traum. So war auch jetzt jede Schulter, auf die sie sich in Erwartung eines Willkommensgrußes warf, um einen Schatten düsterer als die vorherige, und vielleicht würden noch nicht einmal vier Jahre vergehen, bevor sie sich an einem dritten Ort die Augen rieb und einer gleichgültigen Zufallsbekanntschaft zuflüsterte: »Ich dachte, ich wache nie wieder auf.«

 

**

 

An den Hängen der judäischen Berge wurden Wurzeln geschlagen, Leben erneuert, und weder die Regengüsse des Winters noch die Dürren des Sommers noch die Wüstenwinde konnten diesen Wurzeln etwas anhaben.

Doch im Spätherbst 1954, nach über einem Jahr des Schweigens, schrieb Sara einen langen Brief. Die Handschrift war ihre, doch war diese aufgeregt, aufgewühlt, beunruhigt; sie war nicht verändert, doch glitt sie hinab, wand sich, neigte sich mal zur einen, mal zur anderen Seite, und die Zeilen flohen von den Linien auf dem dünnen Papier und glitten hoffnungslos davon, um sich schließlich in der unteren rechten Ecke abzulagern wie ein Haufen trockener Zweige; sie fielen vom schmalen Briefpapier, flohen zur Seite.

»Ich wusste es«, flüsterte Olga entsetzt.

»Eine neue Affäre! Finaly!« rief der alte Sonnenfeld, der das Bulletin der Jüdischen Gemeinde in der Hand hielt, »das jahrelang vermisste dreizehnjährige Mädchen, die Jüdin Anneke Beckmann, dessen Eltern im Krieg getötet wurden, war in ein Kloster bei Lüttich gebracht worden. Als die Gerichtsbehörden kamen, um das Kind zu holen, war dieses verschwunden, zusammen mit der Nonne, der es anvertraut worden war. Jetzt suchte man die beiden und hatte in diese Richtung Vermisstenmeldungen herausgegeben. In Holland hatte es einen ähnlichen Fall gegeben, der glimpflich geendet war. Ingesamt dreimal war ein jüdisches Mädchen gefunden worden, jedes Mal hatte man es in einem Kloster versteckt gehalten. Es handelte sich um die dreizehnjährige Rebekka Melhade, deren Eltern in Auschwitz vergast worden waren. Sehen sie, Olga, unsere Kinder kommen aus den Verstecken, sie kommen ans Tageslicht!

Die Sonnenfelds hatten keine Kinder. Sein Bruder hatte zwei und dann eines verloren, weshalb er auch keine Zeitung mehr las, Nachrichten interessierten ihn nicht mehr. Vor dem Krieg, als alle Kinder hatten, sagte die Sonnenfeld nicht »unsere« Kinder, denn es waren fremde Kinder. Mittlerweile, da niemand mehr Kinder hatte, waren all diese Kinder, die nicht überlebt hatten, die es nicht mehr gab, die niemand hatte, auch ihre. Zwischen ihr und den anderen  Frauen gab es nun keinen Unterschied mehr. Der alte Sonnenfeld war an den Rollstuhl gefesselt, im Gegensatz zu seinem Neffen, dem einzigen überlebenden Verwandten, der anstatt bei seinem Vater beschlossen hatte, bei ihm zu leben, las alle Nachrichten, die ihm der Neffe selber brachte. Er war Übersetzer und verfolgte alle Neuigkeiten, die Geschichte über die Brüder Finaly konnte er von vorn bis hinten auswendig. Er wusste auch die Zahl der Männer und Frauen in der Gruppe bulgarischer Juden, die auf ihrem Weg nach Israel Belgrad passiert hatten, und wie sie angekommen waren. Er wusste, wer von den Landsleuten in Israel zurechtgekommen war, wann die Sterns aus Sombor Zwillinge bekommen hatten oder wann Gaon Lunenfeld in Jaffa auf der Schwelle seines Hauses getötet worden war. Sie brachten ihm Texte und Zeitungen und nahmen sie wieder mit, sein Lebensraum reichte nicht weiter als bis zum Terrassengitter, doch er wusste alles, was in der Zeitung stand, und sogar mehr als das.

Es war dies ein Jahrzehnt des Gewöhnens an das Leben, es dauerte zehn Jahre,  dieses Wunder als Tatsache zu akzeptieren. Doch genau zu dieser Zeit bekamen diese kleinen einzelnen Wunder der Erlösung, nach der Gewöhnung an die allgemeine Leere, an die allgemeine Abwesenheit von jedem und allem, das ihr Leben früher ausgemacht hatte, auf einmal die Tendenz, sich zu erweitern. Als hätte es dieses Jahrzehnt der Gewöhnung und Akzeptanz der Leere und des Nichts nie gegeben, nach der Meldung der ersten Rückkehrer aus Geschichten und aus Notunterkünften (endlich traute sich der junge Marko Anaf, aus dem Versteck vom Dachboden herauszukommen) machte sich auf einmal eine allgemeine Erwartung breit. Es war der Moment, in dem sich das Wunder als allgemeingültige Regel erwies.

Durch das Zimmer von Samuel Sonnenfeld, aber auch außerhalb davon, entflochten sich Geschichten von großen Transporten jüdischer Kinder und Frauen, die die Deutschen nach Absprache mit einem hochrangigen Offizier Hitlers und den amerikanischen Juden den Russen überlassen hatten, damit sie sie mit der Transsibirischen Eisenbahn in ein Land im fernen Osten brachten. Eine zweite, noch unglaublichere Geschichte handelte von Dutzenden – später stellte sich heraus, dass es Hunderte waren – riesiger Segelschiffe, die mit geretteten Kindern beladen durch die Südsee segelten und sich auf unbewohnten Inseln des Pazifik, den Solomon Islands, mit Nahrung und Trinkwasser versorgten.

Das Leben wirkte nach vielen Jahren wie eine Sammlung von Geschichten. Einige waren wahr, einige wirkten so, wieder andere waren in der Tat erfunden. Zu der Zeit wirkte die Aktion vom »Wald der Märtyrer«, das Zusammenzählen der Toten, wie eine dieser Geschichten. Jeder Baum war ein Beweis, dass ein Mensch gefunden worden war, dem Tod entkommen, dass er gerettet war und wiederkehren würde.

»Sehen sie mal, auch das hier, Olga« fuhr er fort, offenbar gleichgültig gegenüber Olgas Blässe, während sie den Brief las, »was Leon Leneman in der Zeitschrift Evidences schreibt: ‚Ganz unerwartet redet man mittlerweile wieder von der »Jüdischen Autonomen  Oblast Birobidschan«. In einem offiziellen Communiqué der Moskauer Prawda wird mitgeteilt, dass bei den Wahlen im März 1954 werde die JAO Birobidschan 5 Abgeordnete wählen, zur gleichen Zeit meldet die Birobidschanskaja Swesda, dass in den kommenden Monaten Juden aus Russland, Weißrussland und der Ukraine in Birobidschan angesiedelt werden. Das ist nicht alles. Vor Kurzem war im Radio des autonomen Territoriums zu hören, Birobidschan erwarte eine große Zahl von Immigranten, die auf Kosten der birobidschanischen Lokalregierung kommen würden‘. Sehen Sie! Und ich habe im sowjetischen Kulturhaus einen interessanten Film gesehen, Land der glücklichen Menschen, der genau davon handelt. Das Drehbuch stammt vom Journalisten Isaak Babel, der Jude war wie wir. Das ist keine Propaganda, das ist Realität.«

»Ich wusste es«, schluchzte Olga noch leiser auf.

»Liebe Olga«, schrieb Sara Alkalaj, »ich bin durch die gestrigen Ereignisse sehr beunruhigt, ich kann nicht anders, als dich sofort davon in Kenntnis zu setzen. Mit Freunden, die sich vor Kurzem ein Auto gekauft haben, sind wir losgefahren, um zu sehen, was unsere Bäumchen in Yaar Hakdoshim für Fortschritte machen. Seit wir sie letztes Frühjahr gepflanzt haben, waren wir nicht mehr dort. Tsvi hatte Probleme mit der Gesundheit, wir schoben es immer wieder auf, als hätten wir etwas Böses geahnt. Ich hatte mir die grellgrünen Gärten und Obstgärten in Beit Zayit und Motsa eingeprägt, die wir im Frühjahr aus dem Bus sahen, sie waren mir vor Augen, wenn ich in diesen Monaten an unseren Wald dachte. Doch jetzt, im Herbst, ereilte uns direkt am Stadtrand von Jerusalem ein Regenguss, er fiel vor uns wie ein bleierner Vorhang und als wir die Serpentinen hinabfuhren, eilte er uns voraus und führte uns. Es gelang uns nicht, ihn zu durchdringen, obwohl der Himmel aufzeigte, dass es nur ein paar Schritte von uns entfernt heiter war.

Ich weiß mit Sicherheit, dass wir beim letzten Mal etwa zwanzig Kilometer von Jerusalem rechts abgebogen und auf einer soliden Sommerstraße bergaufwärts gefahren sind. Ich erinnere mich noch genau an das Hinweisschild an der Kreuzung und der Tafel mit der Aufschrift. Auch Tsvi erinnert sich. Doch gestern fanden wir, obwohl wir sehr vorsichtig fuhren, sogar noch, als der Regen aufgehört hatte, weder die Tafel noch das Straßenschild. An der Stelle, wo sie hätten sein sollen, ging zwar ein Weg ab, und ich war auch überzeugt, dass es derselbe war, den wir vor einem halben Jahr genommen haben, obwohl Feuchtigkeit, Nebel und die Herbstfarben viel geändert haben, die Schärfe der Hänge, Höhe der Berge und die Richtung der Wege. Wir fuhren bergauf wie auch beim letzten Mal, doch hinter den Kurven erschienen nackte, steinige Berge wie beim letzten Mal und ein Hochplateau, auf dem wir anhielten sowie der Gipfel des Nachbarbergs, das Tal, das sich zwischen ihnen auftat und ein kleines Dorf auf dem dritten Berg hinter uns, alles war wie beim letzten Mal. Alles, meine Liebe! Die judäischen Berge waren kahl wie beim letzten Mal, nur hier und da von etwas Gestrüpp bedeckt – wie beim letzten Mal! Nichts hatte sich verändert. Keine Spur von unseren Setzlingen, keine Kiefern, kein Märtyrerwald! Tsvi gab sich die Schuld, dass er falsch abgebogen war, doch ich war sicher, dass wir den richtigen Weg genommen und auch dort hingelangt waren, wo wir hinwollten. Unser Freund, gebürtig aus Bratislava, der in seiner Jugend angeblich sogar den Triglav bestiegen hat, hatte das Bedürfnis, uns zu erzählen, dass angeblich in den Berichten einiger Alpinisten, am Rande unzugänglicher Orte in den Anden sogenannte Mausefallen auftauchen, optische Täuschungen, die auch die hartnäckigsten und bestausgerüsteten Bergsteiger in die Knie zwingen. An diesen verhängnisvollen Orten verhält es sich nämlich so, dass egal welchen Gebirgspass man bezwungen hat, auf welchen Felsen auch immer man geklettert ist, das Gelände, das sich vor einem auftut, identisch ist wie jenes, das man gerade hinter sich gelassen hat. Wohin auch immer man geht, es wird sich stets derselbe Anblick vor einem auftun. Und so klettert man immer wieder auf denselben Hang und steigt in dieselbe Schlucht hinab, aus der man gerade herausgeklettert ist. Dazu erschwert die dünne Luft den Fortschritt extrem, der letzte Schritt vor dem Ziel wiederholt sich unendliche Male, der Bergsteiger versinkt in der zurückgelegten Strecke, bis er schließlich aufgibt oder stirbt. Wir einigten uns, in zwei Wochen wieder dorthin zu fahren, aber ich möchte nicht.

Vielleicht bin ich krank, hier sind alle mehr oder weniger krank, ich weiß, dass wir dort waren, wo wir hin wollten, nur der Wald war nicht dort. An den Hängen waren Löcher, halb gefüllt mit Steinen, Spänen und Staub, wie verlassene Höhlen von Wüstenfüchsen. Was war mit dem Wald passiert? Tsvi versucht schon den ganzen Tag, mich zu beruhigen, aber das Problem liegt nicht in mir, sondern in dieser Kraft, die meine Erinnerungen herausreißen, mein ganzes Leben entwurzeln will. Diese Kraft hat mich vor vier Jahren hierher geschleift – ich habe mich ihr gänzlich hingegeben – jetzt packt sie mich wieder am Herzen und schleift an einen wieder anderen Ort, wer weiß wohin, wohl in den Wahnsinn, sie lässt nicht zu, dass ich mich beruhige und zu mir komme. Diese Kraft ist so stark, dass sie sogar einen Baum ausreißen kann, ganze Wälder von einem Ort an einen anderen versetzen. Meine liebe Olga! Die Bäume, die ich mit eigenen Händen gepflanzt habe, sind verschwunden. Der Wald ist weggelaufen. Was wird aus uns werden?

»O mein Gott«, kreischte Olga, und der Brief fiel ihr aus der Hand. Sie war erschüttert, wenngleich sie schon eine gewisse Zeit geahnt hatte, dass nach den Seufzern, Gedanken und Menschen auch der Wald auf einer längst verwehten Karawanenstraße Richtung Osten aufbrechen würde, zu dem von der Geschichte eingezeichneten Bestimmungsort. Kurz nach dem Krieg, beim Besuch ihres Kollektivs im Eisenwerk in Smederevo, hatte sie den russischen Schleppkähnen zugeschaut, die unter der Last von Weizen, Mais und Sonnenblumen, bis zum Hals im Wasser, die Donau hinunter tuckerten, und die langen Güterzüge, wie sie durch Wolken von Dampf und Mehl von der Festung Richtung Horizont verschwanden. »Das kriegen alles die russischen Juden in ihrem scheiß Bidschan da, oder wie auch immer das neue Land heißt«, flüsterte ihr der Hausherr zu, ein alter Maler mit schlechten Zähnen, ohne zu wissen, dass sie die einzige Jüdin in der Gruppe war.

Die Fantasie, eine fantasierte Welt, braucht, ähnlich wie die Menschen, Nahrung. Daher wird die ganze Welt einen Teil ihres Reichtums nach Osten schicken, dorthin, wohin der Wald sich aufgemacht hat. Wenn irgendetwas sicher ist, dann ist es Birobidschan; ein Land, auf das alle unschuldigen Träumereien ausgerichtet waren, schluckt nun jede Erinnerung, jedes Leben, jede Liebe. Dort ist alles entweder Erinnerung oder Vergessen. Die Pflicht eines jeden Juden ist es, zur Idee beizutragen, seinen Beitrag ans Unausführbare zu leisten. Wo auch immer er einen Baum pflanzt, wird zumindest ein Zweig in Birobidschan aufblühen, wo immer er ein Fundament setzt, wird wenigstens eine Mauer in Birobidschan errichtet, vieles von dem, was sich donauabwärts in Bewegung setzt, wird in Birobidschan angeschwemmt werden. Der Mensch und der Schmerz, die wie von Geisterhand verschwinden, werden in Birobidschan auftauchen und wieder auferstehen. Und siehe, den Schiffen sind nun die Kiefern gefolgt, den Kiefern werden Früchte folgen, Schritt für Schritt, Wurzel um Wurzel, dorthin werden Zitronenbäumchen fahren, Feigen, Orangen, Oliven, schließlich auch Eukalyptusbäume und im Fels eingewachsene Kakteen.

Es kann sein, dass in dem Moment niemand außer Olga Roth bereit war, Sara Alkalaj zu glauben. Doch in jenem Jahr war es noch möglich, dass Wälder über Nacht umsiedelten. Wenn die Vorsehung beschließt, den Träumereien unglücklicher Frauen entgegenzukommen, brechen Naturkatastrophen über die Welt herein, geologische Beben und biologische Umstürze; Berge versetzen sich, die Wüste kehrt zurück und verschlingt bewaldete Brachen; auf der Erde entstehen neue Inseln des Glücks und die verfaulten, bösen Kontinente versinken im Vergessen. Denn hegt eine Frau den Wunsch, das Leid ans Ende der Welt zu verbannen, wird die Ferne sich immer mehr entfernen, der Raum sich dehnen, dünner werden und schließlich reißen wie eine Saite; will sie jedoch unerreichbare Träume ergreifen, wird die Nähe näherkommen, werden alle Ziele erreichbar, Land und Ozeane betretbar und jedes Birobidschan Wirklichkeit; die Welt wird kleiner, bis sie auf die Größe eines Kiefernzapfens geschrumpft ist, der in eine Frauenhand passt.

 

Semper idem

Đorđe Lebović | Laguna Verlag | 2016
Übersetzt von Jelena Dabić

Ich notierte in mein Allerlei-Notizheft: „15. Juli 1938. Ein wichtiges Datum: ab heute bin ich kein Millionär mehr.“ An diesem Tag tauchten wieder die G-men auf. Diesmal fehlte Charly Chen. Sie kamen herein, größten den Stiefvater, setzten sich, der Birnenkopf sagte: „Ich würde Sie bitten, das Radio leiser zu stellen“, und Stiefvater erwiderte: „Das ist nicht das Radio, sondern meine Frau, im Nebenzimmer, sie hält eine Klavierstunde.“ Der Birnenkopf sagte darauf: „So ist es, ich entschuldige mich. Ich habe es vergessen.“ Nach all dem erklärte Herr Bilak und Bilak feierlich: „Ihr Onkel, Jakov Buchwald, ist ein gewöhnlicher Betrüger.“ Der Stiefvater meinte: „Wirklich?“ Sonst nichts. Bilak und Bilak fuhr fort:

„Er hat seine Geschäfte illegal geführt. Er hat Steuern hinterzogen und seine Gewinne nicht wahrheitsgetreu deklariert. Sein Reichtum ist bloß ein Trugbild, eine Zahl auf dem Papier. In Wahrheit schuldete er schon die Haare auf seinem Kopf.“

Genau so sagte er es: „Er schuldet selbst die Haare auf seinem Kopf.“ Dieser Vergleich gefiel mir, obwohl sich dann die Frage stellte: Was, wenn Onkel Jakov eine Glatze hatte?

Zu Wort meldete sich nun Herr Gavran, eher bekannt als der Glotzäugige, um in allen Einzelheiten zu erklären, wie und warum Jakov Buchwald „selbst die Haare auf seinem Kopf schuldete“. Ich hatte überhaupt nichts verstanden. Er sprach rätselhafte Worte aus, wie Wahrsagerinnen in ihren Wahrsagungen. Anteil, Rente, Bilanz, Obligation, Dividende, Tantieme, Hypothek. Ich war mir sicher, dass der Sinn dieser Worte ebenso wenig das Bewusstsein meines Stiefvaters erreichte, der Sinn von Worten, von denen jedem vernünftigen Menschen schwindling werden musste. Nach ausführlicher Darlegung durch seinen Gehilfen, zog der Birnenkopf den Schluss: „Nach Begleichung der Steuern, Schulden und Zinsen wird das gesamte übrige Vermögen auf etwa 15.000 Dollar geschätzt. Ich schlage vor, dass Sie den ganzen Betrag für wohltätige Zwecke verwenden, denn wenn Sie ihn auf die Hand erhalten möchten, müssen Sie ein Hinterlassenschaftsverfahren einleiten, und dieses wir sie doppelt so viel kosten.“

„Ich verschenke es“, sagte Stiefvater großzügig. Er schien mir in diesem Moment erleichtert, als hätte er sich von einer schweren Last befreit (Oma Laura würde sagen: „ihm ist ein Stein vom Herzen gefallen“). „Zum Glück schulden Sie der Anwaltskanzlei ‚Bilak und Bilak‘ nichts“, klärte uns der Glotzäugige auf. „Alle unsere Kosten wird das amerikanische Konsulat begleichen.“

Diesmal fiel dem Stiefvater ein, den Besuchern Schnaps und Kaffee anzubieten. Sie lehnten ab, verbeugten sich und gingen wieder. Ganz zu unserer Zufriedenheit.

Der Stiefvater war viel ruhiger und gefasster als vor einem Monat, als man ihm mitgeteilt hatte, dass er Millionär geworden sei. Er sagte zu mir: „Was habe ich dir gesagt? Ein Schuft bleibt immer ein Schuft.“ Die Mutter sagte in der Pause zwischen zwei Stunden: „Was für ein Gauner! Er wollte dir seine Schulden schenken.“ Der Stiefvater ließ sich nicht ärgern: „Er hatte immer einen Sinn für Humor“, bemerkte er gutmütig. „Sein Humor ist giftig“, erklärte Mutter. „Bist du sehr enttäuscht?“, fragte der Stiefvater besorgt, und die Mutter antwortete: „Nein, überhaupt nicht, ich habe ja auch nichts erwartet. In meinem Leben sind keine Millionen und keine Reisen in die weite Welt vorgesehen. Ich kann mein Schicksal nicht überlisten.“ Auch ich regte mich nicht sehr auf. Ich dachte mir: was verliere ich schon? Ein Fahrrad? Ich habe bisher auch keines gehabt, und es hat mir nicht gefehlt.

Der Stiefvater atmete auf, die Mutter fand sich mit ihrem Schicksal ab, und ich zog den Schluss, dass es Hauptsache war, dass wir am Leben geblieben waren. So dachten wir. Oma Laura sagte oft: „Der Mensch denkt, Gott lenkt.“ Wir hatten von Millionen geträumt, von Fahrrädern, über die USA. Gott hatte entschieden, dass sich unsere Träume nicht erfüllten. Das war genug von ihm, dennoch hatte er noch nicht genug. Er beschloss, uns zu bestrafen. Ich fragte mich: Warum? Die ältere Schwester der Stiefmutter, meine Reserve-Tante, Teri Ujkeri, würde wahrscheinlich darauf sagen: „Nur Er kennt die Antwort“. Er hat nichts darauf gesagt. Oder er hatte meine Frage nicht gehört oder, vielleicht, wusste selbst Er keine Antwort.

Onkel Stevan pflegte zu sagen, ein Unglück komme niemals allein, sondern immer gemeinsam mit einer Menge Dummköpfe. Die Dummköpfe, die über uns hergefallen waren, solange der Stiefvater Millionär war, stürmten wieder heran. Zuerst wurde in einem Abendblatt die Nachricht veröffentlicht, dass das Millionenerbe des Nichtstuers Andrija Buchwald eine ausgemachte Erfindung sei. Den Artikel schmückte die Überschrift: NEUE UNVERSCHÄMTE JÜDISCHE LÜGE UND BETRUG. Alles, was in diesem Artikel stand, entsprach nicht der Wahrheit, es stimmte nur, dass der Stiefvater Jude war, und das er ohne feste Anstellung war. Die am häufigsten verwendeten Ausdrücke waren: Lüge, Schwindel, Betrug. Davor mit dem obligatorischen Kennzeichen: jüdisch. Im Großen und Ganzen lief das Ganze darauf hinaus, dass der jüdische Hochstapler von leichtgläubigen und arglosen Mitbürgern Unmengen an Geld geliehen hatte, teils als Darlehen, teils als Einsatz in ein Geschäft. Zum Schluss drückte der nicht namentlich genannte Verfasser des Artikels die feste Überzeugung aus, dass der Urheber dieser unehrenhaften Handlungen angemessen bestraft werde.

Schon am nächsten Morgen erschien auf der Fassade unseres Wohnhauses ein großer Davidstern, mit roter Kreide aufgemalt. Darunter stand: ALLE JUDEN SIND LÜGNER UND GAUNER. Später, im Laufe des Tages, tauchte auf unserem Eingangstor eine Schrift in Fettfarbe auf: JUDEN RAUS AUS KROATIEN. Dem Stiefvater begegneten wieder Unbekannte auf der Straße, die ihm Beleidigungen und Drohungen entgegenschmetterten. Der Besitzer des Lebensmittelgeschäfts bat ihn, nicht mehr bei ihm einzukaufen, „ich bitte Sie sehr“, weil er ihm die Kunden vertreibe, „nicht wahr“. Das Gleiche wurde ihm in der Bäckerei gesagt. Nur der Metzger, ein Serbe aus Šimanovci, war anderer Meinung: „Sie haben Ihnen etwas unterstellt, die Schufte“, ärgerte er sich und hackte dabei mit einem Hackbeil, mit voller Kraft, eine Rindsschulter abhackte. „Die können auch nichts anderes, als herumzustochern und unschuldige Menschen zu zermahlen.“

Am nächsten Tag besuchte uns der Hausbesitzer. Er bat die Mutter (sehr höflich), bis spätestens Ende Juli aus der Wohnung auszuziehen. „Ich persönlich habe nichts gegen Sie“, näselte er, als wäre er erkältet, „aber die Hausbewohner beschweren sich, wissen Sie. Ihretwegen sind ständig Leute im Haus, und an den Wänden stehen irgendwelche hässlichen Hinweise.“

Die Mutter behielt trotz allem die Fassung, bis sie ins Sekretariat der Jüdischen Religionsgemeinde eingeladen wurde. Dort wurde ihr wohlmeinend nahegelegt, dass es sehr klug wäre, wenn sie gemeinsam mit ihrer Familie Zagreb verlassen würde, da unsere Anwesenheit der jüdischen Minderheit, die ohnehin in einer schwierigen Lage sei, sehr schaden würde. Die Mutter war in Zorn entbrannt. Sie sprach laut, mir schien, sie war gewachsen und ihre Arme länger geworden: „Anstatt uns zu verteidigen, vertreibt ihr uns! Das wird euch nicht vor diesem Pöbel retten. Im Gegenteil!“ Alle im Büro schwiegen und sahen zu Boden. Das war alles, was sie für uns getan haben.

Noch am selben Abend sagte die Mutter: „Wir gehen weg von hier.“ Der Stiefvater fragte: „Wohin?“

„Wir fahren sicher nicht nach Connectic-tac“, antwortete die Mutter. Sie sagte auch Connectic-tac, also war sie nicht allzu schlecht gelaunt. „Fahren wir nach Sombor?“, fragte ich, in Erwartung einer Bejahung. Ich freute mich schon auf ein Wiedersehen mit dem Vater, mit Onkel Stevan und meinem Freund Kapi. „Nein. Wir fahren nach Subotica“, sagte die Mutter.

Ich war noch nie in Subotica gewesen, der Heimatstadt meiner Mutter. Ich sah sie an, ihren gesenkten Kopf, ihre fest zu Fäusten geballten Hände und war sicher, dass sie nicht in diese Stadt zurückkehren wollte, weil sie schöne Erinnerungen mit ihr verbanden, und der Stiefvater dachte offensichtlich das Gleiche. „Meinetwegen müssen wir nicht nach Subotica. Ich habe es auch hier gut“, sagte er. „In Zagreb können wir nicht bleiben, in Subotica ist Tante Flora. Sie wird eine Wohnung für uns finden, und ich bin sicher, dass ich auch eine Stelle in der Musikschule finde.“ Der Stiefvater stimmte ohne Widerstand, wenn auch unwillig, zu. Er kümmerte sich nicht sehr um seine Arbeitsstelle.

Ein Polizist in Uniform war gekommen und brachte einen Brief. Darin bat ein gewisser Ermittler Herrn Buchwald höflich, ihn in seiner Polizeizweigstelle zu besuchen, auf Zimmer so und so, am selben Tag zu Mittag, wegen eines kurzen Gesprächs. Der Stiefvater ging hin. Zum Mittagessen kam er nicht, und auch nicht zum Abendessen. Als ich zu Bett ging, war der Stiefvater noch nicht zurück. Die Mutter hatte die ganze Nacht durchwacht. Am Morgen zog sie ihr graues Kostüm, das sie nur bei feierlichen Anlässen trug. Es war nicht mehr neu, dennoch sah sie darin vornehm aus, sie war noch immer schlank und anziehend, wenigstens glaube ich das. Von Tante Paulina habe ich später erfahren, dass sie zum Richter am Berufungsgericht gegangen war, der lange Zeit Mieter in der Pension am Lang-Platz gewesen war. „Retten Sie meinen Mann“, soll sie gesagt haben, „er ist unschuldig, er hat keinem etwas zuleide getan“. Und sie hat noch gesagt: „Als Gegenleistung kann ich Ihnen nichts anbieten. Ich kann Sie nur zum Mittagessen einladen.“ Der Richter, an dessen Namen und Aussehen ich mich nicht erinnern kann, ist nicht zu uns zum Mittagessen gekommen, aber der Stiefvater kam am nächsten Morgen nach Hause zurück. Er sah elend aus. Zerknittert, das linke Auge geschwollen, er konnte bloß unter den geschwollenen Lidern hervorschauen, im Gesicht hatte er eine blutige Narbe vom Ohr bis zum Kinn, auf dem Rücken und den Oberschenkeln blutunterlaufene Stellen und blaue Flecken. Ich erinnerte mich an meinen Freund Janje, genau so hatte der ausgesehen, als man ihn erfroren in einem Graben auf dem Tuškanac gefunden hatte. Es gab aber dennoch einen Unterschied. Auf dem Rücken des Stiefvaters stand nicht JUDE geschrieben, mit roter Fettfarbe aufgemalt. „Was wollten sie?“, fragte die Mutter. „Das Geld, sie haben sich eingebildet, dass ich in betrügerischer Absicht die Millionen an mich gerissen habe“, antwortete der Stiefvater. Darauf sagte die Mutter: „Idioten!“ Der Stiefvater nickte: „Vielleicht bin ich ein Idiot, weil ich nicht in der Tat dieses Gesindel ausgeraubt habe.“ Die Mutter wurde ärgerlich, sie sah den Stiefvater durch ihre gesenkten Augenlider an, sie sagte kein Wort. Doch dann kam ihr berühmtes Lächeln, voller Verständnis. „Was haben sie mit dir gemacht?“, fragte sie. „Frag mich nie wieder danach“, antwortete er, mit einer mir unbekannten Stimme (er hatte noch nie so mit der Mutter gesprochen). „Gut, mache ich nicht“, sagte sie, ihre Stimme war weich und zärtlich.

Onkel Matija war der gleichen Meinung wie der Stiefvater: „Sie haben dich ordentlich vermöbelt, aber du hast es nicht anders verdient. Du hättest das Geld, das sie dir angeboten haben, nehmen sollen, jetzt wüsstest du wenigstens, warum sie dich zusammengeschlagen haben. Jetzt wäre die Lüge die Wahrheit, und nicht umgekehrt.“ Der Stiefvater versuchte zu lächeln, ließ es aber sein, wahrscheinlich tat ihm die Narbe im Gesicht weh. „Hätte ich es auch von dir leihen sollen?“, fragte er. „Mich hättest du nicht über den Tisch ziehen können, ich hätte mich vorher gut abgesichert“, sagte der Onkel selbstbewusst, dann wandte er sich an die Mutter: „Ihr müsst weg von hier. Ich bin viel in der Welt herumgekommen, ich weiß, wo man sich mit dem Gesicht hindrehen soll, und wo mit dem Rücken.“ Die Mutter sah ihn durch ihre gesenkten Augenlider an. „Danke für den Ratschlag.“ Der Onkel fuhr fort: „Du musst zurück nach Sombor. Dort sind dein Vater und deine Schwester. Sie hat genug Geld, sie kann dir helfen, bis du dich zurechtgefunden hast.“ Die Mutter setzte dem Gespräch ein Ende uns sagte bloß: „Danke, dass du so großzügig bist, auf Elizabetas Kosten.“

Tante Paulina unterstützte die Absicht der Mutter: „In Subotica werdet ihr es besser haben. Dort ist Flora, sie wird dir helfen, eine anständige Wohnung zu finden. Vielleicht bedeutet auch mein Name noch etwas in dieser Stadt. Ich bin sicher, dass ich dir gute Empfehlungen für die Musikschule besorgen kann.“ Buda war mit der Tante gekommen und hatte eine große Flasche Grappa mit, er wollte den Stiefvater sehen. „Was für Taugenichtse! Aber ich werde ihnen alles durcheinanderbringen, wenn sie dich noch einmal anfassen.“ Buda kochte vor Wut: „Verdammte Hurensöhne! Wenn dich jemand beleidigt, sag mir bloß Bescheid.“ Der Stiefvater versuchte, ihn zur Ruhe zu bringen. „Beruhige dich, Buda. Sie sind viele.“ Der Serbe aus der Lika erwiderte: „Auch wir aus der Lika sind viele! Wir werden sehen, wer stärker ist!“ Die Mutter mischte sich ein und sagte: „Danke für das Angebot, Buda, ich möchte nicht, dass mein Mann zum Anlass für einen Bürgerkrieg wird.“ Buda winkte gleichgültig ab: „Einen Krieg wird es sowieso geben, früher oder später.“

„Dann soll es ihn später geben“, meinte die Mutter.

Ich liege in einem großen Bett, im Gästezimmer von Tante Paulina. Das Fenster ist weit offen, es ist eine ruhige und laue Sommernacht. Die Straßenlaternen vom Platz beleuchten die hohe Decke und einen Teil der Wand, an der mein Lieblingsbild hängt. Es ist ein Fluss. Am Ufer, mit Schilf. Links sind hohe Pappeln zu sehen, rechts Buchen mit üppigen Baumkronen. Durch die Zweige der Weiden am gegenüberliegenden Ufer dringen Sonnenstrahlen durch, die auf der Wasseroberfläche in Tausenden Funken glitzern. Wie Sterne am Himmel. Ich nannte das Bild: Donau, bei Apatin. Die Tante sagte darauf: „Nein, das ist falsch, dieser Fluss ist sicher nicht die Donau.“ Ich fragte: „Woher weißt du, dass es nicht die Donau ist?“ Die Tante erwiderte: „Ich weiß nicht, woher ich das weiß!“ Später, als sie Buda ihre Bilder zeigte, hörte ich, wie sie sagte: „Und das hier ist die Donau, bei Apatin.“   

Ich konnte nicht einschlafen. Das war ein fremdes Bett, ein fremdes Zimmer. Schon einige Nächte hatte ich bei der Tante geschlafen, weil die Mutter es so wollte. „In unserer Wohnung ist es nicht mehr sicher“, sagte sie, „auf der verlassenen Baustelle sind wieder böse Menschen aufgetaucht, und Onkel Matija hat gesagt, dass er einige zwielichtige Gestalten gesehen hat, die um unser Haus umherschleichen.“

Ich öffne die Augen, starre das Bild an, die Donau, die Funken, die auf der Wasseroberfläche glitzern. Ich überlege: Opa Josef ist mit Fischern auf diesem Fluss gefahren, hat diese Funken beobachtet, den Sternenhimmel betrachtet. Dann denke ich an meinen Vater: er ist da geboren; er hat in diesem Fluss gebadet, genau auf diesem Uferabschnitt ist er unter der Weide gesessen, unter der zweiten in der Reihe, auf der rechten Seite, noch sieht man die Spuren seiner nackten Füße im Schlamm. Ich kam gar nicht in Aufregung, als ich an den Vater dachte, ich hatte ihn seit Monaten nicht gesehen, er hatte mir keinen einzigen Brief geschrieben (ich ärgere mich sehr über ihn und finde, dass ich dafür gute Gründe habe).

Zuerst kam ein Brief von Tante Flora: „Kommt nicht nach Subotica“, schrieb sie an die Mutter, „dein Mann ist nun bei uns auf dem Esels-Jahrmarkt. Die hiesigen Zeitungen haben Nachrichten aus Zagreb über den Betrug in Millionenhöhe veröffentlicht, der mit dem Namen Buchwald in Verbindung steht. Viele Bewohner von Subotica erinnern sich noch an Jakov Buchwald, er ist hier wegen seiner Untaten berüchtigt. Unter solchen Umständen könntest du keine Arbeitsstelle finden, die Frage ist, ob du wenigstens eine anständige Wohnung mieten könntest.“ Die Mutter überlegte nicht lange, sie verwarf den Umzug nach Subotica. „Wohin gehen wir jetzt?“, fragte der Stiefvater, und ihre Antwort lautete: „Ich weiß nicht.“

Der Stiefvater wurde schweigsam, er fiel in eine schwere „Desperation“. Ich lud ihn zu einem Spaziergang ein, und er wollte an den Ort gehen, an dem er mich nach meinem Sturz abgeholt hatte. Auf dem Weg schwieg er die ganze Zeit. Als wir am Fuße des Abhangs ankamen, den ich hinuntergestürzt war, sagte er: „So, mein kleiner Freund, die Fäden meines Lebens sind durcheinandergeraten.“

Auch bei mir gerieten die Fäden des Lebens durcheinander. Schon hatte ich mich damit abgefunden, dass wir in Zagreb bleiben würden, als Tante Paulina eine viel bessere Lösung fand. Wahrscheinlich hatte sie ihre alten Bekanntschaften aus ihrer Wiener Zeit in Bewegung gesetzt. Für die Mutter wurde eine Arbeitsstelle gefunden, in Funktion einer Viršofterka (ein Ausdruck von Tante Paulina), das heißt: Leiterin des Haushalts, bei einem italienischen Grafen, in seinem Schloss am Ufer des Comer Sees. Der Graf hatte eine hohe Entlohnung angeboten sowie Unterkunft und Verpflegung nicht nur für sie, sondern auch für ihre Familie. Die Mutter war überglücklich, der Stiefvater blieb mürrisch, und ich ahnte ein großes Unglück.   

Die Vermutung erfüllte sich bald. Der Vater gab keine schriftliche Zustimmung für meine Ausreise aus dem Land. Ohne diese Zustimmung konnte ich nicht über die Grenze kommen. Von Tante Paulina hatte ich gehört, dass Tante Elizabeta und Onkel Stevan den Vater besucht hatten, um ihm die Lage zu erklären, in der sich die Mutter befand. Der Vater hatte angeblich gesagt: „Sie kann unseren Sohn mitnehmen, wohin sie will – aber nur innerhalb der Grenzen dieses Landes. So haben wir es vereinbart, so steht es im Gerichtsbeschluss. Davon trete ich keinen Millimeter zurück.“ Elizabeta sagte: „Meine Schwester ist gezwungen, diesen Dienst anzunehmen, du wirst ihr doch nicht vom einzigen Sohn wegnehmen, den sie bei sich hat?“ Der Vater erwiderte: „Ich nehme ihr nicht den Sohn weg, sondern sie trennt sich von ihm.“ Stevan fragte: „Nimmst du ihn bei dir auf?“ Er erhielt keine Antwort, die Stiefmutter mischte sich ins Gespräch ein und sagte angeblich: „Dein älterer Sohn kann bei uns leben, wenn du das willst, aber der jüngere nicht, auf keinen Fall. Ich werde es nicht zulassen, dass er mein Leben kaputt macht.“

Ich betrachtete das Bild. Der Fluss war weiterhin reglos, aber mir schien, dass sich die Zweige der Buche im leichten Wind bogen. Ich hörte auch das Rascheln der Blätter, den Ruf eines einsamen Vogels und das Flügelgeflatter von Wildgänsen. Ich überlegte – wie sollte ich das Leben meiner Stiefmutter kaputt machen, was müsste ich tun, um jemandes Leben kaputt zu machen? Wenn ich in Sombor bin, frage ich Onkel Stevan. Ich dachte an den Onkel, an Sombor; an Kapi, an Oma Laura, um wenigstens einen winzigen Freudenschimmer vor der Reise zu erwischen, vor der Reise, die mich wieder von der Mutter trennen würde. Ich würde wieder gegenüber den hässlichen Spitalsgebäuden wohnen, gegenüber der Leichenhalle, nicht weit von dem Dickicht, in dem einst mein Bekannter gehaust hatte.

Opa Adolf war gekommen, um mich in sein Häuschen zu bringen, mit dem großen Obstgarten. An diesem Tag saßen alle in Tante Paulinas Speisezimmer beim Abendessen. Am meisten sprachen sie über die Juden, über ihr böses Schicksal. „Wir sind dazu bestimmt, ständig zu wandern. Wir können nicht länger als ein Jahrhundert an einem Ort bleiben“, sagte Tante Paulina. „Nicht einmal so lange“, korrigierte sie die Mutter. „Unlängst hat mir ein Flüchtling aus Deutschland gesagt: wo ein Jude seine Wiege hat, dort wird er sicher nicht sein Grab haben.“ Opa Adolf protestierte: „Das stimmt nicht, deine Vorfahren sind schon im achtzehnten Jahrhundert nach Sombor gekommen und alle sind dort begraben.“

„Ein seltener Fall, der Vater“, mischte sich auch Matija ein. „Es ist wahr, dass wir ständig umherziehen, und das ist deshalb, weil man uns nirgendwo gern aufnimmt. Das ist auch kein Wunder, da wir anders sind als die anderen. Wir haben anderes Blut, eine andere Abstammung.“

„Die Gojim mögen uns nicht, weil wir anständiger und maßvoller sind als sie, und dazu auch gottesfürchtiger“, trug Tante Irena vor wie eine gelernte Lektion.

„Das hast du schön gesagt“, lobte Matija seine Frau, „und was am allerwichtigsten ist, sind wir viel fähiger als sie und unvergleichlich klüger.“

Der Stiefvater schwieg den ganzen Abend, eigentlich hatte er den ganzen Tag kein Wort gesprochen. Endlich sagte er:

„Unsinn“, platzte er aus ihm heraus, so als würde ein anderer sprechen. „Was heißt denn Jude? Nichts, absolut nichts. Alles ist reinste Erfindung: Rasse, Religion, Nation. Alles! Es gibt kein anderes Blut und keine anderen Götter.“

Ich hatte den Stiefvater noch nie so reden gehört, als würde er aus einem Buch vorlesen. Die anderen hatten ihn so auch nicht gekannt. Alle schwiegen und sahen ihn verdutzt an. Der Stiefvater fuhr fort, als würde er eine Rede halten:

„Das Leben ist einzigartig und durchdringt alle Wesen auf diesem Planeten. Die Zeit hat es in Milliarden von Teilen zerlegt, aber jeder davon ist ein Teil des Ganzen. Alle Menschen sind nur ein Fleisch, ein Blut, alle wurden aus demselben Gefäß ausgeschüttet.“

Die Mutter sah vor sich, ruhig und gefasst. Sie kannte ihn auch als solchen, dachte ich mir, sie weiß, was mit ihm vor sich geht. Ich erinnerte mich, dass ich vor kurzem eine amerikanische Komödie gesehen hatte, in der ein unbedeutender Mensch einen harten Schlag auf den Kopf bekommt, plötzlich beginn er, sich mit Politik zu befassen und wird ein berühmter und mächtiger Staatsmann – bei der Polizei hat man meinen Stiefvater auf dem Kopf gehauen, überlege ich – deshalb ist in seinem Kopf etwas durcheinandergeraten und er wird ein berühmter Philosoph werden. (Onkel Stevan hatte mir in seiner Bibliothek Bücher berühmter Philosophen gezeigt, sie waren groß und angestaubt.) Mir gefiel es, wie der Stiefvater es gesagt hatte, das würde ich in mein Allerlei-Heft notieren, insbesondere das mit dem „Gefäß, aus dem wir alle ausgeschüttet wurden“. Ich sah das Bild an, der Fluss rauschte und die gebogenen Zweige wogten über dem Wasser – ein Fleisch, ein Blut, aus einem Gefäß ausgeschüttet …

Ich saß unter der Weide, am Rand des Ufers und beobachtete, wie der Fluss totes Laub forttrug und wie die Lichtfunken auf dem gekräuselten Wasser spielten. Auf dem gegenüberliegenden Ufer bog sich das Schilf rauschend in dem immer stärkeren Wind. Der Ruf eines einsamen Vogels, der sich eintönig, in immer gleichen Abständen wiederholte, machte mich schläfrig. Die Augen fielen mir zu, doch ich bemühte mich, nicht einzuschlafen, um Opa Josef begrüßen zu können. Er würde bald vom Fischen zurückkommen, in seinem kurzen, stumpfen Boot der Flussfischer …

Ich stand im leergeräumten Zimmer der Mutter und hörte die zauberhafte Melodie der Barcarole. Noch am Vortag hatte man das gesamte Mobiliar weggebracht, nur das Klavier war noch geblieben. Vom frühen Morgen an spielte die Mutter ununterbrochen. „Was soll ich dir vorspielen?“, fragte sie mich. Immer, wenn sie mich das fragte, sagte ich: „Die Barcarole, aber bis zum Schluss.“

In einer Ecke des leeren Zimmers standen zwei Koffer: ein brauner, alter, schon abgenutzter, und ein schwarzer, aus Leder, ein Geschenk von Onkel Stevan. Daneben eine große Kartonschachtel, mit einer Paketschnur verschnürt, in der meine Bücher verpackt waren. Der Stiefvater hatte mir geholfen, sie zu verpacken. Er schwieg dabei, und ich schwieg auch. Nachdem alles verpackt war, sagte er: „Deine Mutter und ich gehen nicht zum Bahnhof. Sie will das nicht. Weißt du, warum?“ Ich sagte: „Ich weiß es.“ Ich hatte am Vorabend gehört, wie sie zu Opa Adolf sagte: „Ich möchte euch nicht zum Zug bringen, ich will nicht zusehen, wie sich der Zug entfernt, der meinen Sohn wegbringt.“ Der Stiefvater war erleichtert, dass er mir nichts erklären musste. „Es ist üblich, dass beim Abschied Erwachsene Kindern einen Rat geben. Das ist dir wahrscheinlich bekannt“, sagte er. „Ja. Ich habe solche Szenen in Filmen gesehen“, erwiderte ich und wurde still. „Hat dir Tante Paulina etwas Lehrreiches gesagt, als sie sich von dir verabschiedet hat?“, fragte er. „Ja“, sagte ich, „sie hat gesagt, was auch immer dir passiert, du musst glauben.“ Der Stiefvater schwieg eine Weile, so als würde er überlegen, dann sagte er: „Wenn du unabhängig bleiben willst, musst du denken und nicht glauben. Das ist mein Rat.“ Ich sagte: „Das notiere ich mir in mein Allerlei-Heft.“ Das tat ich auch. Ich holte das schon verpackte Heft aus dem Koffer und notierte darin: „Wenn ich unabhängig bleiben will, muss ich denken und nicht glauben.“ In Klammern fügte ich hinzu: Andrija Knjigašuma, mein Stiefvater.

Ich stand im leeren Zimmer und betrachtete die Mutter. Sie sah mich nicht an, ihr Blick folgte den Fingern, die über die Tasten des Klaviers glitten. In einer halben Stunde würde ich mich von ihr verabschieden. Für wie lange? Für ein paar Monate? Oder ein paar Jahre? Vielleicht für immer? Die Mutter weinte nicht, auch ich musste die Tränen zurückhalten, obwohl ich am liebsten laut losgeschluchzt hätte. Sie hatte meine Gedanken gelesen und hob den Kopf, ihre Finger glitten weiterhin über die Tastatur. Sie sah mich an und lächelte, um mir Mut zu machen, dachte ich, aber in diesem Moment glitten Tränen ihre Wangen hinunter. Ich blieb weiterhin hart. Ich erwiderte ihr Lächeln, aber ich knickte nicht ein vor der Welle von Gefühlen, ich brach nicht in Tränen aus. Ich lauschte dem sanften Wellenschlagen, begleitet von eintönigen Rudern  der venezianischen Gondolieri. Ich dachte mir, wenn ich doch die Zeit anhalten könnte, wenn dieser Augenblick stundenlang dauern könnte, tagelang, endlos. Aber wie soll man die Zeit anhalten? Eine Komödie aus dem Kino kam mir in den Sinn, in der der Protagonist Gefahr läuft, sich zu einer schicksalhaften Verabredung zu verspäten. Er läuft, während seine Freunde versuchen, die Zeiger der Kirchturmuhr anzuhalten. Das gelingt ihnen, die Zeit bleibt stehen und der Protagonist kommt rechtzeitig ans Ziel.

Ich lächelte bitter. Wer weiß, wie die Mutter dieses Lächeln interpretierte. Die Zeiger an der Uhr kann man anhalten, überlegte ich, aber die Zeit niemals, sie ist unaufhaltbar. Sie ist in ständigem Vergehen, in ständiger Bewegung, wie die Sterne. Im Zug nach Sombor notierte ich in mein Allerlei-Heft: „Die Zeit und die Sterne reisen zusammen, unaufhaltsam und ewig durch den Weltraum. (Wir, gewöhnliche Menschen, bezeichnen diese Reise durch die Ewigkeit als Vergänglichkeit.)“   

NOTIZ IM NEUEN BLAUEN HEFT (ZAGREB, HERBST 1980)

Ich stand in der Laginjina-Straße, vor dem Haus Nr. 3. Das ist keine Sackgasse mehr, die verlassene Baustelle ist verschwunden, es wurden mehrstöckige Wohnhäuser gebaut,  Baumreihen gepflanzt. Ich kenne mich nicht mehr aus in der Straße meiner Kindheit, doch das Haus Nr. 3 erkenne ich. Die Fassade ist dieselbe, und auch das Eingangstor, das Stiegenhaus ist ebenfalls dasselbe. An der Mauer gibt es keinen mit Kreide aufgemalten Davidstern, und auch nicht den Schriftzug: JUDENPACK RAUS.

Ich sehe zum Fenster von Mutters Zimmer im zweiten Stock. Ich schließe die Augen, versuche, die Wirklichkeit zu täuschen, das Bewusstsein auszuschalten, die Zeit zurückzudrehen, wieder die Klänge der Barcarole zu hören, wieder die zerreißende Trauer des Abschieds zu spüren. Ich spürte nichts, außer der Schwermut, die mich während meines ganzen Aufenthalts in Zagreb begleitet hatte; ich hörte nichts; ich war mir nur meine Hilflosigkeit bewusst. Ich erinnerte mich, wie ich in der Stunde des Abschieds darüber nachgedacht hatte, dass man die Zeit nicht anhalten kann, dass sie unaufhaltsam durch die Ewigkeit reist, gemeinsam mit den Sternen. Vierzig Jahre später, als ich unter dem heruntergekommenen Wohnhaus in der Loginjina-Straße stand, wusste ich, dass unser Fluch nicht darin bestand, dass die Zeit ständig und unaufhaltsam fortreist, sondern darin, dass man nicht durch die Zeit reisen kann.

    

NOTIZ. ERINNERUNGEN: FIGUREN AUS DER KINDHEIT.

TANTE PAULINA (OHNE DATUM)

Zwei Monate, nachdem wir Zagreb verlassen hatten, heiratete Tante Paulina Buda, den Serben aus der Lika. Sie hatten nicht lange zusammengelebt: im März 1941 wurde Buda zur Armee einberufen und Tante Paulina blieb alleine zurück. Der Krieg war schon absehbar. Tante Flora schrieb ihrer jüngeren Schwester, dass sie keine Zeit verlieren und auf der Stelle nach Subotica kommen solle, da man in Kroatien bereits sehr ungünstige Veränderungen erkennen konnte. Tante Paulina lehnte die Einladung ihrer Schwester ab, indem sie ihr ein Telegramm schickte: „Ohne Buda fahre ich nirgendwohin.“

Unser Krieg dauerte nicht lange. Tante Paulina beobachtete vom Fenster ihrer Wohnung aus, wie deutsche Soldaten wie Befreier über den Jelačićev-Platz marschierten, wo sie von begeisterten Bewohnern Zagrebs empfangen wurden. Noch am selben Abend statteten einflussreiche kroatische Freunde der Tante ihr einen Besuch ab und rieten ihr, sofort die Stadt zu verlassen und sich mit ihrer Hilfe nach Dalmatien abzusetzen, zu den Italienern. Tante Paulina bedankte sich und sagte: „Ohne Buda gehe ich nirgendwohin.“

Buda tauchte eines Nachts auf, zog sich um, steckte etwas Geld ein, packte ein paar Lebensmittel und eine Flasche Grappa ein und machte sich auf den Weg in seine Heimat, um „die serbischen Frauen und Kinder vor den Ustascha-Schlächtern zu verteidigen“. Beim Abschied versprach ihm Tante Paulina, auf ihre einflussreichen Freunde zu hören und schon am nächsten Tag nach Split zu reisen. Am nächsten Morgen gab sie ihren Freunden Bescheid, dass sie ihre Hilfe annehmen wolle, dass sie aber fünf Tage Zeit brauche, um ihre kostbaren Bilder einzupacken und an einen sicheren Ort zu bringen. In der folgenden Nacht brach die Polizei bei ihr ein und verlange von Tante Paulina, unverzüglich ihre Wohnung zu verlassen, die für die neue kroatische Obrigkeit benötigt wurde. Es war ihr erlaubt, einen Koffer mit persönlichen Dingen mitzunehmen, mit maximal 20 Kilogramm. Alles, was weiter folgt, ist die Zeugenaussage eines Polizisten, der im Dienst diesem Ereignis beigewohnt hatte und der im Jahr 1943 zu den Partisanen übergelaufen war und dort Buda, den Serben aus der Lika, begegnete.

Angeblich hatte Tante Paulina den Polizeioffizier gefragt, mit welchem Recht man sie aus ihrer eigenen Wohnung vertreibe. Der Offizier antwortete: „Sie sind Jüdin und haben gar keine Rechte.“ Daraufhin fragte die Tante: „Und was sind Sie, bitte schön?“ Der Offizier antwortete stolz: „Ich bin Kroate. Eine höhere Rasse.“ Tante Paulina erwiderte dreist: „Sie sind ein gewöhnliches Stück Scheiße vom Balkan, und keine höhere Rasse.“ Erstaunlicherweise schlug der Polizeioffizier nicht nach Tante Paulina, sondern schickte einen Polizisten nach Ustascha-Soldaten. Sie kamen sehr schnell. Sie waren bis auf die Zähne bewaffnet, überheblich und sehr laut. „Raus, du Judenhure!“, brüllten sie, „wenn du keine Lust hast, durch Stiegenhaus zu gehen, schmeißen wir dich beim Fenster raus.“ Angeblich war Tante Paulina nicht erschrocken. Sie hielt sich „majestätisch“, mit hocherhobenem Kopf, wie es sich für eine vornehme Dame gehörte, und sah die Ustascha-Soldaten verächtlich an, von oben herab, so wie sie früher ihre schmeichlerischen Verehrer angesehen hatte. Sie sagte, diesmal ohne „angeblich“, da ich meine Tante gut kenne und ganz sicher bin, dass die Aussage des Zeugen stimmt: „Wenn Sie mich töten wollen, müssen Sie das zweimal tun: zuerst als Jüdin und dann als Serbin.“

Sie töteten sie nur einmal.

Opa Josef führte mich durch einen Birkenwald, zu einer auflodernden Flamme, die aus einem hohen Schornstein vor uns hervorschießt. Die Sonne brennt über den Bäumen mit vertrocknetem und versengtem Laub. Nirgends ist Grün zu sehen, weder Gras noch Blätter, noch Knospen, nirgends bunte Blumen, um uns herum ist alles farblos, schmutzig, verfault. Aus der Tiefe des Waldes steigen dicke, rußfarbene Rauchsträhnen, sie verdunkeln die Sonne und verwandeln das Tageslicht in ein nebliges Grau der Dämmerung.

Vor uns stehen Reihen von Baracken. Wir gehen in die erste hinein. Wir gehen an ordentlich zusammengelegten Thora-Überzügen aus goldbesticktem Plüsch vorbei, an Gebetsschals und -ujmhängen, Decken für Hala und Mazzes, Hochzeitsbaldachins, Vorhängen aus kostbarem Atlas, die von Thoraschreinen stammten, rituellen Pokalen, Schofars aus blank poliertem Widderhorn, silbernen Leuchtern und Menoras. Wir gehen in die nächste Baracke. Um uns herum sind links und rechts Regale mit Prothesen zu sehen, der Größe nach sortierte Holzbeine und -arme, Prothesen, Gurte, Mieder. Die nächste Baracke ist bis zur Decke voll mit Taschen, Rucksäcken und Koffern; aus Karton, Stoff und Leder. Darauf sind mit Kreide die Namen ihrer Besitzer und ihrer Adressen aufgeschrieben, in Warschau, Krakau, Prag, Wien, Paris, Brüssel, Amsterdam, Thessaloniki, Skopje, Mailand, Triest, Zagreb, Budapest, Debrecen und Subotica. Wir sind schon in der nächsten Baracke. Die Vitrinen sind voll von Menschenhaar in allen Farben und Abstufungen; braun, hellblond, rot, silbern, schwarz, grau; da und dort, oben auf dem Haufen liegen Zöpfe, die fast an der Wurzel abgeschnitten und nicht entflochten wurden. In der Nachbarbaracke erwarten uns Puppen, in allen Größen; kostbare, aus Kautschuk und einfache, aus Stoff und Holz, oder aus Fetzen und Stroh. Tausende Augenpaare mit starrem Blick sehen mich an. Ich sehe weder nach rechts noch nach links, ich beeile mich, möglichst bald herauszukommen. Draußen erwarten mich Kinderwagen, in Fünferreihen aufgestellt, in Reih und Glied wie Soldaten.

Am Rand des weitläufigen Hofes befindet sich eine runde, offene Feuerstelle. Das Feuer ist gelöscht. Überall liegen Haufen von Büchern, Dokumenten, Fotos und Geldscheinen. Ein Foto erregt meine Aufmerksamkeit, ich nehme es in die Hand und betrachte es. Die Ränder sind versengt, das Foto ist vergilbt und fleckig, dennoch erkenne ich die Personen darauf. Am gedeckten Tisch, gedrängt an der Stirnseite, sitzen Opa Adolf und Oma Laura, links von ihnen Tante Elizabeta, ihr Sohn Ðorđe, der Stiefvater und die Mutter, an der rechten Seite Onkel Matija, Tante Irena, ihr Sohn Robert und am Ende der Reihe ich. Alle lächeln, nur ich bin ernst, mürrisch, schwermütig. Alle Blicke sind ins Objektiv der Fotoapparats gerichtet, nur ich sehe daran vorbei, irgendwo zur Seite – zu mir.

Es war Herbst, es kamen die Feiertage, zuallererst das Neujahrsfest, Rosch ha-Schana. Nach dem jüdischen Kalender begann das Jahr 5702, und nach unserem regulären, dem alltäglichen, war doch erst 1941. Ich fragte Onkel Stevan, warum gerade 5702. Was ist vor fünftausendsiebenhundertzwei Jahren passiert? Er erklärte mir, das sei der erste Tag der Welterschaffung, wie es geschrieben steht: „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde …“ Er zitierte wieder aus den heiligen Büchern, wieder war ich mir nicht sicher, ob er scherzte oder ernsthaft sprach, daher wollte ich eine zusätzliche Erklärung, woher man den wisse, dass dieses Ereignis genau vor 5702 Jahren stattgefunden haben soll. „Wer hat das notiert?“, fragte ich. „Frag das deinen Religionslehrer“, antwortete der Onkel. „Bin doch nicht verrückt“, sagte ich, „dafür kriege ich ein paar Ohrfeigen.“

In der Religionsstunde erklärte uns der Schönberger, dass Rosch ha-Schana eigentlich der Tag des himmlischen Gerichts sei. „Im Himmel öffnen werden drei Bücher aufgeschlagen und darin wird das Schicksal jedes Einzelnen eingetragen, deshalb sollte man sich ein gutes neues Jahr mit folgenden Worten wünschen: L’Schana tova tikatevu, das heißt: Seid eingetragen für ein gutes neues Jahr. Das ist das Erste. Zweitens ist das kein Fest der Lustbarkeit und Freude, sondern ein Fest der tiefen Ernsthaftigkeit und der moralischen Verantwortung. Daher solltet ihr, ‚eine Lausbuben-Bande‘ vor der Synagoge nicht brüllen“, donnerte der Schönberger und spuckte dabei ausgiebig, „denn das wird euch sowohl bei Herrgott als auch bei mir teuer zu stehen kommen.“

Von Onkel Bela hatte ich eine etwas andere Deutung gehört. Laut ihm richtet Gott nicht nur, sondern führt auch die Rechnungen all seiner Geschöpfe zusammen; sowohl ihrer Wohltaten als auch ihrer Übeltaten, sodass Rosch ha-Schana vor allem ein Tag der Erinnerung ist. Gleichzeitig aber auch der Tag der Bestätigung des neuen Lebens – deshalb singt man beim Gottesdienst den Psalm: „Erinnere dich an unsere Leben, du König, trag uns ein ins Buch des Lebens, deinetwegen, du Gott des Lebens.“

Beim Gottesdienst war die große bzw. Sommersynagoge voll von Gläubigen. Dieses heruntergekommene Gebäude, das von außen eher an eine Tanzschule erinnerte (laut Opa Adolf) als an einen Tempel Gottes, stand das ganze Jahr über leer, bis zu den Herbstfeiertagen. Daher stammte wohl auch der Spruch des Stivo Sten, der bald bei allen üblich wurde: „Sein Kopf ist so leer wie die Synagoge von Sombor.“

Meine ganze Verwandtschaft war anwesend, bis auf Opa Adolf. „Was soll ich unter so vielen Gerechten, ich möchte nicht ihren Durchschnitt nach untern drücken! Ich werde beim Festessen dabei sein und das ist von meiner Seite genug“ (sagte er dreist zu meiner Mutter, als sie ihn zum Abendgottesdienst eingeladen hatte). Ich muss gestehen, dass ich ihn beneidete, während ich schwitzte, zwischen meinem Bruder und meinem Vater eingezwängt, und mich nach frischer Luft sehnte. Mit dem Blick suchte ich nach meinem Stiefvater. Er stand ganz hinten, von den anderen getrennt, absichtlich übersehen. Am Beginn des Gottesdienstes war nur Onkel Stevan auf ihn zugekommen und schüttelte ihm auffällig die Hand. Die anderen bemerkten ihn nicht, oder waren bemüht, ihn nicht zu bemerken. Er stand die ganze Zeit allein da, sein Blick war reglos ins Gebetsbuch gerichtet, er war scheinbar ins Gebet vertieft, doch ich wusste, dass er weder an das Fest dachte noch an den Allerhöchsten, sondern dass seine Gedanken durch noch unerforschte Gebiete seiner Fantasie schweiften. Am liebsten wäre ich zu ihm hingegangen und hätte mich zu ihm gestellt, allen anderen zum Trotz, dennoch habe ich das nicht getan, weil mein Vater eine solche Geste wahrscheinlich falsch verstanden hätte.

Am Neujahrsabend versammelte sich bei Tante Elizabeta die Familie Seidner in voller Besetzung am festlich gedeckten Tisch: Opa Adolf und Oma Laura, Onkel Matija mit seiner Frau Irena und dem Sohn Robert, die Mutter und der Stiefvater, Onkel Stevan mit Tante Elizabeta und dem Sohn Ðorđe. Und ich, natürlich. Zuerst aß jeder ein Stück Apfel, das er vorher in Honig getunkt hatte (damit uns das kommende Jahr süß würde), dann eine Ragout-Suppe aus Hühnerklein mit Grießnockerln, und als Vorspeise gab es Mutters berühmte kalte Gänseleber, mit Knoblauch gespickt, danach aß man Gefillte Fisch (damit wir uns wie die Fische vermehrten) mit einer Soße aus Dille, Petersilie und Knoblauch, darauf folgte Gänse- und Truthahnbraten mit Meerettichsoße, Weichselkompott, Bratkartoffeln und verschiedenen Salaten; dann der Neujahrskuchen mit Honig und Rosinen, dazu Rotwein, dann eine Rumtorte und schließlich die unverzichtbaren Granatäpfel (damit die Zahl unserer guten Taten so groß würde wie jene der Kerne in der Frucht). Alles war „nach Vorschrift“ (ein Ausdruck von Opa), wie es der Ritus und der Brauch verlangen, es fehlte nur der Schafskopf, damit wir Köpfe würden und nicht Schwänze. „Auf meinen Tisch kommt etwas so Abstoßendes und Hässliches nicht“, meinte meine Mutter. Dabei blieb es.

Wir waren gerade beim Kuchen mit Honig und Rosinen (die Mutter schenke gerade den Wein ein), als Tante Elizabeta ihren Bruder fragte: „Hast du irgendwelche Nachrichten aus Zagreb?“ Onkel Matija antwortete kurz: „Schlechte.“

„Etwas über Tante Paulina?“, fragte die Mutter.

Ich merkte, dass ihre Hand zitterte, in der sie ein Glas Wein hielt. „Ich habe keine Nachrichten von ihr, aber ich habe gehört, dass Zagreber Juden verhaftet, ausgeraubt und in Lager deportiert werden“, erwiderte Matija mürrisch (mit einer Bitterkeit, als würde er keinen Honigkuchen essen, sondern einen mit Wermut). Elizabeta schüttelte den Kopf, so schnell, dass ich dachte, sie würde sich den Hals verrenken.

„Nein, ich kann das nicht glauben, nein, nein“, wiederholte sie.

Zu meiner großen Überraschung, und wahrscheinlich nicht nur zu meiner, unterbrach die Mutter das Gestammel der Tante, ohne dabei ihren Zorn zu verstecken:

„Warum kannst du das nicht glauben? Was hast du sonst von den verdammten Deutschen erwartet!“     

Ich war sprachlos. Bis zu diesem Moment hatte ich in der Überzeugung gelebt, dass meine Mutter die Deutschen nicht hasste. Sie hatte Goethe, Schiller und Thomas Mann gelesen, manche Gedichte Heines konnte sie auswendig; sie spielte gerne Schubert, Schumann und Händel, und genauso wie ich liebte sie Offenbachs Barcarole über alles. Ich hatte nicht genug Zeit, mich zu wundern, da Onkel Matija dieses Mal sich selbst übertraf, er war schneller.

„Entschuldige mich, das sind keine Deutschen, sondern Kroaten. Deutsche Soldaten würden keine solche Schweinereien machen.“

Ich fragte mich, ob er aus Überzeugung so sprach, oder um sich bei seinem Vater einzuschmeicheln. Nicht nur wegen seiner Frau, einer Deutschen, sondern auch wegen Großvaters Voreingenommenheit gegenüber Deutschen. Er war immer stolz auf die Herkunft seiner Vorfahren aus Preußen und ließ es nicht zu, dass irgendjemand die preußische Ritterlichkeit in Abrede stellte, ihre Disziplin und Pedanterie. Seiner Meinung nach waren die Hauptschuldigen an Zerstörung und Verbrechen Herr Schicklgruber und seine Österreicher, und nicht die Deutschen, schon gar nicht die Preußen. Ich war mir nicht darüber im Klaren, ob er recht hatte, außer unserer einheimischen Schwaben kannte ich keinen einzigen echten Deutschen. Einen hatte ich zwar einmal gesehen, vor langer Zeit, in der Pension meiner Mutter in Zagreb. Einer der ständigen Bewohner hatte ihn zum Mittagessen mitgebracht. Ich erinnere mich, dass er großgewachsen war, sich gerade hielt, sich vor jedem steif verbeugte, sogar vor mir, dass er ständig „danke, danke“ sagte, und der Moment hat sich bei mir tief ins Gedächtnis eingeprägt, als am Tisch Obst serviert wurde. Er betrachtete lange und misstrauisch seine Scheibe Wassermelone, dann aß er sie, mitsamt der Rinde und den Kernen. Als ich Opa Adolf von meiner Erfahrung mit den Deutschen erzählt hatte, sagte er barsch: „Das war sicher ein bayrischer Bauerntölpel und niemals ein Preuße.“

Ich hatte erwartet, dass jemand von den Anwesenden Matijas Verteidigung der deutschen Soldatenehre abstreiten würde, aber es wurde nichts daraus. Onkel Stevan setzte gerade an, seinem hoffnungsvollen Schwager Paroli zu bieten, als ihn Tante Elizabeta am Ärmel zog und ihm zuflüsterte, allerdings zu wenig leise, als dass ich es nicht gehört hätte: „Sei still, gieß nicht noch Öl ins Feuer.“

Ich hatte noch nie gesehen, dass Onkel Stevan sich seiner Frau widersetzt hätte, er tat es auch diesmal nicht, dennoch fand sich eine andere Person, die Öl an die richtige Stelle goss. Die gnädige Frau von Batschki Monoschtor, natürlich. Sie tat es nicht, um die Flamme zu entfachen, sondern im Gegenteil, um sie zu löschen. Sie tat es wie jeder Narr, der mit aller Kraft in die Flamme blies, um das Feuer zu mäßigen. So war sie immer schon gewesen. Sie schüttete Salz ins Meer, grub eine Brunnen am Flussufer aus, oder sie schleppte Holz in den Wald; Andrija pflegte über sie zu sagen: „Sie ist dumm wie die Sonnenfinsternis“ Bis Onkel Stevan bei einer Gelegenheit sagte, sie sei dumm wie eine Aubergine. „Warum wie eine Aubergine? Ist eine Aubergine wirklich dumm?“, fragte ich. „Ist sie denn etwa klug?“, antwortete der Onkel mit einer Gegenfrage. Ich sagte dann drauflos, da mir nichts Besseres eingefallen war: „Eine Aubergine hat kein Gehirn.“ „Deine Tante hat auch keines“, schlussfolgerte Onkel Stevan aus unserer Diskussion.

Was hatte also Tante Irena an diesem Festabend gesagt? Genau fünftausendsiebenhundertzwei Jahre nach der Erschaffung der Welt. Sie sagte: „Mein Mann hat recht, die Deutschen sind eine Kulturnation. Denkt bloß an Goethe und Beethoven.“

Es ärgerte mich sehr, dass man Onkel Stevan „ein Schloss vor den Mund gehängt hatte“ (wie meine Mutter zu sagen pflegte), sodass er die gottgegebene Gelegenheit nicht nutzen konnte und die Aubergine fragen, ob sie Beethovens Gedichte oder Goethes Sinfonien meine? Erstaunlicherweise sprach der Onkel trotz Verbot, wenn auch kurz: „Beethoven und Goethe sind schon lange tot“, sagte er.

Klarerweise konnte es nicht dabeibleiben, die Tante musste das letzte Wort haben. „Stevan, mein Lieber“ (sagte sie, indem sie den Ton erhob, als würde sie ein Rezitativ aus einer von Operetten meines Vaters aufsagen), „sie sind vielleicht tot“ (warum vielleicht, dachte ich mir), „aber unter den Deutschen lebt immer noch ihr edler Geist.“

Gut, jubelte ich, die Sturzflut geht los, man kann sie nicht mehr aufhalten, schon gar nicht mit den Verkehrszeichen meiner Tante. Ich hatte mich nicht getäuscht, Onkel Stevan ging in einen Angriff über: „Da täuschst du dich!“, sagte er (besser, er hätte es nicht gesagt, dachte ich), „es gibt keinen edlen Geist dort, wo man die Ideen eines Idioten aufnimmt und seine wahnsinnigen Aufrufe zur Eroberung der Welt.“

Weiter ging es ganz von alleine, Matija wäre nicht Matija gewesen, wenn es nicht auch noch seinen Senf dazugegeben hätte. Er konnte es nicht ertragen, wenn man zu seiner Frau sagte, dass sie sich irrte, er war der Meinung, dass sie immer im Recht war.

„Unsinn“, sagte er selbstbewusst, „um Hitler hat sich bloß eine kleine Gruppe an Fanatikern versammelt. Der Großteil der Deutschen ist vollkommen vernünftig, weil sie ein tiefsitzendes Gefühl für die Moral besitzen.“ Klarerweise gab Onkel Stevan nicht auf, obwohl ihn seine Frau schonungslos unter dem Tisch mit dem Fuß trat. „Ein Volk, selbst wenn es ein ‚Herrenvolk‘ ist, das in den anderen die Quelle seiner Not und seiner Misserfolge sieht, ist mit dem Keim einer schrecklichen Krankheit ‚infiziert‘, die zur völligen Lähmung des Verstands und der Moral führt.“

Es war an der Zeit, dass sich auch Opa Alfred einmischte, auf der Seite seines Sohnes, natürlich,  obwohl man sah, dass er übellaunig war. „Ich finde, dass Matija recht hat. Das deutsche Volk besitzt ein tiefsitzendes Gefühl für die Moral, erinnert euch an Goethes Worte: die moralische Größe ist entscheidend“, führte er aus.

„Das ist wahr, Goethe hat das geschrieben. Das Problem liegt darin, dass die Deutschen lieber Mein Kampf lesen als Goethe“, ließ der Onkel vernehmen, trotz Redeverbot.   

Ich war zufrieden.

Der Stiefvater, der die ganze Zeit geschwiegen hatte, als würde ihn das Geplänkel während des Mittagessens kein bisschen interessieren, sagte plötzlich: „Bevor ihr eure Diskussion fortsetzt, muss man verlässlich feststellen, ob deutsche Nazisten Menschen sind oder bloß eine Kopie des Menschen mit dem Gehirn eines Alligators und den Emotionen einer Ratte.“

Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich laut applaudiert, leider konnte ich das nicht. Alle schwiegen, also schwieg auch ich, und der Vater und der Sohn bereiteten sich auf einen Gegenangriff vor. Bevor Opa Alfred wieder geistesgegenwärtig wurde und noch bevor der träge Matija sich eine möglichst verletzende Antwort überlegen konnte, sprach die Mutter als Erste: „Genug vom gegenseitigen Übertreffen. Wir wollen doch nicht in der Neujahrsnacht streiten? Kein Wort mehr.“   

Das war ein Befehl, aber ebenso ein Vorwurf. Wenn sie etwas verlangte, widersetzte sich ihr niemand aus der Familie Seidner. Nicht einmal Matija. Sie hatte die Rolle der verstorbenen Großmutter Helena übernommen, die einst das Oberhaupt der Familie war, allerdings erteilte die Mutter, im Unterschied zur Großmutter, nur sehr selten ihre kurzen Befehle. Zur Sicherheit kam ihr ihre Schwester zu Hilfe: „Es ist Zeit, Fotos zu machen“, sagte sie.

Wir drängten uns an die Stirnseite des Tisches. Onkel Stevan schaltete alle Lichter im Speisezimmer ein, stellte den Fotoapparat auf das Stativ und bereitete den Blitz aus Magnesium vor. In diesem Moment spürte ich, wie meine Hände eiskalt wurden und wie der Schrecken langsam meine Arme hinaufkroch, meine Schultern und meine Brust erfasste – es geht los, dachte ich mir – jetzt wird die Zeit stehenbleiben und alle werden zu Eis erstarren. Es geschah nichts. Onkel Stevan stellte sich von einem Bein aufs andere und suchte nach der besten Position zum Fotografieren, dabei hörte ich das Gekicher von Tante Irena und Gesprächsfetzen, die ich nicht verstehen konnte. Im nächsten Augenblick wurde mir klar, dass ich das alles schon einmal erlebt hatte (wir sitzen beim Neujahrsfestessen und blicken konzentriert ins Objektiv des Fotoapparats: an der Stirnseite Opa Adolf, neben ihm Oma Laura, rechts von ihnen Matija, Irena, Robert und ich, links Tante Elizabeta, Ðorđe, der Stiefvater und die Mutter, alle lächeln, nur ich blicke ernst und mürrisch drein). Ich versuche, mich zu erinnern, wann ich all das erlebt habe, doch die eisige Kälte lässt nicht nach, sie hat auch meine Beine erfasst, sodass ich sie nicht bewegen kann, als wären sie erfroren.

Ich höre, wie uns Onkel Stevan ermahnt, uns nicht zu bewegen, und das Aufblitzen des Magnesiums blendet mich. Ich schließe die Augen. Das blitzende Licht dauert noch an, aber das ist nicht mehr das Leuchten des Blitzes, sondern die Sonne, die über dem Birkenwald brennt. Mir ist warm (ich sehe mich, wie ich neben der gelöschten runden Feuerstelle stehe, mit einer angesengten Fotografie in der Hand: der Tisch im Speisezimmer, darum gedrängt Opa Adolf, Oma Laura, Tante Elizabeta, Ðorđe, der Stiefvater, meine Mutter, Matija, Irena, Robert und ich, ernst und mürrisch). Das ist ein Traum – ruft eine unbekannte Stimme in mir – das ist nicht die Wirklichkeit, das ist ein Traum.

Ich sitze mit geschlossenen Augen im Dunkel. „Was ist mir dir los? Geht es dir nicht gut?“, höre ich die Stimme der Mutter. „Es geht mir gut“, sage ich und öffne die Augen. Ich stehe auf und gehe ans Fenster, ich sehe auf die dunkle, menschenleere Straße hinunter. Der Regen prasselt nieder. Auf dem Dach des Hauses gegenüber steht ein Mann, der Regen scheint ihn nicht zu berühren, er läuft an ihm vorbei, als wäre er durch eine unsichtbare Wand geschützt. In der Dunkelheit kann ich ihn nicht erkennen, aber ich weiß, dass er mich anschaut. Ist das Opa Josef? Oder Elijahu? Träume ich? Was ist die Wirklichkeit, und was der Traum? Am nächsten Morgen notiere ich ins Blaue Heft: „Ist meine Wirklichkeit eine große Lüge, bloß eine trügerische Erinnerung? Und mein Traum die einzige Wahrheit?“

Am Sonntag, dem siebten Dezember, notierte ich in mein Kriegstagebuch: Die Japaner haben Pearl Harbor angegriffen, die amerikanische Militärbasis auf Hawaii. Vier Tage später erfolgte ein weiterer bedeutender Eintrag: Deutschland und Italien haben Amerika den Krieg erklärt. Und am Samstag, dem dreizehnten, wurde notiert: Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Kroatien und die Slowakei haben den Vereinigten Staaten und Großbritannien den Krieg erklärt. Einen kurzen Kommentar setzte ich in Klammern: (ha, ha, ha).

Einen Tag später kamen Agenten der Geheimpolizei und nahmen Onkel Stevan mit. Zwei Wochen später wurde eine Gerichtsverhandlung abgehalten, die einen ganzen Vormittag in Anspruch nahm. Am nächsten Tag wurde das Urteil gesprochen: „Wegen dem Feind dienender Betätigung wird Istvan Lukacs zu sieben Jahren strengen Kerker verurteilt.“

Bei der Gerichtsverhandlung, die für die Öffentlichkeit nicht zugänglich war, war endlich der Kronzeuge erschienen, ein „gewissenhafter Bürger“, der den Gesetzesübertreter angezeigt hatte, und, wie in einem schlechten Drehbuch mit einer überzogenen Geschichte, hatte den Onkel Stevan sein bester Freund denunziert. Keinen Moment lang hatte er daran gezweifelt.

Istvan und Karoly wurden im selben Jahr geboren, in derselben Stadt, in Eger, im Nordosten Ungarns. Gemeinsam besuchten sie die Grundschule und die gymnasiale Unterstufe, dann machten sie beide eine Lehre als Gerber. Später wählte Istvan das Taschnerhandwerk, Karoly wurde Kürschner und Pelzmantelschneider. Nach der Meisterprüfung gingen sie beide nach Budapest, um ihre Handwerkskünste zu perfektionieren. Die ganze Zeit waren sie wie Brüder, so wurden sie auch genannt – Brüderfreunde. Sie trennten sich auch dann nicht, als sie ein neues Leben begannen und sich in Sombor ansiedelten, der Stadt, die zu dieser Zeit ein Treffpunkt der Handwerker und Händler war. Sie heirateten im selben Jahr und waren einander Trauzeugen. Istvan, jetzt schon Stevan, eröffnete ein Geschäft für Lederwaren, und Karoly, liebevoll Karcsi genannt, eine Kürschnerei, in der Pariser Straße. Ihre Freundschaft hielt weiter an, sie nannten einander „komam“.    

Onkel Stevan hatte seinem unzertrennlichen Freund und Trauzeugen wahrscheinlich hunderte Witze erzählt, von denen einer verhängnisvoll war. Bei der Gerichtsverhandlung wurde der Witz bekannt gegeben, samt dem strengen Verbot, ihn an die Öffentlichkeit zu tragen. Laut Aussage des Anwalts des Onkels hat Karoly vor der Gerichtsversammlung unter Eid bestätigt, dass sein Bekannter, es wurde nicht „Freund“ gesagt, den berüchtigten Witz erzählt habe. „Man konnte nichts machen“, meinte der Anwalt, „das Urteil wurde noch vor Beginn der Verhandlung gefällt.“ Noch bevor das Urteil rechtskräftig war, wurde Onkel Stevan in die Festung von Komárom überstellt, ins Gefängnis für die schwersten politischen Gefangengen. Er war nun ein Sträfling, jeder Kontakt zu ihm wurde unterbrochen.   

Tante Elizabeta hatte diesen Schicksalsschlag sehr schwer aufgenommen; Makuli hätte so einen Schlag als einen Direkt in den linkem Plexus bezeichnet, von dem man oft tot umfiel. Meine Mutter trennte sich kaum von ihrer Schwester, sehr oft hatte sie bei ihr geschlafen. Die Nachricht von der Verhaftung und das Urteil verbreitete sich in der ganzen Stadt und brachte viel Unruhe, nicht nur unter Juden und Serben, sondern auch unter zahlreiche Ungarn: „Dieses Urteil hat weder mit Wahrheit noch mit Recht etwas zu tun. Das ist höchst abstoßende Einschüchterung!“, sagte mein Vater, und die Stiefmutter sagte darauf: „Nur noch ein weiterer Beweis, dass man vom Schweigen keine Kopfschmerzen bekommt.“ Opa Adolf hatte nicht das Urteil kommentiert, sondern das Verhalten des ehemaligen Freundes des Onkels. „Dieser Typ hat lange Zeit seinen wahren Charakter versteckt, aber so, wie ein wahnsinniger Mensch sich wahnsinnig verhalten muss, so muss sich ein gemeiner Mensch gemein verhalten.“ Der Stiefvater versuchte, wenigstens einen schmalen Lichtstrahl in der Finsternis zu entdecken, also sagte er zu mir: „Man weiß nicht, worauf das hinauslaufen wird. So wie es in jedem Guten etwas Böses versteckt, so verbirgt sich auch in jedem Schlimmen immer auch etwas Gutes.“ Etwas Ähnliches sagte auch Onkel Matija, nur geschmackloser / unangemessener: „Das alles ist gar nicht so schlecht. In den Gefängnissen kommt man heutzutage am wenigsten ums Leben.“ Die Mutter sagte gar nichts, und ich traute mich nicht zu fragen, von welcher Farbe denn die Seele des Meisters Karoly sei, obwohl mich das sehr beschäftigte. Ich stellte fest, dass sie höchstwahrscheinlich „schwarz“ wie Teer sei, wie ein Leichentuch, wie der Boden eines Abgrunds.

Eines Tages gegen Mittag nahmen Kapi und ich Stellung in einem Torbogen gegenüber dem Kürschnerladen in der Pariser Straße. Mein Freund wollte Karoly sehen, ihn aus der Nähe betrachten. Als dieser aus dem Laden herauskam, sahen wir einen Mann, wie wir sie jeden Tag hundertmal sehen konnten: dünn, mit kleiner Glatze, mit einem spitzen Schnurrbart, wie er oft von Barbierlehrlingen getragen werden. „Ein gewöhnlicher Gestank von einem Menschen“, sagte Kapi enttäuscht. „Er hat weder Hörner, noch Hufe, noch einen Ziegenbart.“ Ich sagte: „Wenn er ein Teufel wäre, wären alle Probleme gelöst, so aber verstehe ich gar nichts.“

Ich verstand auch wirklich gar nichts. Ich fragte mich, warum Karoly seinen Landsmann in den Abgrund gestoßen hatte, seinen Trauzeugen und Freund? Welche Gründe haben ihn dazu geführt oder gezwungen? Onkel Stevan hatte ihn niemals beleidigt, oder ihn bedroht oder erpresst, er war weder sein Schuldiger noch sein Gläubiger, er war nicht wohlhabender als Karoly noch in einer höheren beruflichen Position. Es gab keinen einzigen Grund für Rache, Neid, Eifersucht oder Hass.

Es wurde Böses getan, um Böses zu tun.

An diesem Abend notierte ich in mein Blaues Heft: „Woher kommt das Böse – aus welchem Samen ist es entstanden – und wie ist es in unsere Welt hineingekrochen?“

NOTIZEN, ERINNERUNGEN.

FIGUREN AUS DER KINDHEIT: ONKEL STEVAN

Onkel Stevan verbrachte in der Festung Komárom, oder Komarno, fünf Monate in strenger Isolationshaft. Es war ihm verboten, Briefe und Pakete zu empfangen, und er konnte nur eine Postkarte pro Monat schicken. Im Frühling 1942 wurde er in ein Gefängnis in der Stadt Sátoraljaújhely versetzt, unter Kriminelle. Seine Lage verbesserte sich deutlich: es war ihm nun erlaubt, Briefe und Pakete zu empfangen, und einmal pro Monat sogar Besuche. Unter den Sträflingen war er äußerst beliebt, es gelang ihm, selbst den waschechten Kriminellen zu guter Laune zu verhelfen / gut zu stimmen. Im folgenden Jahr verhielt man sich ihm gegenüber, als wäre er ein langgedienter Häftling: er bekam eine Einzelzelle und die Erlaubnis, dreimal pro Jahr seine Frau zu einem ganztägigen Besuch zu empfangen.    

Der Stiefvater behielt recht: das Schlimme hat immer auch etwas Gutes. Erstaunlicherweise hatte sich auch Onkel Matija nicht geirrt: Für Juden war das Gefängnis bald zum sichersten Ort geworden, darin kam man am wenigsten ums Leben. Zum ersten Mal war Onkel Stevan seinem Schicksal im Herbst 1942 entkommen, als alle Juden aus Sombor im Alter von zwanzig bis vierzig Jahren mobilisiert und in Arbeitsbrigaden eingeteilt wurden, die Minen entfernen und Festungsanlagen für das Militär an der Ostfront bauen mussten. Da er ein Sträfling war, wurde er von der Mobilisierung nicht erfasst, höchstwahrscheinlich entkam er so dem Tod.

Das nächste Mal überlistete er sein Schicksal im April 1944: der ungeheure Sturm des Großen Umsturzes hatte den Sträfling Istvan Lukacs umgangen. Es war zwar eine Staatskommission, bestehend aus drei Mitgliedern, gekommen, um zu überprüfen, ob es im Gefängnis jüdische Gefangene gab, sie fand jedoch keinen einzigen. Keiner von den Häftlingen und Aufsehern hatte Istvan Lukacs verraten. Die Kriminellen hatten mehr Gewissen und Gerechtigkeitssinn als ein angesehener und tüchtiger Kleinbürger aus Sombor.

Am selben Tag, an dem die Rote Armee in Sátoraljaújhely einmarschiert war, ließ der Gefängnisleiter seinen einzigen jüdischen Häftling frei und bat ihm beim Abschied, den Ungarn die Ungerechtigkeit zu verzeihen, die sie ihm angetan hatten. Onkel Stevan kehrte auf einem sowjetischen Militärlastwagen nach Sombor zurück, als erster Jude, der den Großen Umsturz überlebt hatte. In seiner Wohnung fand er einen Armeestab vor. Er fand einige Möbel und fast seine ganze Bibliothek unberührt vor. Das waren Zeiten, in denen ein Buch keinen Wert hatte, es konnte nur zum Feuermachen nützlich sein. Bei seinen serbischen Freunden fand er seinen Familienschmuck vor, die Tante Elizabeta rechtzeitig dort untergebracht hatte. Das waren Freunde von einem anderen Schlag als Meister Karoly. Die Stadtverwaltung teilte ihm eine Zweizimmerwohnung in der Valjevska-Straße zu. Er hatte gerade so viele Möbel gehabt, dass er die beiden Zimmer einrichten konnte, aus der Küche hatte er eine Bibliothek gemacht.

Eine Woche nach seiner Rückkehr kleidete er sich „en gala“ und machte sich mit einem Spazierstock in der Hand auf den Weg in die Pariser Straße. In der Kürschnerei fand er den Besitzer vor, der sich seit ihrem letzten Treffen überhaupt nicht verändert hatte, außer dass er nun drei Jahre älter war. „Servus, Karcsi koma“, grüßte ihn der Onkel wie einst in den alten Zeiten, die in diesem Augenblick ferner schienen als die biblische Sintflut. Der „Karcsi koma“ grüßte nicht zurück. Er war blass, seine Hände zitterten, seine Zunge war erlahmt. Es sprach nur Steve Stan. „Ich werde dir den neuesten Witz erzählen. Du wirst vom ganzen Herzen lachen“, sagte er. Er erzählte den Witz, einen „politischen“, einen groben Scherz gegen die Partisanen, die Kommunisten oder den Marschall Tito, das ist mir nicht bekannt. Der Onkel hat mir gegenüber später zugegeben, dass er sogar noch stupider war als derjenige, für den er sieben Jahre Haft ausgefasst hatte. Trotzdem lachte Karoly nicht. Steve Stand auch nicht. Im Gegenteil, er war vollkommen ernst. „Ich lasse dich eine Auswahl treffen“, teilte er seinem ehemaligen „Bruderfreund“ mit. „Du hast zwei Möglichkeiten. Die erste lautet: du wirst mich nicht bei der OZNA anzeigen. In diesem Fall lasse ich sie wissen, dass ich dir einen politischen Witz erzählt habe, um dich zu provozieren, und du es versäumt hast, deiner bürgerlichen Pflicht nachzukommen. Die andere Möglichkeit: du zeigst mich wieder an. In diesem Fall gewähre ich der OZNA Einblick in mein Gerichtsurteil, in dem du als Kronzeuge angeführt bist. Los, such es dir aus.“ Karcsi fiel in Ohnmacht, und Onkel Stevan spazierte ruhig aus dem Laden heraus. Diesem Vorfall hatte auch der Kürschnergehilfe beigewohnt. Einige Tage später redete die ganze Stadt über den neuesten Scherz von Steve Stan, den, wahrscheinlich zum ersten Mal, niemand lustig fand. Bals wurde der Kürschnerladen in der Pariser Straße verkauft, und sein Besitzer, der tüchtige Lederer- und Kürschnermeister aus Eger, war aus der Stadt verschwunden, ein für alle Mal.

Nach meiner Rückkehr aus der Welt der Dunkelheit und des Nebels, denn die Deutschen hatten unter anderem auch deswegen das Lager in Auschwitz gebaut, nahm ich das Angebot des Onkels an, mit ihm zu wohnen. Er pflegte fast den ganzen Tag zu Hause zu verbringen, in der Gesellschaft seiner Bücher, oder mit dem Betrachten von Fotoalben der Familie. Viele Abende verbrachten wir gemeinsam in Gesprächen; wir versuchten dabei, die Ursachen und den Zweck des Großen Umsturzes zu erraten, auf der Suche nach dem Sinn im Sinnlosen und nach der Logik im Wahnsinn. Er war sich schon damals dessen bewusst, dass er den Keim des nahen, unabwendbares Endes in sich trug. Die schwere Krankheit, die in den modrigen und finsteren Kasematten der Festung von Komárom ihren Anfang genommen hatte, schritt langsam und im Verborgenen fort, jedoch unaufhaltsam. Er versteckte sie, solange er konnte, doch dann legten die Ärzte die endgültige Diagnose fest: Knochentuberkulose. Damals gab es noch keine Antibiotika, die Krankheit war unheilbar. Eine Zeitlang lag er im Krankenhaus, wo man ihm mit konservativen Methoden behandelte, die nur bis zu einem gewissen Grad den einzig möglichen Ausgang aufschieben konnten. Um seine Schmerzen zu lindern, verabreichte man ihm geringe Dosen Morphium. Er wurde von der Droge abhängig, die nicht nur seine Schmerzen linderte, sondern auch die immer schwereren seelischen Schmerzen wegen des Verlusts seiner Frau und seines Sohnes.

Nachdem er aus dem Krankenhaus entlassen worden war, mussten wir uns trennen. Onkel Stevan übersiedelte in eine kleinere Wohnung, während ich zum Studium nach Belgrad ging. Den Rest seines Lebens verbrachte er auf der Suche nach der heilsamen Droge. Seine Freunde und Bekannte versuchten, ihm zu helfen, wahrscheinlich im Glauben, auf diese Weise Buße zu tun für eigene und fremde Sünden, die sie ihm und seiner Familie angetan hatten. Er verkaufte alles Wertvolle und nach und nach all seine Bücher, die er viel mehr liebte als all den Schmuck und das Gold. Ein Roma-Mädchen kümmerte sich um ihn und pflegte ihn mit unglaublicher Hingabe und Anhänglichkeit.

Ich hielt stets Kontakt zu ihm. Anfangs wurden meine Briefe pünktlich beantwortet, doch später blieben seine Briefe immer öfter aus. „Am Tag schlafe ich“, schrieb er mir, „und die Nächte verbringe ich damit, die Schatzkammer meiner Erinnerungen zu durchwühlen.“ In seinem vorletzten Brief, der unleserlich und schwer verständlich war, stand der letzte Satz in gestochener Schrift und deutlich da: „Alles liegt hinter mir, alles ist bereits passiert, alles wurde von der Asche des Vergessens bedeckt. Nur die Nacht kommt, die unerbittliche und gespenstische, und alles wiederholt sich: die Angst vor der Einsamkeit und der Gedanke an den Tod.“ Der letzte Brief kam eine Woche nach seinem Tod. Das war ein Blatt Papier, auf dem in sauberer Schrift ein Zitat des französischen Schriftstellers und katholischen Predigers Jacques Bénigne Bossuet: „Wenn ich vor mich schaue, sehe ich, wie groß der Raum ist, in dem ich mich nicht sehe. Wenn ich mich umdrehe, sehe ich, wie erschreckend die Reihe ist, in der es mich nicht mehr gibt. Wie wenig Platz nehmen wir ein im klaffenden Abgrund der Zeit.“

Erst später entdeckte ich auf der Rückseite des Briefes ein Postskriptum, das kaum zu lesen war: „Es ist doch nicht alles so schwarz. Wie auch immer sie mich drehen, mein Hintern wird immer hinten sein.“ Der unübertroffene Steve Stan blieb bis zum letzten Augenblick Steve Stan.

Er starb an einem schwülen Nachmittag im Sommer, im zweiundvierzigsten Lebensjahr. Er wurde auf dem Jüdischen Friedhof von Sombor beigesetzt, hinter dem schmalen Fluss Mostonga, unter der Šikara. Bei der Verabschiedung waren viele Leute da: eine große Zahl an Serben, einige Ungarn und sehr wenige Juden, so viele wie eben nach dem Großen Umsturz übrig geblieben waren. Das Kaddisch las Geza Hamburg, ein Taschnermeister aus Sombor, der einzige Fünfzigjährige, der aus dem Lager zurückgekehrt war, aus der Welt voller Dunkelheit und Nebel. Einer der Anwesenden bemerkte: „Statt eines Totengebets hätte er lieber einen guten Witz.“ Wäre er dabei gewesen, hätte mein Stiefvater gesagt: „Er lebte für den Scherz, er starb an einem Scherz.“ Das hätte ein Epitaph für Steve Stan sein können …

Wenn sie sich an den Rabbi Mosche ben Majmon oder Majmonides erinnern, sagen gelehrte Leute: „Mi Mosche ad Mosche lo kam ke Mosche“ – „Von Mosche zu Mosche gab es keinen Menschen wie den Mosche“. Nach dem Abschied von Onkel Stevan, der mein Verwandter, mein Freund und Lehrer war, notiere ich: Von Stevan zu Stevan gab es keinen Menschen wie den Stevan Lukacs.

DAS NEUE BLAUE HEFT

Wir können weder die Schwere der Sünde eines Menschen bestimmen, noch die Größe seiner Schuld. Ihre Spuren sind unauslöschbar und ihr Einfluss auf das Leben unvorhersehbar und unabsehbar. Wir können über keinen urteilen, wir dürfen keinem verzeihen.  

Archipel Jugoslawien

von Zoran Žmirić
Deutsch von Mascha Dabić

Credits: Carmela Žmirić

Ich sitze bei einem Kaffee mit Liam, der geschickt eine Zigarette rollt, das Papier mit Speichel befeuchtet, den Rauch ausbläst und dann sagt: „Ich habe ein Kapitel aus deinem Roman gelesen. Hervorragend übersetzt. Schreibst du sonst auch immer Horror?“ Galway und Rijeka sind Kulturhauptstädte 2020, und es lief darauf hinaus, dass ich früher oder später einem aktiveren Mitglied der irischen Kunstszene über den Weg laufen würde. Liam ist fingerstyle Gitarrist, Maler und Dichter, und während meines kurzen Aufenthalts in Galway ist er darüber hinaus mein Gastgeber und Stadtführer. Ich habe keine andere Wahl, ich werde hier mein Bestes geben müssen, obwohl ich sehe, dass hier nichts dabei herauskommen wird. Alters- und interessensmäßig stehen wir uns nahe, dennoch steht für mich fest, wir werden einander nicht verstehen, und das liegt weder an meinen bescheidenen Englischkenntnissen noch an Liams starkem gälischen Akzent. „Das ist kein Horror“, sage ich zu Liam. „Das ist die Realität am Balkan.“ In Liams Blick sehe ich Staunen und Traurigkeit, aber hinter dieser oberen Schicht erahne ich ein Strichcode-Lesegerät, mit welchem er versucht, zumindest Spuren von meinem Sarkasmus einzufangen. Er kann jedoch keinen Sarkasmus finden, also presst er hervor, als würde er nur zu sich selbst sprechen: „For fock sake.“ Liams aufrichtiger, zufällig entwischter Kraftausruck gibt mir zu verstehen, dass das Trauma des Balkans sich ins Unendliche perpetuieren wird und dass wir einen Trost dafür niemals außerhalb dieser geschlossenen Gegend finden werden. Er ist sich nicht einmal dessen bewusst, dass er meine These bestätigt, als er selbst sagt: „Ja, ein Kriegstrauma ist etwas Entsetzliches.“ Wir verstehen einander nicht, wir können einander nicht verstehen, und dennoch nehme ich mir vor, ihm die ganze Sache zu erklären. Nicht etwa um seiner selbst willen, sondern aus rein egoistischen Gründen, denn es bringt mir Erleichterung, es noch einmal auszusprechen.

Ich kann mich genau erinnern, wann das Trauma seinen Anfang genommen hat. Keineswegs zu einem Zeitpunkt, den jemand von außen, jemand wie Liam, automatisch annehmen würde. Die Rede ist nicht von dem Trauma, das einem die Kriegserfahrung selbst verpasst. Die Rede ist von dem Trauma, das einem Menschen, der nach dem Krieg versucht, wieder normal zu leben, von seiner eigenen Umgebung beschert wird. Ich erinnere mich allerdings auch an den Moment, als ich in den Krieg gezogen bin. Wir saßen im Klub Palach, tranken Bier und hörten Rockmusik. Im Fernsehen liefen Nachrichten, protestierende Serben hätten in einem psychiatrischen Krankenhaus in Vrlica das Trinkwasser abgedreht. Wir schauten alle gemeinsam fern, und jemand sagte: „Die spinnen ja, die werden erst dann Ruhe geben, wenn sie alles, was sie vorhatten, umgesetzt haben.“ Was genau sie vorhatten, war mir nicht ganz klar, aber ich wusste, jemand musste sich ihnen widersetzen. Jemand, der sich auch sonst gut darauf verstand, sich bei jeder Gelegenheit zu widersetzen, ob passend oder unpassend. Jemand, der sich darauf verstand, sich in eine Schlägerei einzumischen und die Streithähne auseinanderzubringen, ohne zu wissen, wer die Schlägerei vom Zaun gebrochen hatte und warum, jemand der mit seinen Mitschülern stritt, wenn diese Roma-Kinder oder Albaner in der Klasse hänselten. Jemand wie ich.

Das erste Anzeichen für das Trauma war die Frustration. Wir kamen zum Kampfgebiet, wo der Befehlshaber uns wissen ließ, wir sollten die letzte Patrone für uns selbst aufheben. Ich fand das alles urkomisch, geradezu auf der Ebene eines Filmklischees angesiedelt. Dann ging es aber los, es ging um etwas, das ich schon kannte und das keineswegs harmlos war. Man erklärte uns, wir seien da, um die Staatsgrenzen, die Demokratie, die Existenz, den jahrhundertealten Traum und noch einiges mehr zu verteidigen, wobei ich bei einigen der genannten Dinge nicht gerade bewandert war. Der Staat, der ehemalige wie der soeben formierte, war mir ebenso gleichgültig wie mir auch ein dritter Staat egal wäre, sollte uns schon morgen jemand dazu zwingen, in ihm zu leben. Schließlich stamme ich ja aus Rijeka, einer Stadt, die innerhalb von etwas weniger als hundert Jahren neun Staatszugehörigkeiten gewechselt hatte. Begeisterung zu empfinden ob der Erkenntnis, dass du in einem von diesen durch Politiker und ihre Abmachungen etablierten Staaten lebst, ist ein Konzept, das ich beim besten Willen nicht nachvollziehen kann, so leid es mir auch tut. Für mich sind Grenzen nichts anderes als Kurven im Atlas – heute so, und morgen wer weiß wie.

Die Willkommensansprache des Befehlshabers erinnerte mich an meinen Onkel Ivan, der 1942 als Vierzehnjähriger in den Krieg gezogen war. Die italienischen Soldaten zündeten damals Dörfer an, wahllos der Reihe nach, und als sie schon zu dem Dorf meines Onkels herangerückt waren, schnappte sich mein Onkel eine Mistgabel und attackierte die Italiener, gemeinsam mit Gleichaltrigen und etwas Älteren. Nach der erfolgreichen Aktion teilten die Partisanen ihn und die anderen Männer aus seinem Dorf bald in Gruppen ein und führten Disziplin ein, und erklärten ihnen anschließend, ihr Kampf um das nackte Überleben sei in Wirklichkeit vom Ansinnen motiviert gewesen, das bestehende System zum Einsturz zu bringen, und ihr Ziel sei es doch, eine bessere Welt aufzubauen. Mein Onkel wusste nicht einmal, was Klassenkampf und Weltrevolution bedeuteten, er hatte noch nie von Marx und Lenin gehört, und noch weniger vom Sozialismus. Ihn interessierte es nur, die Faschisten wieder dorthin zurückzuschicken, wo sie hergekommen waren, um anschließend wieder zu seiner eigenen Routine zurückkehren zu können. Ich dachte darüber nach, während der Offizier vor uns selbstbewusst mit Phrasen um sich warf und sich auf eine krankhafte Weise an seiner eigenen Rhetorik berauschte, die allerdings spurlos verschwunden war, als ich ihn ein Jahrzehnt später im Fernsehen sah, wie er vor dem Haager Tribunal lauthals schwieg. Zu dem besagten Zeitpunkt jedoch, als ich vor ihm stand, verknüpfte ich meine Erfahrung mit der Erfahrung meines Onkels Ivan, verband die beiden Punkte auf der Zeitachse, fast im selben Raum, und spürte deutlich, dass da etwas nicht stimmen konnte.

Ich hatte nicht für ein Land gekämpft, das ich nicht liebe, sondern ich liebe das Land nicht, für das ich gekämpft hatte.

Mein Eindruck, dass hier etwas nicht stimmen konnte, verstärkte sich noch zusätzlich, als der Nebel sich lichtete. Nach einem Klinikaufenthalt verließ ich ein Jahr lang meine Wohnung nicht. In dieser Zeit kam immer wieder jemand aus meiner Kampfeinheit vorbei und ließ mich wissen, dass ich mir keine Sorgen machen solle, man werde alles dafür tun, um mir eine bessere Rente zu verschaffen. Ich machte mir aber gar keine Sorgen, denn die Rente wollte ich gar nicht haben. Ich wollte nur meine Routine wieder haben, mein Leben. Aber diese Leute dachten, sie würden mir einen Gefallen tun, und sprachen weiter darüber, wie sie zu meiner bestehenden Invalidität noch etwas hinzufügen könnten, wie sie nachträglich festhalten würden, dass ich in einer Militäraktion verwundet wurde, die nach meiner Entlassung aus der Armee stattgefunden hatte, denn sie würden die richtigen Leute kennen, und einen Freund lasse man nicht im Stich. Ich dachte, man müsse mich offenbar sehr schätzen, war man doch bereit zu lügen, nur um mir das Leben nach meiner Rückkehr aus dem Krieg leichter zu machen. Aber je stärker ich mich widersetzte, desto vehementer insistierten sie, und schließlich ging ihr Insistieren in Aggression über. Da endlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Sie taten das nicht für mich, sondern für sich. Eine neue Gruppe von Anspruchsberechtigten hatte sich formiert, und die Anzahl ihrer Mitglieder war ein wichtiger Faktor. Sie verlangten nach Privilegien und Heldenstatus und nach allem anderen, was eben damit einherging. Sobald ich das begriffen hatte, nahm ich für immer Abschied von diesen Leuten, und in ihren Augen war ich nicht länger der langhaarige junge Typ in punkiger Lederjacke, der ums nackte Überleben gekämpft hatte, sondern ich war jemand geworden, der sein Land hasste. Aber die Wahrheit ist eine andere; ich hatte nicht für ein Land gekämpft, das ich nicht liebe, sondern ich liebe das Land nicht, für das ich gekämpft hatte. Diesen Sprung in meinem Denken habe ich ausschließlich den Abweichlern zu verdanken, die den Krieg als eine Start-up-Plattform für ihr eigenes Vorankommen ausnützen wollten; der Clique, die in erster Linie sich selbst und später auch alle um sich herum davon überzeugen konnte, dass sie auf Grund ihrer Kriegsbeteiligung etwas Besonderes sei; dass man noch zu ihren Lebzeiten Denkmäler für sie errichten und ihnen Privilegien gewähren müsse. Unter ihnen bilden jene Leute eine besondere Kaste, die das Chaos ja geradezu herbeigesehnt hatten, die den Ausbruch von Gewalt genossen und sich am Leid der anderen bereichert hatten. Gerade wegen dieser Leute ist es heutzutage für jeden, der im Krieg gekämpft und dennoch seine Menschlichkeit bewahrt hat, eine Schande, überhaupt zu erwähnen, dass er im Krieg gewesen ist. Diese Leute sind für normale Menschen ein größeres Trauma als der Krieg selbst. Jeder, der das nicht versteht, tut mir aufrichtig leid.

Aber diese Leute sind noch gar nicht das Schlimmste, das es in unserem Balkanhorrorbilderbuch zu finden gibt. Das Schlimmste ist, dass sie sich perfekt in unser heutiges System einfügen. In diesem Staat wird Kompetenz nicht geschätzt, stattdessen werden politischer Aktivismus mit nationalem Vorzeichen bevorzugt, und zwar auf sämtlichen Ebenen. Wäre dies nur in der Spitzenpolitik der Fall, dann wäre das wunderbar, denn es würde bedeuten, dass die Pyramide auf den unteren Ebenen gut funktioniert. Aber das Gegenteil ist der Fall. Sämtliche staatlichen Elemente von vitaler Bedeutung so wie auch jene auf unteren Ebenen werden von völlig unfähigen, aber gefälligen Personen geführt. Bei uns werden Vereine und Sportklubs ernsthafter gemanagt als der Staat selbst. Vereine und Klubs verfolgen klar formulierte Ziele, die das Kollektiv erreichen möchte, während die Politiker den Staat wie einen Bankomaten erleben, von dem sie unbegrenzt viel Geld abheben können, während die kleinen Leute sich anstellen und darauf warten, dass einer von den Politikern versehentlich eine Münze fallen lässt. Für sie, für die arbeitsamen und anständigen Leute, gibt es keinen Gewinn an diesem Bankomaten. Außerdem ist die Arroganz der Politiker unverschämt. Jede Handlung, jede Aussage macht den Eindruck einer Verhöhnung der Menschen, als würde man einen Sterbenden zusätzlich noch verprügeln oder sich über Behinderte lustig machen. Ich reagiere schon lange allergisch darauf, wenn man sich über andere lustig macht. In meinen Augen liegen die Dinge ganz einfach: Ich denke, die Mehrheit hat die Pflicht, die Minderheit zu schützen, ganz gleich ob diese Minderheit sich über die nationale, soziale oder sexuelle Orientierung konstituiert. Bei uns aber geschieht genau das Gegenteil, und das ist ein Trauma, das in Kroatien schon viel länger andauert als der Krieg.

Ich konnte zehn Jahre lang nicht schlafen

All das hört sich Liam in einem Pub in Galway an, nickt eifrig dazu und fragt sich wohl, ob ich ihn womöglich als eine Spielfigur missbrauche, um meine eigene Phantasie anzustacheln und einen künftigen Dialog in einem künftigen Roman auszuprobieren, oder ob in Europa, nicht weit weg von seinem eigenen Land, tatsächlich etwas passiert ist und weiterhin passiert, was sich seinem Verstand nicht erschließt.

„Hast du getötet?“, fragt er mich, beißt sich dann aber sogleich auf die Unterlippe und fügt entschuldigend hinzu, dass man ehemaligen Soldaten eine solche Frage nicht stellt, und ich schaue ihn an und denke an meine Freunde, die sich das Leben genommen haben, obwohl sie im Krieg keinen einzigen Schuss abgegeben haben. Ich erzähle ihm davon. Diejenigen, die sich nicht umgebracht haben, nahmen Medikamente mit Alkohol ein und konnten auf diese Weise zumindest eine Zeitlang in einer temporären Comfort-Zone Zuflucht finden, wo sie jedoch bald darauf verwelkten. Ich habe aus nächster Nähe gesehen, wo das hinführt, und habe beschlossen, aus ihren Fehlern zu lernen. Nach dem Krieg habe ich keinen Tropfen Alkohol getrunken, auf der Suche nach einem Weg, mich wieder zu sortieren. Leicht war es nicht, vor allem nachts. Ich konnte zehn Jahre lang nicht schlafen. Und es ist nicht so, dass ich es nicht wollte. Jeden Abend zog ich mir meinen Pyjama an und legte mich mit der entsprechenden Absicht ins Bett, aber dort erhitzte sich mein Hirn, bis zur Sinnlosigkeit. Ich las langweilige Texte und schaute das Nachtprogramm im Fernsehen an, ich tat alles, um mich zu erschöpfen, aber die Erschöpfung allein reichte nicht aus. Etwa zehn Minuten Schlaf pro zwei Stunden war mein Maximum. Dann fing ich an zu schreiben. Geschichten gewöhnlicher Menschen mit gewöhnlichem Leben, nichts Aufregendes, aber mir genügte es, um zur Ruhe zu kommen. Über den Krieg zu schreiben fiel mir nicht einmal im Traum ein. Mit dem Krieg hatte ich schon Schluss gemacht, darüber hatte ich nichts mehr zu sagen. Aber jedes Mal, wenn ich dachte, ich hätte meinen Frieden gefunden, hob ich den Kopf, schaute mich um und sah eine Schlammgrube. Eine moralische, eine geistige und jegliche andere Schlammgrube. Hinter meinem Rücken spielte sich eine verzerrte Wirklichkeit ab. Der Krieg war weiterhin ein Thema, zumeist als eine Rechtfertigung für kriminelle Machenschaften. Um die Sinnlosigkeit der Rückkehr in die Vergangenheit zu begreifen, muss man nur daran denken, dass das Jahr 1990 gleich weit weg vom heutigen Datum ist wie das Jahr 2050 in der Zukunft, und es stellt sich immer mehr heraus, dass dieses Land nicht kreiert wurde, um eine Zukunft zu haben, sondern damit die Zukunft den Dieben und ihren jeweiligen Familien gehören möge. Meine Frustration wuchs an, so lange, bis sie unerträglich wurde, so lange, bis mir klar wurde, es war nun an der Zeit, dass auch ich meine Version über das Kriegsgeschehen erzählte. Erzählte oder niederschrieb.

Schließlich schrieb ich zwei Romane über den Krieg. Oder besser gesagt, gegen ihn. Ich schenkte ihm auch einen Gedichtband, in dem jedes Gedicht mit dem Symbol des dreifachen Kreuzes beginnt, mit dem Gläubige vor der Lesung des Evangeliums gesegnet werden, wenn sie ihre Gedanken, ihre Worte und ihr Herz ins Gleichgewicht bringen wollen. Allerdings verkündet dieses Evangelium nach der Gewehrkugel keine frohen Botschaften, und kein Satz beginnt mit einem Großbuchstaben, denn im Krieg gibt es nichts, dass es wert wäre, vergrößert und glorifiziert zu werden. Haute erkennt man mich als Autor gerade an dieser Kriegsschrift. Auch wenn mein Name jemandem nicht viel sagt, kommt bei der Erwähnung meiner Romantitel meist die Reaktion: „Aha, kenn ich.“ Der Name des Werks hat den Namen des Autors überholt, und das ist es doch, was jeder Autor anstrebt. Naturgemäß ist das so, du bist ein Diener des Worts, du denkst, das Wort ist besser als du selbst, mit Demut näherst du dich dem Wort, und bevor du es niederschreibst, dankst du ihm. Du küsst ihm die Hand und sagst „Danke, dass du mich erwählt hast“. Und dennoch macht mich mein Erfolg nicht froh. Ich wollte das nie. Ja schon, schreiben wollte ich, das Schreiben wird bei mir wie bei so vielen anderen immer irgendwo tief drinnen geschlummert und darauf gewartet haben, von einem Aktivierungscode zum Leben erweckt zu werden. In meinem Fall geht es zurück zur vierten Schulklasse, als ich auf die Frage hin, was ich werden möchte, wenn ich groß bin, notierte: Schriftsteller. Und es ist auch passiert, ich bin ein Schriftsteller geworden, mit Wiedererkennungswert, allerdings durch die Schuld anderer und nicht durch eigenen Verdienst. Man hat es mir aufgedrängt, über den Krieg zu schreiben, weil man sich hierzulande schon seit dreißig Jahren unaufhörlich damit beschäftigt und somit immer wieder die Knochen all jener umgräbt, die ich in meinem Inneren schon längst begraben habe. Dabei würde ich so gerne über anderes schreiben, über Reisen, über die Suche, darüber, wo es die Seele hinzieht. Aber es geht nicht. Immer wenn ich mich daranmache zu schreiben, tauchen sie auf, wie Raubtiere, die sich zum Wasser begeben, sie kommen mit ihren immergleichen knurrenden Mantras – Krieg, Nachkriegszeit, Krise. Sie halten uns Reden aus ihren goldenen Höfen heraus, proklamieren, wie schwer es sei und wie sehr man doch sparen müsse, denn wir hatten ja den Krieg … Als hätten sie sich bewusst dafür entschieden, mich so zu quälen. Die Militärjunta in Südamerika wandte ähnliche Methoden an. Den Gefangenen wurde monatelang täglich die gleiche politische Rede vorgespielt. Die Gefangenen schlugen schließlich mit dem Kopf gegen die Wand oder bissen sich in die Handgelenke, um die Folter zu stoppen. Ich habe den Eindruck, dass die heutigen Politiker die normal gebliebene Minderheit auf diese Weise einer Folter unterziehen. Sie hören nicht auf, über den Krieg zu sprechen, und ich, nachdem ich ihnen Jahre und Jahre lang zugehört habe, treffe die Entscheidung, anstatt meinen Kopf gegen die Wand zu schlagen, zur Feder zu greifen. Anstatt mir selbst die Adern durchzubeißen, verpasse ich mir einen Schlag in den Solarplexus, gehe in mich, und wenn ich dann soweit bin, dass mir dort vor mir selbst übel wird, komme ich an meiner eigenen Kehle wieder heraus. Aber diesmal, anstatt vom Balkon hinunterzuschauen und mich zu fragen, ob es hoch genug ist, wie ich es schon zwei Mal getan habe, beschließe ich, Papier und Bleistift zu suchen, um anschließend meine Eingeweide aufs Papier zu kippen. Ich schreibe nicht über den Krieg, weil ich es will, sondern weil ich einfach keine andere Wahl habe, und wenn ich schon dabei bin, dann tu ich es ohne Bremse.

Ich verstehe und ich akzeptiere, dass vielen Menschen in ihrem Leben nichts Aufregenderes zugestoßen ist als der Krieg. Vor diesen Menschen ist es mir geradezu peinlich, es zuzugeben, aber auf mich trifft das nun einmal nicht zu. Sie, die immerzu wartet, hat „Ja“ gesagt. Nichts anderes lässt sich damit vergleichen. Niemand konnte jemals so warten wie sie. Sie hat auf meine Rückkehr aus der Jugoslawischen Volksarmee JNA gewartet. Dann hat sie auf meine Rückkehr aus dem Krieg gewartet. Dann hat sie auf meine Rückkehr aus der Klinik gewartet. Sie hat darauf gewartet, dass ich meine Rehabilitation abschließe. Dann darauf, dass ich wieder zu mir kam und wieder der gleiche Mann wurde, bei dessen Anblick ihr, wie sie sagt, bei einer Party die Knie weich geworden wären. Auf das Letztere hat sie zwar gewartet, sie hat es jedoch nicht bekommen. Dieser Mann ist irgendwo hängen geblieben, in der späten Pubertät, irgendwo gegen Ende eines Sommers, der ewig dauern sollte. An seiner Stelle ist ein anderer zurückgekommen, und anstelle des endlosen Sommers, der uns nicht beschieden war, dauert das hier nun ewig an. Aber … möge es andauern. Ich fühle mich trotzdem siegreich. Ganz oben auf meiner Prioritätenliste stehen weiterhin Wahrheit, Friede, Gewaltlosigkeit und Gerechtigkeit. Dass ich mich hier, wo ich lebe, vom kollektiven Primitivismus überwältigt fühle, ist kein guter Grund zum Jammern. Das sage ich allerdings nicht zu Liam, denn manche Gedanken sollte man besser für sich behalten. Ich weiß ohnehin, was er sagen würde, aber ich bin nicht sicher, ob ich ein weiteres Mal aushalten könnte, es zu hören: „For fock sake.“

Archipel Jugoslawien 1991-2021

von Xhevdet Bajraj
Deutsch von Anila Wilms

Credits: Edgar García Marquéz

Die ersten Noten des Beerdigungs-Blues für Jugoslawien erklangen ein Jahr nach Titos Ableben. Zehn Jahre lang spielte diese Musik, ehe der Totentanz der jugoslawischen Auflösung begann, der ebenfalls knapp zehn Jahre dauerte.

Jugoslawien stellte ein sozialistisches System mit “menschlichem Antlitz” dar – zu einem solchen wurde es zumindest von den Ideologen der Zeit verklärt. Ob dieses Antlitz schön oder hässlich war, bleibe dahingestellt; doch kennt die Geschichte keinen (ex-)sozialistischen Staat, in dem es sich besser leben ließe. Ich habe nach wie vor Mühe zu begreifen, wie es sich die Südslawen erlauben konnten, diesen Staat zu zerstören. Zumal angesichts der Angebote zur Angliederung an den Westen, die er erhielt. Es war nicht das erste Mal, dass das sozialistische Jugoslawien so deutlich Nein sagte; davor hatte es der Sowjetunion schon eine Abfuhr erteilt.

Die Jugoslawen hätten wissen müssen, dass Geopolitik tötet. Der Machtkampf ist zerstörerisch, noch viel mehr als die spätere Machtausübung. Doch diese Macht brauchen die Hauptakteure in den neu entstandenen Staaten, denn sie beschert ihnen einen Sessel, einen Thron, der sie vor der Verfolgung der Verbrechen schützt, die sie im Krieg begangen haben und auch danach begehen werden.

Ich hörte die Nachrichten aus den Kriegen in Slowenien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina und versuchte die Hölle zu erahnen, die sich mit sicherem Schritt auf Kosova zubewegte. Die Hölle kam wirklich und überstieg bei Weitem meine Vorstellungskraft. Jemand eröffnete die Jagdsaison gegen ein ganzes Volk und nannte es Krieg.

Es ist erwiesen, dass der Evolutionsweg eines balkanischen Menschen vom Affen direkt zum Politiker führt. In besonderen Fällen zu einem nationalen Anführer. In den meisten Fällen zu einem Historiker oder Akademiker. Also sind alle Balkanvölker sehr stolz auf ihre Geschichte, wie denn auch sonst, lässt sie sich doch nach Belieben schreiben, das Word-Programm haben alle in ihren Computern installiert. So kommt es, dass in ein und demselben Staat verschiedene Versionen der Geschichte gelehrt werden, je nach ethnischer Zugehörigkeit der Schüler. Die Geschichte wird zu einem Sammellager für Lügen. Und dann kommt ein junger Mann aus England namens Noel Malcolm und schreibt für jede dieser Nationen eine Kurzgeschichte, der die einheimischen Historiker nichts entgegenzusetzen haben. Er könnte auch aus der Schweiz sein und sich Oliver Jens Schmitt nennen. Aber auf dem Balkan vermischen sich Ignoranz und Einzelinteressen und beides zusammen führt zur Verringerung des Unterschieds zwischen Mensch und Esel. Die Ignoranz scheint sich mitten im blutigen Balkantheater bester Gesundheit zu erfreuen und wird uns noch eine ganze Weile treu zur Seite stehen.

Der Krieg. Ich habe die Schlachten und die Epen miterlebt, mir hat das Kalaschnikow-Rohr ins Gesicht gesehen und mich hat der Milizen-Stiefel am Leib getroffen. Ich kenne die okkupierte und die befreite Zone, ich wurde festgenommen, vertrieben und meine Identitätskarte los … Ich habe Helden gesehen, die sich in quengelnde Kinder verwandelten, und Kinder in Helden. Kämpfe, Ruinen und Himmel voller Krähen – davon hatte ich zur Genüge. Ich bin es satt, mich von meiner Frau und zwei Kindern zu verabschieden, oft genug „für immer“. Der Krieg verfolgt mich auch hier in Mexiko, seit einundzwanzig Jahren lässt er mich nicht los. Deshalb werde ich kein Wort mehr darüber verlieren.

Der Fluss der Erinnerung drängt die Überlebenden eines Krieges an den Rand des Abgrunds; dieser ist fühlbar, sichtbar, tastbar. Manche laufen darüber und schaffen es sogar auf die andere Uferseite – und doch bleiben sie für immer gebrochen. Der Wurm der Erinnerung nagt an der menschlichen Seele und der Tod wird zum Vertrauten. Die Erinnerung ist das Metier eines Poeten und der Poet hat nicht den Luxus, seinen Blick von dort abzuwenden. Der Poet wurde auch nicht in den Abgrund gestoßen – er befand sich schon darin. Seit Jahrhunderten sitzt er dort, weil die Geschichte in jeder Generation ihre Zyklen wiederholt. Seine Zähne werden taub von den sauren Früchten der Kriegserinnerung, die es in seiner Seele niemals zu süßer Reife bringen. Es bleibt ihm nichts übrig, als in den Weiten der Sehnsucht und der bezwungenen Freiheit zu wandern. Das Leben kann so furchterregend sein, ein Poem endloser Traurigkeit.

Ich kam nach Mexiko mit einem Stipendium des Internationalen Schriftsteller-Parlaments mit Sitz in Paris. Ich trug eine Reisetasche und eine Plastiktüte, meine Frau ihre Reisetasche und die Kinder gar nichts. Das Wetter, das Essen, die Farben der Häuser, die tropischen Pflanzen und vor allem die Ruhe machten mir zu schaffen; ich musste mich daran gewöhnen, dass mich niemand verfolgte, niemand würde meine Tür eintreten und mich töten kommen. Oft schreckte ich nachts auf, schaute nach meiner Frau und den Kindern in ihren Zimmern, beobachtete sie eine ganze Weile und fragte mich, ob sie uns schon getötet hatten und wir uns im Elysium befanden. Allein die mir unverständliche spanische Sprache in Mexiko City deutete darauf hin, dass ich noch lebte, denn es war mir nicht bekannt, dass man im Paradies Spanisch spricht. Bald fand ich meine bevorzugte Zigarettenmarke, meinen Tequila und mein Bier. Zwei Monate lang schrieb ich keine einzige Zeile. Dann ging es los und ich hörte nicht mehr auf, bis El tamaño del dolor (Das Ausmaß des Schmerzes) entstanden war.

Seit zwanzig Jahren tötet Mexiko mich mit seiner Schönheit. Seit zwanzig Jahren sehne ich mich nach Kosova und genauso lange tötet mich die dortige Wirklichkeit. Jedes Mal gehe ich als Kind hin und komme gealtert zurück.

Das südslawische Wort für Leben lautet život. Davon leitet sich životinja ab, das Wort für Tier/Bestie. Aber auch das Wort životariti, das „schlecht leben“ bedeutet. Das letztere wird gesteigert zu životinjariti, und das bedeutet „noch schlechter, wie ein Tier, leben“. So pendelt das Wort život zwischen zwei Enden und verkürzt deren Abstand zueinander. Irgendwo da oben sitzt Gott, oder – frei nach Spinoza und Nikos Kazantzakis – er ist überall um uns herum. Gott in die Augen zu sehen, demütig, und zu begreifen, dass auch Er (oder er) ein Sünder ist, oder verschlafen kann, oder krank sein kann, bedeutet, einen ungeeigneten Tag zum Menschlich-Sein erwischt zu haben. Homo sum, humani nihil a me alienum puto (Ich bin ein Mensch, nichts Menschliches, glaube ich, ist mir fremd), sagt Terenz, der Demütige. Spinoza würde das so umschreiben: Ich bin ein/e Tier/Bestie, nichts Tierisches/Bestialisches, glaube ich, ist mir fremd. Welch erbarmungslose Kritik gegen die Kapitulation der Menschlichkeit!

Zum Gedächtnis meiner Generation und einiger Generationen vor mir gehört der Name Marigo. Dies ist laut Überlieferung das Mädchen, das die Flagge bestickt hat, welche Ismail Qemali bei der Ausrufung der nationalen Unabhängigkeit in Vlora am 28. November 1912 hissen ließ. Nach dem Kosovakrieg griff die neue politische und „intellektuelle“ Elite auf diesen Namen zurück und nannte ihr Eliteviertel Marigona. Wenn Verbrecher Scherze machen, lachen die Menschen aus Schmerz; besser, sie schicken ihren Schmerzgrimassen ein donnerndes Lachen hinterher, manchmal mit Tränen, sie lachen und weinen wie die Verrückten, wie die Elenden.

Die Menschen verlassen Kosova jeden Tag, so wie auch Serbien, Bosnien-Herzegowina, Nordmazedonien, Montenegro. Mittlerweile gibt es ganze Viertel mit neuen Häusern ohne Menschen darin. Die Landbevölkerung schwindet, die nichtbestellten Ackerfelder lachen, weinen und stöhnen. Befreiungskriege wie Revolutionen fressen ihre eigenen Kinder. Doch manche von diesen sind dem Tod entkommen und kehren nun zurück, um die Früchte des Krieges zu fressen. Es sind meistens die Kinder der Besiegten aus früheren Wendemomenten der Geschichte: Balli, Tschetniks, Ustascha, Kommunisten. Oder die Religion, die gerade einen fulminanten Wiedereinzug in die neuen, offiziell laizistischen Staaten hält, mit politischen Minaretten und Kirchtürmen, die wie Pilze aus dem Boden schießen. Paradoxerweise scheinen sich die Menschen umso mehr von Gott zu entfernen, je näher die Kirchen und Moscheen an sie heranrücken.

Wie wäre es mal mit einem bürgerlichen Wertesystem, wo Bildung, Gesundheitswesen und Kultur die wichtigste Rolle spielen? Doch die jüngere Geschichte hat uns gezeigt, dass es in der Natur mancher Tiere liegt, menschliche Schlachtfelder aufzusuchen, um sich von den Kadavern zu ernähren. Die Geschichte beweist uns, dass das Ende eines Krieges den Anfang der Korruption markiert. Einige wenige zerstören alte Mythen, nur um auf deren Ruinen neue Mythen zu ihrer eigenen Beweihräucherung zu gründen. Die Menschen, die das Land verlassen, sollen mit Denkmälern für die Gefallenen und Märtyrer getröstet werden, bei deren Bau die Korrupten Gelder unterschlagen haben. Während der Planet mit der Klimakrise konfrontiert wird, spielen sie Helden, schießen mit Waffen in die Decke und stopfen sich voll, solange sie mit am gedeckten Tisch sitzen dürfen. Ohne zu merken, dass sie die schnellste Einbahnstraße in den Untergang genommen haben.

Die einstige serbische Politik hielt in der Hand den Schlüssel zu einer Tür, die nicht existierte. Eine ganze Region mit mehreren Völkern wurde zu ihrer Geisel und alle zusammen versuchten sie dann mit dem Kopf durch die Wand zu gehen, wobei alle schwer bluten mussten. Der heutige Präsident Serbiens hat wieder eine Tür auf dieselbe Wand gezeichnet und hält sie für real. Das Schlimme ist, dass er wieder zwei bis drei Völker auf diesen Weg mitzunehmen versucht. Selbst wenn er es durch diese Wand schaffen würde, sein Ziel liegt nicht vorne, in einer besseren Zukunft, sondern zurück in der Vergangenheit. Nun, die Zeit ist ein wichtiger Faktor – das Leben selbst besteht aus Zeit –, und wenn sie vergeht, ist sie unwiederbringlich weg. Sollte es irgendwann doch in der Region besser werden, so werden die meisten von uns das nicht mehr erleben. Jemand sagte einmal, „wäre ich blind, befände ich mich in meiner eigenen Dunkelheit; da ich es aber nicht bin, bin ich dazu verdammt, in der Dunkelheit der anderen zu leben“. Wir leben gerade in der Dunkelheit der Mächtigen, die uns weismachen wollen, dass wir uns von der Freiheit ernähren sollen, die auf eine imaginierte Brotscheibe geschmiert wird.

Eine ganze Reihe von Staaten, die infolge des Zerfalls Jugoslawiens entstanden sind, haben sich noch nicht vom tribalen Nationalismus befreit. Dort lebt man noch in einer voraufklärerischen Zeit, in der wichtige bis sehr wichtige Primitive den Ton angeben.

Nikos Kazantzakis sagte einst: „Was für eine eigenartige Maschine der Mensch doch ist! Du füllst ihn mit Brot, Wein, Fisch und Radieschen und es kommen Seufzer, Lachen und Träume heraus.” Manchmal nimmt dieser Mensch eine Kalaschnikow und schießt auf andere, oder er nimmt ein Messer und köpft einen anderen. Dieser Umstand macht aus dem Leben einen erkalteten Kaffee, den der Einzelne ganz alleine trinkt, bestenfalls in digitaler Gesellschaft. Und doch träumt er weiter von Rache. Die Dunkelheit, die schon länger in dieser Ecke der Welt herrscht, macht die Menschen stumm; sie schweigen schändlich für ein bisschen Frieden, für drei- bis vierhundert Euro im Monat. Den einzigen, jedoch fundamentalen Unterschied macht die Frage, wer sie waren, bevor sie der Dunkelheit anheimfielen. 

Nachdem wir uns gehasst haben, nachdem wir weiterhin einander hassen, kamen Leute aus aller Welt zu uns, um uns wie wilde Tiere zu domestizieren, um uns beizubringen, wie wir zusammenleben sollten – uns, die wir so viele Jahrzehnte zusammen oder nebeneinander gelebt haben.

Im Kosovakrieg gab es ca. 1300 Kinder, Frauen, alte Leute, die sich anscheinend „selbstgetötet“ haben. Ihre Gräber findet man nicht – offenbar haben sie sich selbst mehrmals umbegraben bzw. sind auf geheimnisvollen Wegen nach Serbien gelangt und haben sich dort so genial versteckt, dass sie niemand mehr finden kann. Andere waren dann doch nicht so erfolgreich und wurden doch gefunden, in Massengräbern im serbischen Batajnica oder im Perućac-See. Offenbar war das böse Absicht, um dem heutigen serbischen Anführer die Suppe zu versalzen. Dieser arbeitete einst für einen Schurken, der ganzen Völkern damit drohte, sie mit einem verrosteten Löffel abzustechen. Dann arbeitete er als Sprecher von Slobodan Milošević, dann als Ministerpräsident und dann als Staatschef. Immer in Begleitung seines gleichaltrigen Kumpanen, eines ehemaligen Kriegskameraden, der für das musikalische Entertainment der seltenen Staatsbesucher zuständig ist, die sich dorthin verirren – Spitzname Koffer oder Žitorađa. Koffer, weil er einmal mit einem Koffer voll Schmiergelder erwischt wurde. In seinen Fernsehshows, zwischen den Liedern, droht er den Serben, sollten sie der Welt zeigen, wo sich die Gräber der Albaner in Serbien befinden, oder die Kriegsverbrecher verraten. So tötet Herr Koffer die Opfer nach einundzwanzig Jahren noch einmal, um sich deren Tod ganz sicher zu sein.

Dieser war kein Überlebenskrieg, sondern ein Expansionskrieg, in dem einige mit unerhörtem Fleiß das geeignete Klima für die Tötung von Frauen, Kindern und alten Menschen schufen, für Vergewaltigung, Folter, Plünderung von Geld, Gold, Autos, Fernsehern, Kühlschränken und Waschmaschinen. So ist das Leben – ein lebendiges Buch des Todes, das niemals aus der Tagesordnung verschwindet. Die Schockwellen, die es in der menschlichen Psyche verursacht, schaffen es nicht, diese aus der Lethargie der Ignoranz zu wecken. Darauf sind die Menschen trainiert: nicht zu hören, nicht zu sehen, nicht zu fühlen. Und doch entlässt sie das nicht aus der Verantwortung, erst recht nicht jene, die aktiv zu diesen Verhältnissen beigetragen haben. Und die übrigen? Die übrigen sind gezwungen, den nächsten Schritt unter dem Druck der Angst zu planen. Den Schritt, der sie aus dieser Wirklichkeit herausführen soll.

In Kosova, dem einzigen Staat in Europa, dessen Bürger noch ein Einreisevisum für die EU brauchen, träumt die Jugend davon, das Land zu verlassen, weil sie nicht mehr daran glaubt, diese Wirklichkeit ändern zu können. In einundzwanzig Jahren haben unsere Politiker es geschafft, das Bildungs- und Gesundheitswesen, die Kunst und die Kultur zu ruinieren, um darauf neue Denkmäler zu bauen und Straßennamen zu ändern, um Fabriken und öffentliche Grundstücke zu privatisieren, die für 100 bis 375 Euro pro Hektar zu haben waren – natürlich nur für sich selbst. Man kann einen Toten frisieren und schminken und schöner machen, aber nicht lebendiger.

Die Geschichte lehrt uns, dass in den meisten Fällen auf Diktatoren die Verbrecher folgen. In einem Klima der Gewalt können nur Menschen ohne Moral und Skrupel gedeihen. Ernesto Sabato schrieb einmal, dass wir in einer Zeit leben, in der die Zukunft schon zerstört zu sein scheint, in einer kranken Zeit, in der wir uns schämen sollten, wegen der Welt, die wir den nächsten Generationen hinterlassen, in einer Zeit, in der wir unsere Kinder um Verzeihung bitten sollten, sie auf diese Welt gebracht zu haben.

Für das meiste, was im Leben passiert, hat man sich nicht selbst entschieden. Wir erwarten den nächsten Tag, und doch habe ich in Mexiko gelernt, dass der nächste Tag niemals kommt. Das Morgige wird so genannt, weil es niemals da ist. Das Morgige kann nur der Tod sein. In Mexiko habe ich gelernt, das Leben neu zu starten. Es gibt Verluste, die niemals ausgeglichen oder korrigiert werden können.

Brüderlichkeit und Einigkeit

von Rumena Bužarovska
Deutsch von Michael Ebmeyer

Boro Rudić

Zu meinen schönsten Erinnerungen an das Jugoslawien der mittleren 80er-Jahre zählen die langen Sommer. Den ganzen Juli und August über war Skopje, die Hauptstadt Mazedoniens (heute Nordmazedoniens), eine menschenleere, verträumte Landschaft, zu der die Grillen den Soundtrack beisteuerten. Mein Bruder und ich verbrachten die Schulferien in Mavrovo, in einem Haus, das mein Großvater zusammen mit einem befreundeten Partisanen aus dem griechischen Bürgerkrieg gebaut hatte – mein Großvater war griechischer, sein Freund mazedonischer Herkunft. In der Gegend standen lauter Sommerhäuser, bewohnt von Ruheständlern, die ihre Enkelkinder zu Besuch hatten. Während die Großeltern Backgammon spielten, im Garten werkelten, kochten und buken, während sie Rakija und Ouzo nippten und nach den reichhaltigen Mahlzeiten ein Nickerchen machten, trieben sich die Kinder in den staubigen Straßen herum oder im umgebenden Wald und Dickicht; die Jungs spielten Verstecken oder »Partisanen und Deutsche«, die Mädchen dachten sich Prinzessinnengeschichten aus.

Ich erinnere mich, wie ich einmal mit zwei anderen Mädchen spielte und mit einer von ihnen, Viki war ihr Name, in Streit geriet. Sie versuchte mich vor Beti, der anderen, schlechtzumachen. Mit zusammengekniffenen Augen sagte sie zu ihr: »Du spielst mit einem Griechenkind.«

Ich weiß noch genau, wie mich Vikis Worte verblüfften. Rasch, aber nervös nahm ich die Haltung der herablassenden Besserwisserin ein und blaffte, dass wir doch in einem Land lebten, in dem die Regel »Brüderlichkeit und Einigkeit« gelte.

Als ich dann aufgebracht nach Hause kam und meiner Familie von dem Vorfall berichtete, schlug mir lautes Gelächter entgegen. »Brüderlichkeit und Einigkeit!«, wiederholten sie, als wollten sie sich über mich lustig machen. Ich muss dagegen protestiert haben und sichtlich wütend geworden sein, denn mein Großvater lächelte mich mit seinen Goldzähnen an und sagte mir, sie würden zwar lachen, aber nicht über mich, und eigentlich hätte ich ja recht.

Das überzeugte mich nicht. Ich begann über den Slogan nachzugrübeln, den Schule und Medien mir ins Gehirn gestanzt hatten: »Brüderlichkeit und Einigkeit«, bratstvo i edinstvo. Je öfter ich die Phrase wiederholte, desto mehr schien mir, sie müsse eine verborgene Bedeutung haben; eine Bedeutung, die den Erwachsenen klar war, die sie aber, weshalb auch immer, vor mir geheim hielten.

Ebenso verwirrt war ich, als eine Gruppe von Jungen, angeführt von meinem 10-jährigen Nachbarn, den Türgriff eines anderen Hauses in der Nähe mit Kuhmist beschmierte, weil dort Albaner lebten. Und noch verwirrter, als die Jungen dann nicht mehr mit mir reden wollten, weil ich meinen Eltern von dem Mist an der Tür erzählt hatte. Weder wusste ich, was ich falsch gemacht, noch warum die Jungs unseren Nachbarn das angetan hatten. Ich hatte die albanische Familie in dem Hexenhäuschen am Waldrand nie zu Gesicht bekommen. Sie gingen allen aus dem Weg, hüllten sich in Dunkelheit.

Mit diesen Sommern, angefüllt mit einem magischen Gefühl von Rätsel und Spannung, mit schallendem Gelächter und wispernden Gesprächen, war es vorbei, als wir das Land verließen, das zugleich mit meiner Kindheit verschwand. Meine Eltern zogen mit uns nach Arizona, wo sich mein Körper zu verändern begann, und sie sagten mir, die Leute würden mich nicht mehr für ein Kind halten. Mein Körper veränderte sich inmitten dieser Wirrnis, in einem fremden Land, so anders als unseres, mit dem Tod meines Großvaters und mit dem Krieg beim Zusammenbruch Jugoslawiens.

Meine Mutter stand vor dem Fernseher: Krieg, sagte sie zu mir, das ist Krieg.

Auf den Bildern waren Frauen mit Kopftuch zu sehen, schmutzige Kinder und dürre, humpelnde Greise in einer Karawane von Leiterwagen. Die Augen meiner Mutter waren voller Tränen, ihr Mund stand offen. Ich begriff, da ging etwas Furchtbares vor sich, und aus den beklommenen Gesprächen meiner Eltern und ihrer Immigranten-Freunde schloss ich, dass wir möglicherweise nie wieder zurückkehren würden. Das Land, in dem ich geboren wurde, gab es nicht mehr. Der Krieg – etwas, das in Schulbüchern existierte und das mein Großvater zu beenden geholfen hatte – war zurück und geschah in meiner Heimat, im Land von Brüderlichkeit und Einigkeit.

Doch wir kehrten zurück. Und vieles war anders geworden. Keine Tito-Bilder mehr, die uns mitten im Klassenraum anstarrten. Ich vermisste diesen Anblick nicht, auch wenn er mir als Kind Halt gegeben hatte: Jemand, der tapfer und freundlich war, sah mir dabei zu, wie ich gut mitarbeitete. Inzwischen aber wurde ich zur Frau und brauchte nicht noch einen Mann mehr, der mich kritisch beäugte. Ich vermisste nicht die Sirenen, die an den Tag seines Todes erinnerten, und nicht die gruselige Erstarrung, die sie auslösten. Auf einmal fühlte es sich nicht mehr so schrecklich an, dass ich im Jahr nach Titos Tod geboren war. Es war kein so großer Verlust mehr, dass mein Leben sich mit seinem nicht überschnitten hatte, und es war mir peinlich, mich daran zu erinnern, wie ich auf dem Bett meiner Eltern gesessen, ein Tito-Bild in einem Schulbuch fixiert und mich anstrengt hatte zu weinen, bis es mir gelang, eine einzelne Träne hervorzupressen.

Vieles war anders geworden. Wir freuten uns, weniger Unterricht zu haben, weil die Serbokroatisch-Stunden wegfielen. Nur eine Klasse pro Jahrgang – sehr zum Ärger meiner Mitschüler war es unsere – lernte außer Englisch noch eine weitere Fremdsprache, nämlich Russisch.

Einer Sache jedoch fühlten wir uns beraubt. Als Schulanfänger hatten wir alle rote Tücher und blaue Mützen bekommen und unter einer roten Flagge »Titos Pioniere« gesungen. Da kamen wir uns als Teil von etwas Großem vor. In der siebten Klasse dann, am 25. Mai – Titos (nicht wirklichem) Geburtstag und Tag der Jugend –, sollten wir »Titos Jugend« werden und eine Busreise durch ganz Jugoslawien antreten.

Nun aber sollten wir keine Jugend mehr werden, es schien, als sei unser Übergang ins Erwachsenenalter offiziell abgesagt. Besonders bitter waren die Neuigkeiten zur Busreise: Sie führte nun bloß an Orte, die ich schon kannte, in einem Land, das man in jeder Richtung in zwei Stunden durchquert hat. Ich würde nicht die Adria sehen. Nicht die Stalaktiten, Stalagmiten und Grottenolme in der Postojna-Höhle. Nicht den Ort, wo sich Donau und Save vereinen. Es schnürte mir die Kehle zu.

In gewisser Weise vermisste ich jahrelang nichts Jugoslawisches, außer dem geografischen Raum. Mazedonien schien außen vor – zu weit südlich, so wie Slowenien zu weit nördlich lag. Wir waren immer unwichtig, galten mit unserer exotischen Variante einer slawischen Sprache, die nur ansatzweise erforscht ist, als leichtlebige Tanzmusik-Fans, die am liebsten am Ufer eines hübschen Sees Tomaten und Paprika in sich hinein futterten.

Um diesem Klischee entgegenzuwirken, begannen die Mazedonier, ihre »chs« und »dzhs« extra hart auszusprechen, überall mit ihrem Serbisch aufzutrumpfen und dauernd beiläufig Filme oder Songs aus dem Jugoslawien der 80er-Jahre zu erwähnen. Für uns, die wir in den 80ern geboren waren, keine Verwandtschaft außerhalb Mazedoniens hatten, Albaner waren oder Griechen, wie die Hälfte meiner Familie, gab es unentwegt herablassende Blicke, weil wir nicht perfekt Serbisch sprachen und nicht genug jugoslawische Referenzen parat hatten. »Kenne ich nicht« zu sagen, ist hart genug, aber dann jedes Mal zu hören zu bekommen: »Echt? Nicht dein Ernst?!«, ist noch viel härter. Nicht nur waren wir kleiner, nun, da wir nicht mehr zu Jugoslawien gehörten: Wir zählten auch weniger unter unseresgleichen.

Ebendiese Jahrgänge mit jugoslawischem Minderwertigkeitskomplex brachten uns bei, zu glauben, dass unser Land völlig unbedeutend sei, dass wir selbst völlig unbedeutend seien, dass früher alles besser gewesen sei und alles nur noch schlechter würde – bis wir dachten, wir müssen machen, dass wir hier rauskommen und uns dieser Umbewertung unserer Vergangenheit entziehen, von der ein Viertel unserer Bevölkerung ausgeschlossen wurde, diejenigen, deren Türen wir mit Kuhmist beschmierten. Die Nostalgie wuchs und wächst weiter wie ein Pilz im Ohr, überwuchert jegliche Fähigkeit, auf die Zukunft zu hören und Verantwortung zu übernehmen. Sie ist die unbewusste Rache einer Generation, deren süße Strandjugend im Gemetzel endete und in die Isolation führte.

Ich kann die Frustration und das Gefühl der Machtlosigkeit verstehen. Auf einer Strecke von 900 Kilometern mehrere Ländergrenzen passieren zu müssen, ist ebenso lächerlich, wie diese Grenzen zu ziehen zwischen gemeinsamen Sprachen und Kulturen. Klein und eingepfercht zu sein, fühlt sich beklemmend an, klaustrophobisch, es lähmt jede Entwicklung.

Und doch sind es in meiner Generation die Künstlerinnen, Aktivisten und Kulturschaffenden, denen es gelungen ist, diese Grenzen zu überwinden, indem sie zusammenarbeiten in einem gemeinsamen Raum, den wir nun das ehemalige Jugoslawien oder »die Region« nennen. Paradoxerweise existiert für mich diese »Region« oder dieses Jugoslawien heute mehr denn je. Durch dieses neue Zugehörigkeitsgefühl lerne ich ein altes Land kennen, das ich nie wirklich selbst erlebt habe. Und ich fühle eine Identität und eine Zärtlichkeit für diesen gemeinsamen Raum, einen Raum, der nun die Schwesterlichkeit ebenso umfasst wie die Brüderlichkeit und in dem eine echte Einigkeit möglich ist.

Ich gebe zu, ich bin nach wie vor Außenseiterin. Die Kulturen, die nicht Serbisch/Bosnisch/Kroatisch/Montenegrinisch als Sprache haben, haben nie zum Gesamtbild gezählt. Um dazuzugehören, muss man wissen, wie man zu sprechen hat, und mit der Sprache kommen die Anspielungen, die Geschichte und die lokalen Zungenschläge, die uns die ganze Schönheit des Wissens eröffnen. Fürs Erste fühle ich mich als glückliche Halb-Fremde, die froh ist, mitmachen zu können.

Das leichte Leben

von Blerina Rogova Gaxha
Deutsch von Anila Wilms

Credits: privat

Mein Vater ist kein besonders geselliger Mensch. Gespräch ist seine Sache nicht. Selten redet er, und wenn, dann nur kurz. An jenem Septembertag 1990 machte er den Mund gar nicht erst auf. Er kam von der Arbeit nach Hause und zog sich schweigend in sein Zimmer zurück.

Es ist für Nahestehende nicht immer leicht zu erkennen, wenn jemand einen Absturz erleidet. Aber bei verschwiegenen Menschen, wie meinem Vater, erst recht. Als Maschinenbauer leitete er zu jener Zeit die Energieabteilung in der Fabrik Metaliku bei Gjakova – eine Stadt im Südwesten von Kosova, nahe der albanischen Grenze. Meine Mutter arbeitete in einer Textilfabrik, ebenfalls in Gjakova. Beide wurden in jenem Herbst entlassen, weil sie, wie tausende andere, sich weigerten, eine Treueerklärung an Serbien zu unterschreiben.

Meine Eltern wurden geboren, als das Experiment Jugoslawien seinen Lauf nahm. Ich wurde geboren, als dieses Experiment vor dem Scheitern stand. Alle drei waren wir Zeitzeugen jenes „bolji život”, wie die Jugoslawen es nannten. Das sozialistische Jugoslawien – ein gemeinsames Projekt mehrerer Balkanvölker – sollte diesen für viele Jahrzehnte ein gutes, ein „leichtes Leben“ bescheren. Eine Ausnahme bildeten darin die kleineren Ethnien wie die Albaner. Trotzdem haben wir drei ein wenig von der jugoslawischen Idylle kosten können. Meine Eltern waren von dem berühmten jugoslawischen Slogan beseelt, von Titos Motto, wonach „der Frieden hundert Jahre dauern wird“. Am anderen Ende stand meine Generation, mit dem ständigen Gefühl, dass „der Krieg jederzeit ausbrechen kann“. Und das tat er wirklich, jederzeit, und jedes Mal in neuem Gewand.

„Bolji život” war nie für die Kosovoalbaner gedacht. Die neunziger Jahre sollten dann gänzlich die Slogans von Brüderlichkeit und gemeinsamem Friedensprojekt hinwegfegen. Es folgte die offene Feindschaft, und die ehemalige brüderliche Gemeinsamkeit verkam zur fernen Erinnerung. Diese begleitet uns seltsamerweise bis heute, als Denkmal der “Brüderlichkeit-Einigkeit” im Herzen der kosovarischen Hauptstadt, wenn auch in anderer Bedeutung – des einen Glorie steht heute für des anderen Schande. Mein neunjähriger Sohn dagegen findet es einfach nur hässlich und bizarr. Noch befremdlicher findet mein Kind den früheren Namen des Sportpalastes: Boro-Ramiz. Ich erzähle ihm die Mär von den zwei Partisanen, Helden Jugoslawiens, der eine Serbe, der andere Albaner. Und von deren Brüderlichkeit, die als Symbol für die Einigkeit beider Völker stand. Er schlägt die Hände über dem Kopf zusammen.

Die sakral anmutende, dinosaurierhafte kommunistische Architektur verschmilzt mit dem profanen Alltag der Bewohner und Passanten, was die Jüngeren, wie mein Kind, äußerst kurios finden. Diese steinernen Zeugen des Mythos der Brüderlichkeit bleiben erstaunlich wirkmächtig. Vielleicht weil der Tod des Mythos eine Zeit der Gewalt und Katastrophen nach sich zog, mit seinem letzten Atemzug als einem mächtigen, langsamen Sog in den Abgrund.

Ein Sturz in den Abgrund war auch jener Septembertag im Jahr 1990, als die Lebensläufe meiner Eltern wie ein Kartenhaus in sich zusammenfielen. Meine Mutter spricht ab und zu über diesen Tag; wie die lebenslangen Mühen und Hoffnungen auf ein besseres Leben über Nacht vernichtet wurden. Davon sollten sich meine Eltern nie wieder erholen, ihr Leben verlor für immer jede Aussicht auf Struktur und Kontinuität.

Im Frühjahr 1989 war Kosova der Status als autonome Region der Jugoslawischen Föderation, den es seit 1974 besaß, bereits aberkannt worden. Es fiel damit direkt unter die serbische Polizeiherrschaft. Das Leben meiner Eltern samt meiner Kindheit wurde auf den Kopf gestellt. Im Ausnahmezustand war an ein normales Leben nicht mehr zu denken. Das “leichte Leben” gehörte nun endgültig einer vergangenen Epoche an.

Ich war klein und mir der Schwere des Einschnitts zunächst nicht bewusst. Meine Routine änderte sich aber allmählich. Die Eltern waren jetzt viel mehr zuhause. Unsere Bewegung wurde immer mehr eingeschränkt: die Spaziergänge am Wochenende, die Qualität des Essens. Alles begann zu schrumpfen, auch die Zahl der Einwohner. Kosova wurde zur verlassenen Heimat für viele, die die Flucht ins westliche Europa antraten, oder noch weiter, über den Ozean. Doch für meinen Vater kam das nicht in Frage. Er würde dieser Erde immer treu bleiben, niemals würde er sie verlassen. Es lag an seiner tiefen, nach außen hin kaum wahrnehmbaren Heimatbindung, die in der turbulenten Familiengeschichte begründet war. Seinen Großvater hatten die Partisanen getötet, seinen Vater trieben die Kommunisten in den Ruin, indem sie ihn zum Umzug in andere Städte zwangen.

Der Ausnahmezustand und die polizeilichen Maßnahmen setzten uns schwer zu. Im Bemühen, angesichts der bedrohlichen Umbrüche das Familienleben einigermaßen heil zu halten, wandte sich mein Vater in den ausgedehnten Zusammenkünften am Samstagabend seinen Erinnerungen aus der Studienzeit in Zagreb zu. Er erzählte Geschichten aus der Zeit, die er für die schönste in seinem Leben hielt, oder von seinen Reisen durch Europa in den siebziger und achtziger Jahren, als Kosovoalbaner, die sich das leisten konnten, sich frei bewegen durften. Es waren die einzigen Geschichten, die er erzählen mochte, und ich hörte ihm gerne zu. Ich lernte sie dadurch kennen, die Quelle seiner Liebe. Ich träumte dabei von anderen Leben, anderen Orten, anderen Welten. Was gab es dort, hinter den Grenzen unserer bedrohten Realität? Das blieb für mich unbekannt, und ich lernte, in meinem eigenen Häuschen zu leben. Wir reisten nicht mehr, nur einmal im Jahr machten wir Ferien an der montenegrinischen Küste, in Ulcinj, wo wir eine Sommerhütte besaßen.

Jene unbekannte Welt und jene unbekannten Orte malte ich mir schön aus. Ich wagte nie zu fragen: „Wo ist die Grenze?“ Es gab so viele Grenzen, sichtbare und unsichtbare: politische, wirtschaftliche, sprachliche, kulturelle. Die andere Welt blieb unbekannt und ich wurde zur dauerhaften Träumerin.

Auch Träumen war eine „Straftat“, aber davon konnte mich niemand abhalten, und ich erzählte meine Träume mir selbst. Der Traum von Freiheit war ein schönes, seidenes Tuch. Der Traum von der Volkserhebung war ein zerfetztes, geflicktes Tuch. Der gerechte Gott des Traums war nicht gerecht, als er uns solch große Träume schenkte. Denn am Ende blieb alles nur ein Traum. Bis heute erinnere ich mich an diese Träume, so fassbar für mich damals, dort auf den Straßen, wo die Proteste stattfanden. Meinen Traum von Freiheit erträumte ich am Straßenrand, auf dem Hauptplatz, mitten in der Menge von Tausenden, die wie Soldaten ohne Fahnen marschierten. Ich glaubte den großen Männern, die uns Kinder „kleine Helden der Zukunft“ nannten, welche am Straßenrand von gestern die Freiheit von morgen zusammenweben. Auf die Straße zu gehen, bedeutete, sich der Realität der Lebensunterdrückung zu stellen – da traf sich die Ohnmacht einer Zehnjährigen mit dem nationalen Drama. Dieses Erlebnis gehört zu den mächtigsten meiner Kindheit: Gefühlsaufruhr aus Revolte, Stolz und Furcht. Ich flickte meinen Traum mit den Slogans „Freiheit-Demokratie!“, „Kosova-Republik!“, bis er am Ende des Tages wieder zerfetzt wurde und wir enttäuscht nach Hause zurückkehrten. In diesem Durcheinander erträumte ich mir die große Revolution, die Frieden bringen würde, ohne zu ahnen, dass eine Kindheit in einer solch dramatischen, spannungsreichen Zeit das spätere Erlebnis des Friedens erschweren, ja entstellen würde. Ich war ein Kind, das in einem ununterbrochenen Kriegszustand lebte und sich jeden Tag fragte, welcher neue Krieg denn morgen ausbrechen wird.

Wie weit entfernt die großen Träume von unserem Familienleben auch lagen, zuhause war alles gut, solange es fürs Essen reichte. Nach ihrer Entlassung wurde meine Mutter zur Hausfrau, während mein Vater eine kleine Hühnerfarm auf den Ländereien von Großvater betrieb. In ruhigeren Zeiten lief der Handel. Wenn die Spannungen wuchsen, stockte er, und das Essen auf dem Tisch wurde weniger. So hing unser häuslicher Segen direkt von der politischen Lage ab.

Ich weiß noch, es muss 1993-1994 gewesen sein, wie ich einen roten, hochmodischen Mantel in den Schaufenstern des Kaufhauses sah und unbedingt haben wollte. Vergeblich versuchte ich, meinen Vater zum Kauf zu überreden. „Wir haben das Geld nicht“, gab er schroff zurück. Es war ein sehr trauriger Tag. Nicht nur wegen des Mantels, sondern wegen all der Dinge, die ich nicht haben konnte. Ich wünschte mir echte Sachen, Farben, Düfte, Reisen, reale, fassbare Freiheiten und nicht nur deren Abbildungen. Ich wollte gerne ein eigenes Zimmer haben. Ich wollte wirklich reisen können, statt die Welt im Fernsehen zu sehen. Ich träumte von einem echten, eigenen Leben, aber ich lebte in einem kleinen Haus in einer kleinen Stadt und in einer Zeit, in der sich täglich über unseren Köpfen Großes und Erschütterndes zusammenbraute.

Die Geschichte war dabei, ihre nächste Seite aufzublättern; es geschah vor unseren Augen und mit schwindelerregender Geschwindigkeit. Ich gewöhnte mich an das furchtbar Große und Leere, an die Unsichtbarkeit der begehrten Dinge und legte mir Gleichgültigkeit zu. Es klingt erschreckend, dieses Leben mit dem Gefühl, dass morgen alles wieder vorbei sein könnte. Aber wir erwiesen uns als erstaunlich robust und fähig, uns blitzschnell an alles anzupassen. In einer Welt, in der sich alles ständig verschob, lernten wir, unsere kleinen Oasen zu schützen.

Dieses “sich verschiebende Leben” war das Gegenstück zum “normalen Leben”. Das normale Leben setzt Stabilität voraus und das Gefühl, dass es vorangeht. Wenn man im Chaos lebt und die Normalität außer Reichweite liegt, neigt man zu deren Überhöhung. In Zeiten, in denen die Realität ständig auf- und abgebaut wird, wie Theaterkulissen bei jeder neuen Szene, tauchen die großen, metaphysischen Fragen auf – über den Sinn und Unsinn des Lebens, über das Unentschlüsselte in unserem genetischen Code.

Die Forscher haben eine “epigenetische” Erklärung über die Weitergabe von psychisch-physischen Traumata: Diese hinterlassen ihre Spuren in den Genen des Individuums, die dann den Nachkommen vererbt werden. Mein Vater wollte nie über sein Trauma reden, und doch wurde sein Trauma auch meins. Er wollte nie darüber reden, wie die Realität durch das Trauma verformt wird. Er sprach nie über den Tod, außer wenn er sagte, es sei Zeit, den Tod von sich wegzuschieben. So weit wie möglich! Ich dagegen mochte es, über den Tod zu reden, zumal er in meiner Zeit einen ganz anderen Stellenwert angenommen hatte. Er herrschte über unser Leben und gab diesem eine völlig neue Perspektive. Er brachte mir eine große, wenn auch maßlos ironische Lektion bei – nicht über das Nichts danach, sondern über die Fülle im Hier und Jetzt. Mein Flirt mit dem Tod war künstlerisch und philosophisch. Doch zu jener Zeit gab es überall Menschen, die wussten, wie man stirbt. Und auch welche, die zu töten fähig waren.

Wir schreiben das Jahr 1998. Es ist Frühsommer, draußen brennt die Sonne. Meine Mutter legt ihre “Tagesschicht” ein, sie kocht, putzt und wäscht. Mein Vater ist gerade eben vom Markt zurück, wo er Eier verkauft hat, schweigsam, abwesend, mit der Last der sengenden Hitze auf den Schultern. Er liest die Zeitung. „Es geht los“, sagt er. Mutter senkt den Kopf. Sie geht in die Küche, Kaffee kochen.

Ein paar Tage später kam meine Kindheitsfreundin zu Besuch. „Ich ziehe in den Krieg“, sagte sie, „und wir sehen uns vielleicht zum letzten Mal.“ Sie sah nicht wie eine Kriegerin aus. Sie war schön, blondes Haar, blaue Augen, sehr attraktiv. Ich kannte sie seit immer, sie lebte im Nachbarhaus. Wir hatten oft über die Revolution gesprochen, “Heldinnen” gespielt. Die Revolution gibt sich die Ehre, ihre eigenen Söhne zu fressen. Für die Töchter reicht nicht einmal das. Sie bleiben hinter der Tür, wie ein Besen, mit dem man den Boden kehrt. Dieses schöne und leidenschaftliche sechzehnjährige Mädchen floh eines Nachts ins Hinterland, zur kosovarischen Armee. Einige Jahre später hörten wir, dass sie Selbstmord begangen hatte.

Unsere Wege trennten sich in jenem Sommer. Sie ging, ich blieb. So prägt die Geschichte Parallelen und Unterschiede. Vielleicht gibt sich die Revolution manchmal die Ehre, auch ihre eigenen Töchter zu fressen. Aber wenn überhaupt, dann auf den echten Schlachtfeldern und nicht in den verträumten Ecken wie der meinen. Während draußen eine echte Tragödie die Menschen beschäftigte, blieb ich bei meinen Büchern. Das war mein Weg, inmitten des reißenden Stroms zu überleben.

Die Trennlinie zwischen denen, die von der Revolution träumten, und denen, die die Revolution machten, verlief ein paar Kilometer hinter unserem Haus. Aber was unvorstellbar ist, kann nicht passieren – bis es wirklich passiert. Ich war durch mein eigenes Vorstellungs-Unvermögen geschützt; ich glaubte, dass dieser neue Krieg nicht so aufregend sein kann. Das Grauen versteckte sich vollends hinter dem Unvorstellbaren.

Das Jahr 1999 sollte dann die gnadenlose Klarheit bringen – das ganze Ausmaß der Tragödie und der Absurdität des Seins, der Geschichte, des Schicksals. Es war ein Hinabsteigen in die Hölle, in die absolute Unmenschlichkeit. Es war die Begegnung mit der Faszination des Bösen.

Am Abend des 24. März 1999 verfolgten mein Vater und ich die BBC-Nachrichten über den Beginn der NATO-Bombardements gegen Serbien. Es war sein altes Radiogerät, das er seit seiner Studienzeit besaß. Er trank Raki. „Es ist der Anfang vom Ende“, sagte er, „es heißt, bald ist alles vorbei.“ Dann schwieg er wieder, mit dem Ohr am Gerät. Ich hörte mit, in meinem gelben Schlafanzug. Ich konnte nicht schlafen. Es war die letzte Nacht, in der ich in meinem Schlafanzug, in meinem Haus schlafen würde. Es war eine schöne Nacht, wenn auch eine sternenlose.

Viele schliefen ruhig in jener Nacht, durch das Unvorstellbare geschützt. Viele andere hatte das Unvorstellbare schon eingeholt. Als ich wach wurde, hörte ich die Stimmen mehrerer Frauen aus unserem Wohnzimmer. Die Frauen in meiner Stadt waren immer schon die Ersten gewesen, die die Neuigkeiten erfuhren und verbreiteten. Heute berichteten sie völlig verstört über Gräueltaten, Tötungen, Vergewaltigungen, Vertreibungen, die in der vorigen Nacht durch militärische und paramilitärische serbische Kräfte verübt worden waren. Und die bis Mitte Juni systematisch fortgesetzt werden sollten, in jenem Jahr des Teufels.

Unser Haus füllte sich mit Dutzenden Flüchtlingen. Wir zogen am selben Tag, alle zusammen, in ein anderes Haus. Und dann in ein anderes, und noch ein anderes, wir, sterbensbedrohte Nomaden, die das Sterben so weit wie möglich von sich wegzuschieben versuchen.

In jener ersten Nacht der Bomben wurde unser Leben in zwei Teile aufgespalten: in die Zeit vor dem Grauen und in die Zeit nach dem Grauen. Das Unvorstellbare wurde vorstellbar und würde es auch für immer bleiben. Getrennt werden die beiden Teile von einer Erinnerungslücke, von dem Rätsel, wie wir über Nacht zu nichts und niemand werden konnten.

Der Krieg war zu Ende, doch die schlimmsten Tage sollten noch folgen. Die Gefallenen hatten sich in den Eulengesängen schlafen gelegt, die Überlebenden kehrten in die Heimat zurück. Die Toten kennen keinen Groll, und die Lebenden mussten ihn verlernen. Sie mussten den Frieden erlernen und den Krieg vergessen.

Der schrecklichste Tag des Krieges war für mich der erste Tag der Befreiung. Ich fühlte mich so erschöpft wie noch nie. Meine Mutter brachte das vor Monaten verlassene Haus in Ordnung. Mein Vater ging zu seinem früheren Arbeitsort, in die Fabrik, um sich umzusehen. Der Gigant aus Metall stand völlig leer da, ausgeraubt.

Ich hob meine vergrabenen Bücher und mein erstes Gedichtmanuskript wieder aus. Die Erde hatte sie aufbewahrt, so wie sie die Knochen der Toten aufbewahrt. Das Haus war da, alles war da. Aber unsere Seelen kamen nur mühsam hinterher.

Das letzte jugoslawische Pop-Lied

von Aleksandar Bečanović
Deutsch von Mascha Dabić

Credits: Privat

Im Jahr 1992 kam das Album von Jura Stublić und seiner Band „Film“ heraus, Futter für die Tauben. Unter A2 war eine Nummer mit dem folgenden Titel zu finden: Eh, mein Belgrader Freund. Es war der letzte jugoslawische Pop-Song.

In der Periode meines Aufwachsens in den achtziger Jahren in Montenegro und in Jugoslawien spielte die Suche nach der eigenen Identität eine große Rolle. Ich weiß nicht, wie die Dinge jetzt liegen, für die heutige Jugend, die im Netz nationaler Stereotypen gefangen ist, aber im Post-Tito-Jugoslawien, wo zumindest in der ersten Hälfte der achtziger Jahre die naive Meinung vorherrschte, die Probleme einer ethnischen Identifikation seien zumindest provisorisch gelöst, ließ sich die Frage nach der persönlichen Positionierung gegenüber der eigenen unmittelbaren Umgebung, und auf einer abstrakteren Ebene gegenüber der Welt, primär in der kulturellen Perspektive verorten. Es war einfach so, dass die beste Antwort auf die Frage „Wer bin ich?“ in der Definition des eigenen, persönlichen Geschmacks zu finden war. Selbstverständlich war ich mir nicht aller Reperkussionen bewusst, aber ich ahnte, dass meine frühen Faszinationen weitaus mehr über mich aussagen als ermüdende Fakten aus offiziellen Dokumenten. What thou lov’st well is thy true heritage: Auf diese Zeile von Ezra Pound aus Canto LXXXI stieß ich erst später, nämlich dann, als sich mein Glaube an die Macht der Literatur regte, als ich begriff, dass in der Literatur der präziseste Mechanismus für die Beschreibung der Existenz steckt.

Aber noch bevor die Bücher zum Hauptorientierungspunkt in meiner Weltanschauung avancierten und meinen Beruf als Schriftsteller besiegelten, gab es da noch etwas anderes. Zwar bin ich immer schon ein Sportfan gewesen, und dennoch ging meine Sportleidenschaft niemals in eine eindeutige Identifikation als Fan über, sodass ich schon früh verstand, dass im Hinblick auf die Identität die individuelle Komponente wesentlich wichtiger war als die kollektive. Außerdem war meine sehr früh erwachte Faszination für Horrorfilme, für die heftige Ikonographie der Angst und der Befriedigung allzu exklusiv, um mir in einer Zeit, in der Kult und genrebezogenes fandom noch unbekannt waren, eine weitreichende Legitimation zu bieten. Mit anderen Worten, mein Horror-Fanatismus war eine Art innerer Besessenheit, die ich nur mit einigen wenigen Freunden besprechen konnte und die sich nicht als Gegenstand für hitzige Debatten und unvermeidliche Dilemmata eignete, die jedoch notwendig sind, wenn man für den eigenen Platz in einer größeren Gemeinschaft kämpft, das heißt, in einer Gesellschaft, in der man gezwungen ist, Polemiken vom Zaun zu brechen, um sich Anerkennung zu verschaffen.

In den achtziger Jahren fand ich meine wichtigste Identitätschiffre in der Popmusik. Unter anderem auch in der heimischen Popmusik. Die Qualität der jugoslawischen Rockmusik, insbesondere in der kreativsten Periode zwischen 1979 und 1984, bot die Gelegenheit, die großen Dichotomien oder Vergleiche, die wir von der Musik aus dem Ausland kannten, nun mit der nötigen Einprägsamkeit im heimischen Kontext zu betrachten. Plötzlich war es aufregend, interessant und geradezu gefährlich, auf der immer vielfältigeren jugoslawischen Rock-Szene, die aufgesplittert genug war, um gänzlich disparate Geschmäcker zufriedenzustellen, einen bestimmten Standpunkt einzunehmen. Plötzlich war es von entscheidender Bedeutung, sich für die Musik auszusprechen, die man mochte, sowie zu deklarieren, welche Musik man aus tiefster Seele nicht ausstehen konnte. Sag mir, was du hörst, und ich sage dir, wer du bist: Musik als Merkmal für die Zugehörigkeit, aber auch für die eigene Distanzierung, denn beim Postulieren der Identität sind beide Elemente notwendig. Und noch etwas: Die akzeptierte oder selektierte Identität galt es zu elaborieren und in Debatten mit Leuten, die auf dem entgegengesetzten ästhetischen Pol stehen, hermeneutisch zu unterstützen.

In meinem Fall zog die Identifikation mit der Musik auch ein starkes Gefühl nach sich, zu einer Minderheit zu gehören, außerhalb des Mainstreams zu stehen. Was zugleich auch eine ängstliche Position par excellence ist sowie ein eindrückliches Merkmal dafür, dass man aus der Reihe tanzt: im Übrigen ist das grundlegende Charakteristikum einer jeden „echten“ Identität eine wesentliche Ambivalenz.

Natürlich sind das alles nachträgliche Rationalisierungs- und Interpretationsversuche. Als ich ins Teenager-Alter kam – und Jugoslawien ins letzte Jahrzehnt seiner Existenz – da waren meine Präferenzen nicht etwa Folge diskursiver Standpunkte sondern Folge eines einfachen, instinktiven Verhaltens: Beim ersten Anhören gefällt einem etwas Bestimmtes (was gleichermaßen ein starkes oder ein trügerisches Gefühl sein kann), und alles andere gefällt einem nicht so sehr. Dann wird einem irgendwann klar, dass der eigene Geschmack mit dem Mehrheitsgeschmack nicht übereinstimmt. Das, was für einen selbst offensichtlich und selbstverständlich ist, stellt sich für die anderen nicht so dar. Man begreift, es gibt eine Grenze, und die Welt ist anders strukturiert, seit man eine „falsche“ Schallplatte gekauft und auf dem eigenen Grammofon abgespielt hat. Es stellt sich heraus, die Ästhetik ist keineswegs eine harmlose Angelegenheit.

In meiner Wahl ließ ich mich weder von Erwachsenen und ihren Suggestionen, noch von Gleichaltrigen und ihren Überredungskünsten beeinflussen. Ich konnte sogar die Illusion aufrechterhalten, ich hätte meinen Geschmack spontan entwickelt, und auch auf eine authentische Weise – obwohl ich damals die Bedeutung des Wortes „authentisch“ nicht kannte. Die sogenannte Volksmusik irritierte mich von Anfang an bis aufs Blut, und auch der Rock-Mainstream konnte mich nicht überzeugen, in einem Spektrum der Musikbands von „Bijelo Dugme“ („Weißer Knopf“) bis „Riblja čorba“ („Fischsuppe“). Der Sound, der mich anzog, kam meist von den Bands, die nicht so oft in Radio oder im Fernsehen gespielt wurden. Manche Alben dieser Bands konnte ich in einem Einkaufszentrum in unmittelbarer Nähe kaufen, andere konnte ich mir von Bekannten leihen, während es durchaus auch Schallplatten gab, die für immer außer meiner Reichweite blieben, sodass mein Begehren nach unerreichbarer Musik mein Bewusstsein als Sammler erwecken konnte. Die Identität erlangt ihr Profil sowohl durch das, was wir bekommen, als auch durch das, was uns fehlt, was sich uns entzieht, was wir von vornherein verloren haben.

Nach anfänglicher Suche kristallisierten sich die Dinge heraus. Von links nach rechts auf der jugoslawischen Landkarte bildete sich eine solche Abfolge der Musikbands heraus: Pankrti – Videosex – Lačni Franz – Paraf – Prljavo kazalište – Azra – Film – Haustor – Luna (leider ist ihre erste und einzige Schallplatte, „Nestvarne stvari“ („Unwirkliche Dinge“), das beste Album der jugoslawischen Musik, noch immer nicht in meinem Besitz!) – Šarlo Akrobata – Električni orgazam – Idoli. Die Achse Ljubljana – Rijeka – Zagreb – Novi Sad – Belgrad funktionierte auf dem Gebiet der Pop-Musik am besten in der ersten Hälfte der achtziger Jahre, wodurch der progressivste und westlichste Teil der (populären) jugoslawischen Kultur geschaffen wurde, diesbezüglich konsistenter als Literatur und Film in jener Zeit. Verfeinerte, aber feste Melodien, interessante Harmonien, häufig einprägsame Bass-Linien, die eine unwiderstehliche Tanzatmosphäre hinzufügten, angereichert mit intelligenten und ironischen Texten, die existenzialistische und politische Themen analysierten, kreierten ein faszinierendes Landschaftsbild der Musik, welches bis heute nichts von seiner Frische und Innovation eingebüßt hat. Den perfekten Überbau für diese Basis bildete die Entdeckung der Band Laibach, wodurch ein teilweise ausgereifter Geschmack durch das Gefühl der Epiphanie bereichert wurde. (So wie Laibach mit der Veröffentlichung des epochalen Albums Opus Dei auf eine machtvolle Weise bestätigte, dass die Band über die Grenzen der jugoslawischen Musik überschritten hatte.)

Vom heutigen Standpunkt aus betrachtet wirkt das Gesamtwerk dieser Bands noch beeindruckender, wie der autorisierte Soundtrack eines Augenblicks, als Jugoslawien deutlich zu verstehen gab, dass es in der Lage war, seine eigene Version des Zeitgeistes anzubieten, dass es von sich aus über das Potenzial verfügte, auf die Herausforderungen der neuen Zeit zu reagieren, und zwar – und das macht die Sache noch weitreichender – gerade dann, als die ersten Anzeichen für den einsetzenden Zerstörungsprozess und das bittere Ende auftauchten.

Als Mitte der achtziger Jahre Goran Bregović es schaffte, mit dem berüchtigten Lied Lipe cvatu (Die Linden blühen) eine noch üblere Version seines früheren sogenannten „Hirtenrocks“ fulminant vorzulegen und auf diese Weise einen Großteil der Kanäle für kulturelle Emanzipation blockierte, wurden die positiven Tendenzen plötzlich marginalisiert. Sowohl in der Musik, als auch in der Gesellschaft wandten sich die Dinge zum Schlechteren. Gute Alben wurden eher zur Ausnahme als zur Regel, einzelne Arbeiten der oben erwähnten Bands waren weiterhin attraktiv, aber die Kreativität wurde im Zaum gehalten. Als Joy Division und The Smiths in mein Leben kamen, hatte sich für mich persönlich der Akzent definitiv verschoben. Aber niemals so stark verschoben, als dass ich aufgehört hätte, aufmerksam mitzuverfolgen, was meine Lieblingsbands noch zu sagen hatten, und so gelangte ich, bereits mit einer gewissen Nostalgie, zu der Schlussfolgerung, dass vom jugoslawischen Punk und der Revolution der Neuen Welle zumindest für eine kurze Zeit ein unwiderstehlicher kathartischer Effekt ausging, der einen Hinweis darauf lieferte, dass Jugoslawien das Potenzial hatte, eine der besseren Welten zu sein. Wenn man über den Verfall von etwas lesen möchte, dann sollte man dies ausgehend von den besten Fragmenten des bestehenden Textes tun und nicht etwa ausgehend von den offensichtlichsten Tatsachen. Und so kommen wir nun endlich, nach einer allzu lange geratenen Exkursion, zu dem Lied Eh, mein Belgrader Freund.

Und zu Jura Stublić, dem die Rolle zufiel, ein pointiertes good-bye to all that zu liefern. Auch in seinen glänzendsten Momenten war seine Musikband Film nicht so charismatisch wie Idoli, so experimentell wie Šarlo Akrobata, so sophisticated wie Haustor. Als Textschreiber war Stublić nicht so politisch interessant wie Johnny Štulić, auch nicht so vielseitig wie Zoran Predin, und auch nicht so esoterisch wie Slobodan Tišma. Die wichtigste Qualität von Film, was in der Phase der Neuen Welle stärker zu Tage trat, ist die volle Hingabe dieser Musikband an die melodische Pop-Struktur, bei der keine Abstriche gemacht wurden, ganz gleich wie wichtig „die Botschaft“ war, die ausgesendet werden sollte. Wenn zwischendurch etwas Melancholie hervorblitzte, dann wurde die Tanzgrundlage der Arbeit von Film dadurch lediglich veredelt.

Stublić war weder ein Kommentator, noch ein Prophet, noch das Sprachrohr einer Generation, die dem jugoslawischen Rock eine noch nie da gewesene Relevanz bieten konnte. Es gab da auch schlagfertigere und vergeistigtere und engagiertere Songschreiber. Und doch, als das Land im Begriff war zu zerfallen, als ein Wertesystem unter dem wachsenden Nationalismus zerbröselte, war sogar im Rahmen der Rockmusik, die im Prinzip universell eingestellt ist, ausgerechnet Stublić derjenige, dem es gelang, in einem dreiminütigen Lied die Ausmaße einer irreversiblen Trennung einzufangen. Wenn Sie, so wie ich, glauben, dass der tragische Eros sich in kleinen, melodramatischen Stücken stärker einschreiben kann als in epischen Narrativen, dann ist es nicht überraschend, zu der Schlussfolgerung zu gelangen, dass die Ausmaße der heranrollenden Katastrophe sich womöglich am besten in einem ganz „gewöhnlichen“ A2-Lied darstellen lassen. Mit anderen Worten, ich wollte über das, was in dem schon nicht mehr existierenden Land, in dem ich aufgewachsen war, passiert ist, aus erster Hand etwas erfahren, aus jener Sphäre, die mir am meisten bedeutete, während ich versuchte, meine eigene Persönlichkeit auszubilden.

Die bewaffneten Konflikte in Jugoslawien hatten schon begonnen, und niemand zweifelte mehr daran, dass es zu einem Blutvergießen kommen würde. Eine Evidenz, die sich nicht ignorieren ließ, und die es galt symbolisch zu überarbeiten und dringend künstlerisch zu beschreiben, Zeugnisse, verfasst in einem Vokabular, welches nur wenige Jahre zuvor für eine entschlossene, modernistische Wende gesorgt hatte und nun in einer ganz anderen Atmosphäre – der Atmosphäre der Retardierung und Tribalisierung – zu räsonieren hatte.

Bezeichnend ist, dass Stublić die notwendige Transkription in Eh, mein Belgrader Freund mit Hilfe des Liedes Am blauen Meeresstrand (Na morskom plavom žalu) bewerkstelligen konnte, wobei dieses Lied auf Grund des spezifischen Kontexts, in welchem es auftauchte, sich für das Publikum eher wie ein traditionelles Lied als wie eine Autorennummer ausnahm. Das heißt, Stublić bearbeitete – in sämtlichen Bedeutungen dieses Wortes – etwas, das zum populären Imaginarium zählte: eine Melodie, die aus (unserem) kollektiven Unbewusstsein zu stammen schien. Im Hinblick auf den Text entschied sich Stublić für einen äußerst direkten, also naiven Zugang in einem rhetorischen Rahmen, der das letzte Symptom einer unvermeidlichen Trennung und bedauerlicherweise auch der Gewalt darstellt. Ein äußerst einfacher Text, der über Trennung und Verlust auf eine Art und Weise spricht, die an den minimalistischen „Essenzialismus“ der alten Volkslieder erinnert.

Als Inszenierung des Abschieds, aber auch des Verzeihens, als Thematisierung des Zerfalls einer Gemeinschaft hat das Lied Eh, mein Belgrader Freund die jugoslawische Form und den jugoslawischen Inhalt beibehalten: eine letzte, nostalgische Äußerung in einer Sprache, die alle – zumindest noch eine kurze Periode hindurch – verstehen können sollten. Das erste Mal Eh, mein Belgrader Freund zu hören, war so wie eine rührende Nachricht zu empfangen, die Mahnung zugleich ist. Resignation und Lamento, ein Requiem, ausgedrückt in populistischer Lyrik, ein Bericht, der mitten aus dem Herzen des Problems kommt. Aus all diesen Gründen war Eh, mein Belgrader Freund das letzte jugoslawische Pop-Lied. Es bezeichnete die definitive Markierung, ein post scriptum, das aus einer ästhetischen Schlussfolgerung kam: nach diesem Lied, oder, genauer gesagt, erst nach diesem Lied konnte die Teilung erfolgen – in ein Ex-Jugoslawisches und ein Post-Jugoslawisches.

 

Das steinerne Floß

von Drago Jančar
Deutsch von Daniela Kocmut

Credits: Jože Suhadolnik

Wenn das gemeinsame Leben in einer Ehe unerträglich wird, entscheiden sich die Eheleute für eine Scheidung. Und wenn dies nach langen und mühseligen Gesprächen, nach schrecklichen und allseitig erniedrigenden Formalitäten endlich eintrifft, kommt auf beiden Seiten eine gähnende Leere zum Vorschein. Die Leere einer ausgeräumten Wohnung, die Leere einer menschlichen Amputation, der leere Klang der Stille dessen, was fehlt. Und dies obwohl es zahlreiche Konflikte gegeben hat, jawohl, sogar Hassgefühle. Aber wo Hass herrscht, da herrscht auch Liebe, wie man in jedem Kolportageroman nachlesen kann.

So sahen meine Gedanken im Jahr 1991 aus.

Dreißig Jahre später würde ich zu dem Titel, den Traduki für eine Essay-Serie über den jugoslawischen Archipel vorgeschlagen hat, als Sinnbild für den Zerfall dieses ehemaligen Staates eher den Roman von José Saramago Das steinerne Floß heranziehen. Darin erzählt der Autor die Geschichte der Pyrenäenhalbinsel, auf der ein winziger, mit einem Ulmenzweig gezeichneter Strich tektonische Verschiebungen auslöst, woraufhin sich die Halbinsel vom Kontinent abspaltet und zu einer Insel wird, ein steinernes Floß, das ins weite Meer hinausdriftet; die unfähigen Politiker und Reichen schaffen das Geld weg, die verlassenen Hotels an der Küste werden von Obdachlosen bezogen, ein Chaos entsteht.

Das mag uns vertraut vorkommen, etwas Ähnliches ist mit Jugoslawien passiert, und als dieses zu einem Archipel geworden war, brachen auf Grund von ein paar unsichtbaren Linien, die sich zwischen uns eingekerbt hatten, auch Brücken zwischen den Inseln ein, Fähren versanken, sogar Telefondrähte und Unterwasserkabel, die sie einst verbunden hatten, wurden gekappt. Für eine ziemlich lange Dauer.

Nun fahren die Schiffe wieder und in den Kabeln surrt es nur so vor Kommunikation.

Heute kann ich über Jugoslawien in literarischen Metaphern sprechen. Damals, anno 1991, hatte ich persönlichere Überlegungen. Wie hätte es anders sein können, wo ich bis zu diesem Jahr mein ganzes Leben im Staat mit diesem Namen verbracht hatte. Ich dachte an den Augenblick der Trennung zwischen Slowenien und Jugoslawien, ich verglich es sogar mit äußerst persönlichen Erfahrungen, das heißt mit den Geschichten von Freunden und Verwandten, denen solche Dinge widerfahren waren.

Die mühsamen Gespräche laufen bereits, die habgierigen Eheleute sind schon dabei, ihr Vermögen in Sicherheit zu bringen. Der Verstand sagt, so musste es kommen, da dieser Staat von Anfang an nicht gut aufgestellt war. Und dennoch: Wir haben unser ganzes Leben mit ihm, bei ihm, in ihm verbracht. Ich liebe Dalmatien, sentimentale Erinnerungen verbinde ich mit seinen weingetränkten Nächten, den betörenden Düften des Mittelmeers, dem kühlen Stein seiner Plätze und Kirchen, der Antike, der Renaissance, der Stille in den Gärten der katholischen Klöster auf den Inseln. Mit den bosnischen Flüssen, der Reziprozität der Kulturen und Religionen Sarajevos, dem Treiben orientalischen Handelns, dem Klopfen feiner Hämmerchen auf Kupfer in den Werkstätten der engen Gassen. Mit dem biblischen Mazedonien, der ratternden Sprache meiner mazedonischen Freunde, voller emotionaler und kluger Gedankensprünge. Mit der breiten Donau, Novi Sad, wo wir bei Festivals bei Mandolinenmusik die vergänglichen Augenblicke des Theaterruhms feierten und die ebenso vergänglichen Augenblicke (ungerechter) Niederlagen in Wein ertränkten. Mit Belgrad mit seiner unendlichen Vitalität, mit seinen Morgendüften aus den unzähligen kleinen Bäckereien, den serbischen Kollegen mit ihrem schwarzen politischen Humor und ihrer Selbstironie, die heute verschwunden zu sein scheint. Mit Südserbien, Vranje, wo ich gegen meinen Willen als Soldat ein ganzes Jahr meines Lebens verbracht und nebst einer unangenehmen Kaserne auch die paradoxe Mischung aus orientalischer Genusssucht und orthodoxer Mystik erlebte; süßer Kummer, die Morava, slawische Lieder in Begleitung orientalischer Trommeln und Trompeten. Und nicht zuletzt mit dem nahen Zagreb, das in diesem Text keinesfalls auf derselben Seite wie Belgrad würde stehen wollen oder gar – um Gottes willen! – Südserbien. Zagreb, mit seinen Augen nach Wien gerichtet und mit beiden Beinen am Balkan, Zagreb, das schon beinahe Slowenien ist, und dennoch etwas anderes, seine historische Pathetik, die kroatischen Schachbretter, der scharfe katholische Messianismus, das Zentrum einer Landschaft, die die westliche Zivilisation verteidigt: Antemurale Christianitatis. Jawohl, auch Zagreb sollte sich bald in einem anderen Staat wiederfinden, er wird Republik Kroatien heißen. Und nicht ohne einen Anflug von erschrockener Eigenliebe kann ich auch nicht umhin, an meine Bücher zu denken, die in den Regalen und in den Schaufenstern der Buchhandlungen in all diesen Städten lagen, in verschiedenen Sprachen, Schriften und Ausstattungen, auf den Bühnen großer und kleiner Theaterhäuser, wo die Schauspieler meine dramatischen Erdichtungen mit der Intensität von Körper und Geist erfüllten.

Soll all das wirklich verloren sein?

So habe ich gedacht, geschrieben und gesprochen.

Als auf Grund solcher Sätze meinerseits Predrag Matvejević notierte, ich sei ein Jugonostalgiker, und vorsichtig hinzufügte, in „kulturellem Sinne“, hatte er recht. Ich war es und bin es noch immer – aber wirklich der Kultur wegen – im engeren und weitesten Sinne.

Auf Jugoslawien blicke ich manchmal mit Nostalgie zurück, manchmal mit Wut. Mit Nostalgie all seiner kulturellen Vielfalt und der Freunde wegen, mit Wut wegen der Diktatur und der dummen Politiker, die über sie herrschten. Wäre Jugoslawien eine Demokratie gewesen, wäre es aller Wahrscheinlichkeit nach nicht zerfallen. Es war jedoch eine Diktatur mit einem einzigen und unfehlbaren Staatsführer an der Spitze und einem mächtigen Apparat aus Militär, Polizei, Bürokratie, mit Pionierseiden, Ritualen in riesigen Stadien zu Titos Geburtstag. Ich kannte Menschen, die in einem jugoslawischen Gulag auf der Insel Goli otok interniert waren, ich kannte solche, die ihre Väter auf Grund von revolutionärer Gewalt verloren hatten, auch solche kannte ich, die sich aus politischen Gründen, manchmal auch wegen eines einzigen falschen Satzes in einer Gesellschaft, eines Satzes oder Witzes über Tito oder einen anderen kommunistischen Führer, in einem Gefängnis wiederfanden. All das wurde mir jedoch erst in jenen Jahren klar, als ich ein heranreifender Junge war, und wenn einen jungen Menschen der gesunde Menschenverstand trifft, das heißt Wissen und ein Blick auf die Welt, dann geht auch Skepsis und Widerstand einher. Davor hatte ich mich der glücklichen Illusion hingegeben, dass es schön sei, „in unserer Heimat jung zu sein“, wie wir bei den Pionierfeiern gesungen hatten.

Jugoslawien war eine Diktatur, wenn auch viel freier als andere kommunistische Staaten. In den Sechzigerjahren wurden die Grenzen geöffnet, die Menschen sahen, dass sie besser lebten als in Ungarn oder der Tschechoslowakei. Der kulturelle Umlauf und die Schaffenskraft im Land waren viel offener. Anderswo in Osteuropa hätte man sich schwer vorstellen können, dass – wie in Ljubljana oder Belgrad – in den Auslagen der Buchhandlungen Werke von Solschenizyn, Kundera, Bunin, Camus oder Orwell lagen. Kritische Literaturzeitschriften wurden herausgegeben, es wurde viel übersetzt, die Theater waren ein aufregender Ort der Suche nach freien ästhetischen und gesellschaftskritischen Inszenierungen. Die sogenannte „Schwarze Welle“ (Crni talas) des jugoslawischen Films sorgte für einen beachtlichen künstlerischen Höhenflug und leistete beißenden Widerstand gegen die politische Eindeutigkeit.

Offene Grenzen und kulturelle Freiheiten waren aber nicht gleichermaßen mit politischer Freiheit gleichzusetzen. Wir lebten in dem eigenartigen Paradox, dass der Staat mit seinem Einparteiensystem und allen Institutionen dennoch eine Diktatur blieb. Und die Menschen aus der Politik verstanden nicht, dass die Welt und Europa sich veränderten. Auch nicht, dass gerade infolge einer solchen politischen Ordnung und Mentalität die Wirtschaft zusammenbrach. In den Achtzigerjahren dachten wir über eine Umgestaltung Jugoslawiens in einen demokratischen und konföderativen Staat nach. Angesichts der Quadratköpfe von Generälen und Menschen an der Parteispitze Jugoslawiens konnte dies allerdings nicht geschehen. Jugoslawien zerfiel nicht nur wegen der Nationalismen, der kulturellen und wirtschaftlichen Unterschiede; diese Unterschiede wirkten zwar zentrifugal, am Zerfall jedoch trug die Diktatur Schuld. Die Machthaber verstanden nicht, dass die Zeit für Veränderungen gekommen war. Ich denke noch heute, dass der große Staat nicht zu dem heutigen Archipel zerbröckelt wäre, wenn wir eine demokratische Ordnung gehabt hätten. Und wenn dies schon passiert wäre, wäre es nicht auf so fürchterliche Art und Weise passiert.

Der Krieg brach aus, zuerst für kurze Zeit in Slowenien, wohin aus den Kasernen die Panzer der Jugoslawischen Volksarmee angerollt kamen, dann Kroatien, dann die Hölle in Bosnien und Herzegowina. Im Krieg war ich in Sarajevo und sah, was vor sich ging, das war eine schmerzhafte Erfahrung. Darüber schrieb ich den Reiseessay „Kurzer Bericht über eine lange belagerte Stadt: Gerechtigkeit für Sarajevo“ (Kratak izvještaj iz dugo opsjednutog grada). Viele Bekannte und Freunde hatten sich in jenen Jahren entfremdet, viele wurden vom Sog des Krieges, in dem sie sich für die eine oder andere Seite entschieden hatten, mitgerissen.

Ende der Neunzigerjahre diskutierten wir als eine Gruppe von Schriftstellern aus allen neuen Staaten des damals bereits ehemaligen Jugoslawiens drei Tage lang in Frankfurt zur Zeit der Buchmesse. Wir wollten uns diesem unsinnigen Abriss aller kulturellen Bande, des Austausches und dieser völlig abgebrochenen Kommunikation zwischen den Inseln des Archipels entgegenstellen. Schließlich erstellten wir eine Erklärung über die Notwendigkeit einer Erneuerung der kulturellen Zusammenarbeit auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens. Die Erklärung schickten wir mit unseren Unterschriften an alle führenden Tageszeitungen und anderen Medien von Ljubljana bis Skopje. Sie traf auf ein sehr schwaches Echo. Nur wenige veröffentlichten unser Schreiben, es wurde von einigen Seiten angegriffen, die Mehrheit winkte lediglich ab: Was glauben bloß diese Künstler, wer sie sind? Es interessierte niemanden, die Menschen wandten sich dem Leben auf ihren eigenen Inseln zu. Dieses Leben spielte sich bereits während des wilden Wettkampfs um die Aneignung von Geld und Macht auf jeder Insel einzeln ab und damit das gegenseitige politische Gemetzel im Inneren, so in etwa, was die Deutschen Selbstzerfleischung nennen.

Bereits zu Beginn des Zerfalls dieses Staates dachte ich darüber nach, dass es trotz der Aversion, die ich gegenüber seinen Parteiapparaten verspürte, kein einfacher Augenblick wäre, wenn ich mich plötzlich nur unter meinen lieben Slowenen wiederfinden würde, auf dem Weg nach Europa, europäische Phrasen plappernd, unter lauter groben Unternehmern und sanfteren Sängern, zwischen verwandtem Allwissen und einhergehender Scharfzüngigkeit, Missgunst, Schadenfreude. Ein Schriftsteller kennt eben seine Umgebung und deren Schwächen. Aber das war nur ein Teil des Problems; was uns erwartete, war eine noch viel größere Überraschung. Zumindest für uns, die wir dachten, die Demokratie sei ein magisches Mittel gegen alle Arten von gesellschaftlichen Problemen.

Ich weiß nicht, was genau wir uns vorgestellt hatten. Gewiss eine parlamentarische Ordnung, Presse- und Redefreiheit, wirtschaftlichen Aufschwung. Ehe wir uns wirklich bewusst waren, was vor sich ging, traten wir in eine Ära ein, die wir, die sich für die Demokratie stark machten, überhaupt nicht verstanden. Irgendwann schrieb ich: Wir träumten von Demokratie und erwachten im Kapitalismus. Und in was für einem! Nicht in einem gewöhnlichen Kapitalismus. Man nannte es Transformationskapitalismus. Einem recht wilden, der viele Menschen verarmt, vereinsamt, verloren zurückließ. Nicht nur in Slowenien und anderen Ländern Ex-Jugoslawiens, sondern in ganz Osteuropa. Das Gesamtvermögen bzw. das „gesellschaftliche“ Vermögen musste Besitzer bekommen, die „Privatisierung“ nahm ihren Lauf, ein Prozess, für den man in Russland den Begriff „prichvatizacija“ erfand. Nicht nur in Slowenien, in den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens, sondern auch anderswo in Osteuropa dachten wir Menschen der Feder und Bücher nicht viel darüber nach, dass der Kapitalismus seinem eigenen Regelwerk zugrunde liegt, dass Kapitaleigentümer die Politik, Medien, ja das gesamte gesellschaftliche, ja sogar kulturelle Leben beeinflussen können. Und dass die Demokratie eine so zerbrechliche Gesellschaftsform ist – es findet sich immer jemand, der sich so viel wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Raum wie möglich aneignen will. Natürlich – damit keine Missverständnisse aufkommen – denke ich noch immer – mit Churchill gesagt: Die Demokratie mag die schlechteste aller Staatsformen sein, aber es gibt keine bessere. Das Leben in der schönen neuen Welt war aber auch nicht gerade leicht zu verstehen.

Plötzlich lebten wir in einer völlig anderen Welt, es tauchten Menschen des Typs Nouveau Riche auf, die mit semikriminellen Privatisierungen reich geworden waren, die sozialen Unterschiede wurden größer, politische Kämpfe wurden auf brutale Weise demagogisch. Das demokratische Leben hatte nicht nur die Freiheit der Meinungsäußerung gebracht, sondern auch die Freiheit, Bösartigkeit, Wut und Neid zu äußern. Ein Teil davon entfällt auf den sogenannten Nationalcharakter, dem Merkmal aller kleinen Nationen, wo sich die Menschen lieber mit sich selbst beschäftigen als mit der großen Welt um sich herum. Dem gesellte sich ein wildes materialistisches Rennen der sogenannten Transformationszeit hinzu, es tauchten grobe und auch eher so raffinierte Tycoons auf, es entstand eine Schicht von verarmten Leuten, die sich kaum selbst durchbringen konnten. Die politische Demagogie aller Farben nützte Hand in Hand mit den Medien das kaum vergangene Kriegsleid und die nicht verheilten Wunden für eine rohe Abrechnung und Festigung der neuen Machthaber auf jeder einzelnen Insel aus.

Die Ankunft des Internets und damit der Diskussionen und Weisheiten in den sogenannten „Foren“ stellte dieses demagogische Chaos und jegliche Intoleranz bis auf den Grund bloß, es wurde zu einem großen Triumph dummer Besserwisser, oft auch brutaler Leute, die bereit sind – nicht nur mit Worten –, so manches anzurichten.

Ich hatte in den Neunzigerjahren und Anfang des neuen Jahrhunderts mit publizistischen Texten viel Energie darauf verwendet, diese Prozesse sowie die neue, intolerante gesellschaftliche Atmosphäre zu kritisieren. Bis ich erkannte, dass die Windmühlen real sind, äußerst stark, und dass sie mich jeden Augenblick auf den Boden knallen lassen würden. Ich trat aus dieser gesellschaftlichen Geschichte aus und widmete mich ausschließlich der Literatur.

Was ist mir geblieben? Und uns allen zusammen?

Aus der Vergangenheit die Erinnerungen an ein gemeinsames Leben, in der Zukunft die europäische Utopie. Für uns, die wir in Jugoslawien gelebt haben, nebst dieser Utopie auch die Angst, dass sich für Europa das Schicksal der jugoslawischen Föderation wiederholen könnte. Nach all den schmerzhaften Erfahrungen des zwanzigsten Jahrhunderts war dieses Bündnis für alle Nationen Europas das Beste, das uns auf diesem Kontinent – gemartert von all den Kriegen und nationalen sowie ideologischen Konflikten – passieren konnte. Nun, derzeit scheint es, als stünde Europa erneut vor einer Krisenphase. Ich werde oft gefragt, ob ich denke, dass die Grenzen wieder geschlossen würden, ob Europa vor dem Zerfall stehe? Ob der EU widerfahren könne, was mit Jugoslawien passiert sei? Ich denke, dass dieser Vergleich hinkt, dass es in Europa gerade auf Grund der Werte wie Menschenrechte, Recht auf freie Meinungsäußerung, offene Grenzen und allem anderen möglich ist zu reden. In Jugoslawien war das zu einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr möglich. Und trotz dieses unseligen Corona-Virus, der zeitweisen wirtschaftlichen Rezessionen, trotz des radikalislamischen Terrorismus und trotz der sogenannten Migrationskrise werden sich die Menschen in Europa nie wieder die offenen Grenzen, die Freiheiten des Menschen und die Demokratie nehmen lassen.

Wenn ich an das heutige Europa denke, denke ich auch oft an mein Leben in Jugoslawien und an das Leben des jugoslawischen Archipels nach dem Jahr 1991. Diese Zeilen schreibe ich zur Zeit der Quarantäne, die Bewegungsfreiheit ist eingeschränkt, jeden Tag werden wir von den Fernsehbildschirmen über die Zahl der Neuinfizierten und an dieser unseligen COVID-19-Krankheit Verstorbenen informiert. Wir leben in Ungewissheit, wir blicken mit Angst in die Zukunft, manchmal scheint mir, als seien wir am Ende aller Utopien angelangt, als hätten wir das Zeitalter einer Dystopie angetreten. Vielleicht hat diese mit dem Fall aller Utopien des 20. Jahrhunderts begonnen. An was alles die Menschen geglaubt haben! An die soziale Utopie, an die Größe der eigenen Nation, an den Sieg unseres Glaubens über ihren … auch an die jugoslawische Utopie. Und waren bereit, dafür ihre Leben zu opfern, ihre eigenen, meistens aber andere. Zumindest „Europa“ mit seinem Pragmatismus und den hohen Werten der Menschenrechte ist uns als eine etwas bescheidenere Sache geblieben, eine kleine, teils nicht realisierte Utopie, an die wir glauben können, zumindest ich glaube daran.

Ein Schriftsteller steht hier abseits, er ist schon lange keine moralische Autorität mehr, kein Tolstoi oder Camus weit und breit, vor allem nicht in Zeiten des Internets, in denen jeder alles weiß und jeder auch alles sagen kann.

Also stehe ich im Abseits, beobachte das Leben, schreibe darüber, sei es in historischer oder der heutigen Zeit.

Hier, am Ende einer dreißigjährigen Reise aus Jugoslawien in eine neue, andere Welt, in einem ungewissen Augenblick in Europa und der Welt, zwischen Quarantänen, Ausgangsbeschränkungen, zwischen Menschen mit Masken in ihren Gesichtern, warte ich: nicht mehr auf etwas Neues – weil ich mich davor ein wenig fürchte –, sondern auf eine Rückkehr ins normale Leben. In diesen dreißig Jahren habe ich von meiner slowenischen Insel eigentlich sehr oft die vielen anderen Inseln des jugoslawischen Archipels bereist, hauptsächlich zu Präsentationen meiner Bücher, die auf all diesen Inseln erschienen sind. Ich habe aufgehört, mich mit politischen Stürmen zu beschäftigen, die noch immer zwischen ihnen und auch auf jeder einzelnen von ihnen herrschen.

Unlängst saß ich in Belgrad in einem Café mit einem jüngeren Freund, dem Dichter und Verleger Gojko Božović, der in seinem Verlag meinen letzten Roman herausbrachte. Über Politik sprachen wir nahezu gar nicht. Die Abstände zwischen den Inseln haben sich so vergrößert, dass es mit der Erfahrung von einer schwer ist nachzuvollziehen, was auf einer anderen geschieht. Wir sprachen aber viel von der Vielfalt und der künstlerischen Kraft literarischer Werke, die wir beide gelesen hatten. Gojkos Verlag heißt Arhipelag. Ich habe keinen Zweifel daran, dass er ihn so benannt hat, weil seine Publikationen einen Reichtum an literarischer Kunstfertigkeit, eine interessante Vielfalt an Poetiken, verschiedenste Lebenserfahrungen, eine Weite phantastischer Landschaften bringen. Das ist jener literarische Archipel, auf dem ich nun auch selbst lebe. In einer Zeit, wo man kaum noch – mit einem Mund-Nasen-Schutz im Gesicht – zum nächsten Supermarkt gehen kann, ermöglicht er mir, dass ich weit und hoch reisen kann, manchmal auch in die Vergangenheit, sogar in meine Jugendzeit, als wir noch nebeneinander gelebt hatten, bis wir – wie jene, die sich auf Saramagos steinernem Floß wiederfanden – auf unserer jeweils eigenen Insel fortgetragen wurden.

Das verräterische Herz

von Slobodan Šnajder
Deutsch von Mirjana und Klaus Wittmann

Credits: Dirk Skiba

Es gibt eine Stelle in seinen Memoiren, die Josip Broz, schon als junger Untergrundkämpfer der Alte genannt, inzwischen aber wirklich alt, bequem im Sessel sitzend, einmal vortrug. Broz (später Tito genannt) lutschte dabei an einer jener Zigarren, die Fidel Castro ihm regelmäßig zukommen ließ. Zwei Dinge verbanden die beiden Männer: die besten Zigarren der Welt und die Tatsache, dass sie die unbestrittenen Anführer ihrer Revolutionen waren. Man könnte noch ein drittes hinzufügen: Beinahe auf die gleiche Weise wird heute gelöscht, was diese Revolutionen, weil authentisch, doch erreicht hatten. Das Auslöschen der Geschichte, dessen Zeuge ich heute in meiner engeren Heimat bin, enthält etwas Furioses, etwas sehr Gewalttätiges und erinnert an das, was der alte Hegel in seiner Phänomenologie des Geistes als Die Furie des Verschwindens bezeichnet hatte. Mit diesem Ausdruck beschrieb Hegel, was mit der Französischen Revolution geschah: eine Art Selbstvernichtung. Das entsprechende Kapitel bei ihm trägt den Titel: Die absolute Freiheit und der Schrecken. Am Ende bleibt nur noch die Furie (so steht es bei Hegel), die jedes historische Gedächtnis auslöscht.

Hegel selbst wurde als relativ junger Greis von einer furiosen Cholerawelle dahingerafft. Tito hingegen lebte die ihm beschiedene Zeit zu Ende, und handelte es sich nicht um eine authentische Revolution, müssten wir sein Leben als abenteuerlich betrachten. Der Sensenmann hatte es oft auf seinen Kopf abgesehen, ihn aber jedes Mal verfehlt.

Dieser Mann erzählte also von seinem Leben so lässig, als gehöre es ihm nicht, als sehe er sich, gemütlich im Sessel sitzend, einen Western an. Er war natürlich fest davon überzeugt, immer auf der Seite des Guten gehandelt zu haben, und nannte das Gewalttätige in seiner Revolution eine notwendige Etappe auf dem Weg zur Freiheit. In den Wildwestfilmen schießt der gute meist schneller als der böse Cowboy, den er dadurch aus der Welt schafft. Broz hatte Hegel bestimmt nicht gelesen; er hatte schon genug Probleme mit Miroslav Krleža. Aber Hegel und seine Furie beiseite: Josip Broz liebte Wildwestfilme.

Jetzt möchte ich das Augenmerk auf eine Begebenheit aus der Zeit richten, als Josip Broz erst dabei war, Tito zu werden. Ende des Jahres 1920 versuchten Broz, damals fast noch ein Niemand, und seine erste Frau, eine junge Russin, mit merkwürdigen Papieren Lenins Staat zu verlassen, in dem alles noch brachlag. Man kann es kaum glauben, aber mit von der Partie war auch Jaroslav Hašek, zwar beträchtlich älter als Broz, jedoch noch nicht ganz der Jaroslav Hašek. Beide wollten in den Westen. Außer diesem Wunsch gab es noch manches, was die beiden miteinander verband: Galizien, die Verwundung, die Gefangenschaft, die Parteinahme für die Sowjets. Der zehn Jahre ältere Hašek, der sich später zu einem scharfen, aber gutmütigen Satiriker entwickeln sollte, hatte sich in der Roten Armee hervorgetan und es dort zu hohem Rang gebracht. Jetzt schickte die Revolution ihn als ihren Missionar in den Westen. Auch Broz hatte bestimmt eine Mission, etwa die Flamme der Revolution auf den Balkan zu tragen, nur sah man das damals nicht so klar, wie man heute die Reise des olympischen Feuers durch die ganze Welt verfolgt.

Man kann sich schwer vorstellen, dass Tito in dem fernen Jahr 1920 davon träumte, er werde in späteren Jahren an seinen Geburtstagen vor den Augen aller „Völker und Volksgruppen“ des Landes als gleichzeitig deren Vater und Sohn (und auch Heiliger Geist) etwas wie das Olympische Feuer in Form einer Stafette empfangen. Damals hatte er eine Grenze passieren müssen, und zwar nicht irgendeine, sondern die Grenze zwischen zwei Welten. Er musste also einen kühlen Kopf bewahren, was später von vielen, die am Epos Tito mitstrickten, besungen wurde.

Der Mensch ist indes eine merkwürdige Maschine, die hauptsächlich vom Herzen angetrieben wird. Es ist anzunehmen, dass die Herzen der paar verdächtigen Personen beim Passieren dieser Grenze stärker klopften. Denn wer konnte aus dem Land der bolschewistischen Revolution kommen, ohne selbst ein Bolschewik zu sein? Eventuell ein Schmuggler. Aber könne man nicht auch die Revolution wie alles andere einschmuggeln? Das fragte sich rhetorisch der Offizier im Hof der Festung Narva an der estnischen Grenze, also einer Grenzgarnison. Ich versuche, mir den Hof dieses bestimmt nicht allzu lustigen Gebäudes vorzustellen, an dessen Außenwand man dieses sonderbare Grüppchen mühelos hätte stellen können … Der eine murmelte, er sei ein Tscheche, der andere wusste nicht, was er war, wahrscheinlich suchte er nach der glaubwürdigsten Lüge, die dritte gestand, eine Russin zu sein, daher war wohl auch der, den sie in ihrem Bauch wie eine Kängurumutter in ihrer Tasche trug, ein Russe, wenn nicht ein Tscheche oder werweißwas sonst; jedenfalls waren sie alle vier Bolschewiken.

Die Weltgeschichte und auch die europäische Literaturgeschichte hätten einen ganz anderen Lauf genommen, hätte der estnische Offizier mit ihnen kurzen Prozess gemacht. Den hätte ihm auch niemand übelgenommen. Für den Tod des ungeborenen Kinds von Broz hätte man ihn nicht belangt, denn es starb sofort nach seiner Geburt. Aber die Geschichte? Aber die Literatur? Aber die junge Russin, die allerdings nicht zählt? Schwejk befasste sich nicht mit Russinnen, Broz hingegen erinnerte sich an sie … an eben dieser Stelle seiner Memoiren und danach nie mehr. Als er jedoch in seiner Ausführung an diese Stelle gelangte, lachte er lausbübisch, denn das ganze Ereignis war trotz der Gefahr eigentlich skurril komisch gewesen. So sind auch die besten Witze, die man sich erzählt.

Alle leugneten, etwas mit den Bolschewiken zu tun zu haben. In der Tat, ein so kluger Narr, als der sich Hašek wie die Präfiguration seiner literarischen Figur Schwejk präsentierte, konnte kein Bolschewik sein, und Josip Broz schaffte es, überzeugend zu wirken, indem er erklärte, er sei Schlosser von Beruf, indem er also zur Wahrheit griff. Daraufhin ließ der estnische Offizier eine Roma-Gruppe kommen, in der es wie in übrigens jeder anderen neben vielen reproduktiven Wunderkindern auch begabte Künstler gab. Die schon früher festgenommene Gruppe befand sich (in den Augen des Offiziers) in einer ähnlichen Lage wie die Bolschewiken, da Roma sich wenig um Grenzen scheren und nicht so leicht vor ihnen Halt machen.

Der Offizier hatte eine Idee, die in wenigen Worten in Folgendem bestand: Die Musiker sollten – hier aufgepasst! – die Internationale spielen! Roma, die von den Ustascha in Jasenovac, dem kroatischen Auschwitz, „konzentriert“ wurden, hatte man oft gezwungen, die ganze Nacht hindurch zu spielen, obwohl sie wussten, dass sie am nächsten Tag hingerichtet würden. In einer solchen Situation mussten fahrende Musiker ein reichhaltiges Repertoire haben, selbst wenn das manchmal vergeblich war.

Stellen wir uns also unser bolschewistisches Grüppchen mit offensichtlich falschen Papieren (das war dem Offizier schon klar, aber etwas ließ ihm keine Ruhe) nebeneinanderstehend vor; der Offizier geht von einem zum anderen, die Roma spielen tutta la forza die Internationale, die Geige führt, aber auch die Trommler tun sich hervor, denn sie müssen den Rhythmus der kommenden Weltrevolution vermitteln. Über einen Bären ist nichts überliefert worden. Der Offizier legt jedem in der Reihe Stehenden sein Ohr ans – Herz! Ohnehin verängstigt, verraten ihre Herzen eine besondere Erregung, ja sogar Lust!

Ich glaube, dieser Prototyp des Lügendetektors war durchaus zuverlässig. Er lieferte dem Offizier den Beweis, das verräterische Herz entlarvte die kleine Gruppe. Der Offizier gratulierte sich selbst zu seiner Erfindung. Dazu kam, dass im Hof sich schon Publikum versammelt hatte. Die Musik gefiel. Dieses Liedchen war auch gar nicht so schlecht, dachte der Offizier und ließ die Gruppe nach Estland weiterziehen mit den Worten: „Glaubt ja nicht, ihr hättet mich reingelegt!“

Es hätte auch anders kommen können. Die heutige Furie des Verschwindens hätte schon damals, vor genau hundert Jahren, in der Festung an der Grenze zu Estland einsetzen können. Aber in der Weltgeschichte ist es üblich, dass zuerst etwas furios entstehen muss, bevor die Furie des Verschwindens zum Zuge kommt. Und die bringt nie das gnädige Vergessen der Eumeniden, sondern den rachedürstenden, auf eine neue Gelegenheit wartenden Hass. Dies kommt vielleicht am stärksten, am bittersten, am engstirnigsten in der Region vor, die wir den jugoslawischen Archipel nennen: Die Inseln rücken immer weiter voneinander ab, das Meer wird immer mehr, das Festland immer weniger. Während Broz die Schlüsselfigur beim Entstehen des sozialistischen Staates war, setzte sich Jaroslav Hašek mit seinem unsterblichen braven Soldaten Schwejk ein Papierdenkmal. Ich sage ein Denkmal aus Papier, doch aere perennius, dauernder als Erz. Titos Denkmäler waren zwar aus echter Bronze, aber die symbolischen halten anscheinend länger. Das Herz von Broz erwies sich indes als stärker. Was hat dieser Mann nicht alles durchgemacht! Hašek starb an Herzversagen. Sein Herz hat ihn kaum drei Jahre später wieder verraten.

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Hundert Jahre später, im Jahre des Herrn 2020, kam es zu einem fantastischen und auch furiosen Remake des frühen Prototyps des Lügendetektors. Der war dank der Weiterentwicklung der Menschheit natürlich vollkommener. Der estnische Offizier fand seine Reinkarnation in einem höheren Polizeibeamten unserer Zeit, natürlich einem Informatiker. Nachdem sich über Jahrzehnte eine Zwischenform des Lügendetektors behauptet hatte, die ebenfalls die Herzschläge, jedoch eher im mechanischen Sinn, registrierte, gab es einen großen Schritt voran. Ich hatte persönlich die Ehre, Bekanntschaft mit dieser Zwischenform zu machen; die Erfahrung war keineswegs angenehm: Man kann noch so sehr auf das Herz schwören, das verrät einen immer!

Die Menschheit hat sich naturgemäß weiterentwickelt, neue Technologien, von denen der estnische Offizier nicht einmal geträumt hätte, haben die Kontrolle über menschliche Herzen übernommen. Er, der die Herzschläge der verdächtigen Personen sozusagen manuell zählte, hätte darüber gestaunt, wie sehr seine Erfindung verfeinert wurde. Seine Gefangenen überführte er nach Gehör, so wie die Roma-Kapelle nach Gehör musizierte.

Es geht um Folgendes: An der kroatischen Grenze im Osten, also am Rande des künftigen Schengengebiets, wurden in diesem Jahr superempfindliche Anlagen aufgestellt, die die Schläge menschlicher Herzen in geschlossenen LKWs und Kombis registrieren! Die Herzen der Emigranten pochen ohnehin stark, erst recht aber, wenn diese versuchen, zu einer, wenn nicht besseren, dann aber sicher im Moment geordneten Welt zu gelangen und auf diese Weise das nackte Leben zu retten. Die Herzen der Emigranten sind verräterische Herzen, obwohl niemand mehr von der Internationale spricht. Im Unterschied zu dem estnischen Offizier, der die Verdächtigen laufen ließ, zufrieden, dass sie ihn nicht zum Narren gemacht hatten, verzeihen diese installierten Lauscher menschlicher Herzen keinem, dessen Herz stärker schlägt. Es gibt vierhundert solcher Anlagen, deren Aufgabe es ist, die Menschen mit einem Herzen daran zu hindern, ins Land einzureisen. Die Grundvoraussetzung ist einfach: Jeder Immigrant, selbst wenn er nichts anderes bei sich hat, hat ein Herz. Das arme Herz pumpt in jeden Winkel des Körpers fünf Liter Blut in der Minute und bis zu 20 Liter in einer gefährlichen Situation, wenn es um Leben oder Tod geht.

Es gibt aber einen nahezu fundamentalen Unterschied. Der estnische Detektor im Ohr des Grenzoffiziers musste herausfinden, was die abgehörten Herzen im ideologischen Sinne antrieb. Das sollten eigentlich auch die späteren Geräte tun, die wir als Lügendetektoren kennen. (Auch ich, wie bereits gesagt, habe als eine Person mit verdächtigem Herzen Bekanntschaft mit einem solchen Gerät gemacht.)

Allerdings dient diese verbesserte Ausführung der alten Version nicht zur Feststellung, bei wem das Herz in politischem Sinne pocht, sondern, ob im Laderaum eines LKWs ein menschliches Wesen versteckt ist, das es im eigentlichen Sinne des Wortes gar nicht ist, obwohl es ein Herz hat.

Also es lebe der Fortschritt! Liberté, Égalité, Fraternité! Insbesondere das Letztere: die Brüderlichkeit des Menschengeschlechts. Die Internationale des menschlichen Elends. Vielleicht hätten Einheit, Freiheit und Brüderlichkeit weiterleben können, hätten die Furien des Verschwindens es zugelassen.

Der Herzschlag des kleinen Jungen, dessen Foto vor fünf Jahren um die Welt ging, nachdem ihn das Mittelmeer, die Wiege dieser westlichen Kultur, ans Land gespült hatte, wurde von keinem abgehört. Aber warum war diese Wiege so grausam zu ihm? An dieser Stelle will ich seinen Namen festhalten: Alan Kurdi. So hieß dieses Strandgut.

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Obwohl ich den größten Teil meines Lebens in einem weicheren Sozialismus verbracht habe, der auch einige menschliche Züge hatte, bekam ich bei jeder Grenzüberschreitung Herzklopfen. Ich glaube, dass es dafür keinen wirklichen Grund gab, obwohl die Personen, die der Staat als bedrohlich für seine Existenz einstufte, meist damit rechnen mussten, dass man ihnen den Reisepass abnahm. Andererseits gab es innerhalb dieses Archipels wenigstens keine Grenzen und man brauchte auch keinen Reisepass: Schon der Gedanke daran wäre absurd gewesen. Jetzt hingegen prangen zum Beispiel in Kroatien alle paar hundert Kilometer oder weniger neuerrichtete, beleuchtete, repräsentative Grenzübergänge, als wäre jeder von ihnen ein Triumphbogen (Arc de Triomphe). Der Zugang zu ihnen wird oft ohne jeden Sinn durch eine wütende Maßnahme oder Gegenmaßnahme erschwert; zerstrittene Völker benehmen sich eben wie zerstrittene Schulklassen. Wenn man heute mit dem Auto von Zagreb nach Novi Sad fährt, ohne den Weg über den langweiligen Autoput zu nehmen, bleibt man zwar die ganze Zeit auf dem Boden des ehemaligen Pannonischen Meers, man muss jedoch dreimal Kroatien verlassen und dreimal wieder nach Kroatien einreisen. Und das in der heutigen Welt, in der die Grenze zwischen Deutschland und Frankreich kaum sichtbar ist: leere Container, keine besondere Beleuchtung, ein Schild, auf dessen einer Seite Deutschland und auf der anderen Frankreich steht. Und das nach allem, was diese Länder einander angetan haben!

Sie taten einander dasselbe an, was die Völker des „verfluchten Landes Balkan“, wie mein Teil der Welt in der Sprache der deutschen Journalisten genannt wird, einander angetan haben.

Das Gleiche gilt für die Grenze zwischen Belgien und Frankreich, wo ich mich einige Zeit aufhielt. Die dortigen dunklen Wälder sind von Gräbern übersät, in den Baumstämmen kann man auch heute noch Patronen finden. Auf den lokalen Straßen wird die Grenze aber nicht gekennzeichnet, man kann sie leicht passieren. Ich besuchte nämlich gern belgische Tavernen … In der zivilisierten Welt interessieren sich für die Grenzen nur noch die Mobilfunkoperateure, sie ermahnen einen, wenn man auch nur einen Schritt ins fremde Land tut, weil dort nicht sie, sondern ihre französischen Kollegen kassieren. Nur das ist von Belang.

Corona ist natürlich etwas anderes. Die Grenze beginnt jetzt nach 1,5 Meter.

Aber da der Mobilfunk nicht mehr weit davon entfernt ist, die völlige Kontrolle über uns zu übernehmen, vermute ich, dass sein nächster Schritt sein wird, unsere verräterischen Herzen zu überprüfen. So wird zum Beispiel die politische Polizei, die es heute natürlich nicht gibt, während im Fernsehen die Ansprache des neuen Vaters (oder wenigstens des Onkels) der Nation übertragen wird, sofort feststellen können, ob jemand ein gutes und gehorsames Kind des Volkes ist oder ob sein Herz in einem anderen, willkürlichen und verderblichen Rhythmus schlägt.

Denn der Mensch ist eine Maschine, bei der alles von der Hydraulik abhängt. Unsere Ahnen hatten ein anderes Verhältnis zum Herzen. Wurde denn Chopins Herz, in Kognak getaucht (ein Ausdruck von Liebe), nicht von Paris nach Warschau geschmuggelt, um in der dortigen Heiligkreuzkirche aufbewahrt zu werden? Und das war nur eines der berühmten Herzen der Menschheit. Heute begegnet man dem Herzen auf Pralinenschachteln oder als Emoticon.

Dennoch ist es sehr schwer, das verräterische Herz zu unterdrücken.

Die Waisen Europas

von László Végel
Deutsch von György Buda

Credits: Daniel Végel

Du hättest in keine bessere Zeit geboren werden können
als gerade in die heutige, in der wir alles
verloren haben.
Simone Weil

1992 verabschiedete ich mich mit meinen Tagebuchaufzeichnungen von Jugoslawien. Es war Winter und Schnee fiel. Ich notierte mir damals, dass der AVNOJ, der Antifaschistische Rat der Nationalen Befreiung Jugoslawiens, fünfzig Jahre zuvor, im November 1942, in Bihać gegründet worden war. Dort wurden die Grundsteine für das sozialistische Jugoslawien gelegt.

Jetzt brach vor meinen Augen nicht nur das Land zusammen, sondern auch die persönliche Vergangenheit mehrerer Generationen. Die militante Einsatzgruppe der Führer und der einflussreichen Intellektuellen erdachte für die Volksmassen inmitten der Ruinen eine neue Vergangenheit. Ich blickte den Panzerkonvois aus dem Fenster meiner Wohnung in Újvidék/Novi Sad nach, sie rollten auf Vukovar zu und wurden von den Patrioten der Gegend und von adretten Bankangestellten mit einem Blumenregen begrüßt. Ich schloss das Fenster, die Bilder der Kraftmeierei vor meinen Augen bedrückten mich, und ich dachte, wenn ein Land mit einer Karawane von Panzern bewacht werden muss, sollte es lieber verschwinden.

Die neue Vergangenheit brach mit Panzern über uns herein.

Mir ist nicht nostalgisch zumute, wiewohl ich überzeugt bin, alles verloren zu haben. Die Bücher sind von den Regalen in meinem Arbeitszimmer verschwunden. Eine weite Leere gähnt um mich herum. Mit fünfzig lud ich zu einem Abschiedsessen ein, wenn mich die Geschichte schon dazu verurteilt hat, das Leben neu zu denken; ist es doch sündhaft geworden, sich redlich zu erinnern. Man verfolgt mein Gezappel mit wachen Augen, damit ich nicht insgeheim die geschändete Geschichte noch mit Hilfe von verdächtigen Metaphern beschwöre.

Ich legte Gedecke auf, wobei ich grübelte, wie viele Gäste wohl kommen würden. Jemand rief meinen Namen. Ich ahnte es schon, sie würden zahlreich kommen und alle würden über mich zu Gericht sitzen. Sie würden meine Irrgänge und meine naiven Illusionen auflisten, meinen Patriotismus auf die Apothekerwaage legen, wie auch meine nationalen Gesinnungen. Sie würden mich vor ein provisorisches kafkaeskes Gericht zitieren. Ich beschloss, noch ein Gedeck aufzulegen, vielleicht käme der Messias.

Die unbekannte Gästeschar strömte in Gruppen heran, gleich kriminellen Banden, sie werden das Urteil verkünden. Meine Spruchrichter fielen stumm in mein Zimmer ein, in Wirklichkeit kennen sie mich gar nicht, was sie nicht im Geringsten stört, ja, sie wollen mich gar nicht kennen. Dicht neben ihnen die Reihe der Zeugen, denen ich ebenfalls unbekannt bin. Meine Richter kamen und gingen, sie maßen mich mit verächtlichen Blicken und entfernten sich wieder, dann kamen neue Einsatztruppen.

Die Strafexpedition hat keinen Sinn. Das Urteil ist wohl schon lange fertig, es wurde mir nicht mitgeteilt, weil sie sich so in der Episode der Schlussabrechnung noch einmal ausleben können, und ich, was kann ich tun, ich räume das Gedeck für den Messias wieder weg. Der Messias ist nicht gekommen.

Das Erinnern bewirkt bei mir nichts, meine Erinnerungen wurden geplündert. Ich versuche, in meinen Romanen alles das zu bewahren, was noch zu bewahren ist. Meine Fürsorge erstreckt sich auch auf die restliche Zukunft, indem ich versuche, noch ein Scheibchen zu retten.

Ich bin gezwungen, eine lange Reise anzutreten, deren Zweck und Dauer mir unbekannt bleiben. Ich versuche meinen Koffer anzuheben, der aber ist so schwer, dass ich ihn nicht einmal von der Stelle bringe. Und doch ist sein Inhalt noch vor dem Antritt der Reise verbraucht. Ich bin mit einem leeren Koffer zum bis heute andauernden Begräbnis Jugoslawiens aufgebrochen.

*

Der Leichnam, Jugoslawien genannt, liegt aufgebahrt vor mir. Das Land entstand im Großen Krieg, als die Franzosen hofften, ein starkes Jugoslawien würde sie vor der deutschen Gefahr schützen. Die Sandburg von Versailles aber ging im Zweiten Weltkrieg unter und das antifaschistische Jugoslawien wurde erschaffen. Nachdem die Berliner Mauer endgültig gefallen war und die beiden deutschen Länder sich vereinigt und die Fackel des gemeinsamen Europa emporgehoben hatten, zerfiel das seinerzeit vielversprechende Experiment Europas in Stücke. Die Fackel flammt allerdings nicht mehr so lichterloh wie damals, weil die Führer der Nationalstaaten ihr die Sauerstoffzufuhr blockieren. Neue, festere, unsichtbare Mauern werden errichtet, jeder schützt seine Souveränität, wie er kann.

Anfangs wurde die Trauerfeier in der verfluchten Gegend mit Gewehrschüssen und Kanonendonner abgehalten. Die Donau spülte Leichen ans Ufer, es war geboten, sich zu verhalten, als wäre überhaupt nichts vorgefallen. Die örtlichen Sender berichteten detailliert über die Erfolge des Novi-Sad-Korps. Auf dem leeren Grundstück meiner Wohnung gegenüber trafen regelmäßig vollbeladene Lastautos ein, von welchen teures Porzellan, Gemälde mit sakralen Themen, Fahrräder, Fernsehgeräte, Waschmaschinen und anderer Hausrat gezerrt wurden. Krieger von der Front in Vukovar verscherbelten hier ihre Diebsbeute. So manche Passanten wandten beim Anblick der Hökerei das Gesicht in Abscheu ab, andere feilschten und kauften die blutbefleckten Waren glücklich auf. Die paramilitärischen Truppen plünderten Vukovar genauso aus wie die eminenten Mitglieder der neuen Klasse das in Trümmern liegende Jugoslawien. Der Ausverkauf der Kriegsbeute begann. Auch die Milizionäre wollten einen bescheidenen Gewinn lukrieren, man kann ja kein Gratis-Patriot sein. Vom Tisch der neuen Oligarchen mussten doch auch für sie einige Krümel abfallen. Die großen Fische lächelten nur. Sie deklamierten im Fernsehen ihre Ansichten von Heimatliebe und Selbstaufopferung, sie feuerten das Volk zum Krieg an, während sie selbst das sozialistische Volksvermögen emsig plünderten.

Der Kleptokapitalismus und die bis ans Kinn bewaffnete Demokratie begrüßten mich im Tarnanzug. Sie wären auch dann gekommen, wenn wir sie nicht gewollt hätten. Ich muss anerkennen, wir waren sehr darauf aus, bloß nannten wir es nicht Kapitalismus. Wir wiederholten nur die Schlagworte Parlamentarische Demokratie, Freier Markt, Mehrparteiensystem. Nachdem die Herren das Volksvermögen untereinander aufgeteilt hatten, schlossen sie Frieden. Sie bebauten die leeren Grundstücke, da stand dann eine prosperierende Bank, daneben wurde ein elegantes Hotel errichtet, die Felduniformen wurden von modischen, europäischen Markenanzügen abgelöst; die gestern noch Tarnuniformen trugen, die elastischen Professoren der Rechtswissenschaften, die tonangebenden Patrioten und cleveren Politiker beteuerten, es sei ja nichts geschehen, es habe Schuld auf beiden Seiten gegeben, jetzt sei nur wichtig, vertrauensvoll in die Zukunft zu blicken. Die schöne neue Zeit war angebrochen. Ich bemerkte, dass die Parlamentsabgeordneten in letzter Zeit alle Manschettenknöpfe anlegen.

Die Barbaren von gestern gefallen sich heute in Designeranzügen westlichen Zuschnitts.

Vergessen wir die Ruinen der Städte! Vergessen wir Sarajevo, Dubrovnik, Mostar, Vukovar und die Tausenden von unbekannten, verlassenen Geistersiedlungen und Dörfer, deren Brandgeruch vom lauen Frühlingswind herangeweht wird. Vergessen wir, wie lange der Himmel von einer dicken Rauchwolke verdeckt war. Vergessen wir, dass Gott sich hilflos in der Höhe versteckt hielt, ich befürchte, wir haben ihn vertrieben. Vergessen wir, dass Hunderttausende in alle Richtungen der Windrose geflohen sind. Vergessen wir die Straßen und Plätze voller stinkender Leichen, verziert mit den Nationalflaggen und Symbolen. Vergessen wir die kaum hörbaren, erstickten Rufe vergewaltigter Frauen in der Ferne, ihr Wehklagen. Vergessen wir die Massengräber, ausgehoben von treuen Patrioten ihrer Nation in diesem ehemals schönen, an Naturschätzen reichen Land, das Brüderlichkeit und Einheit verkündete, das das größte Experiment Europas nach 1945 darstellte, in dem drei Religionen und zahlreiche Nationen hätten miteinander leben sollen.

Das 21. Jahrhundert ist angebrochen, das Jahrhundert der sündigen Amnesie.

Generationen wachsen auf, die ihre Erinnerung auf Knopfdruck verlieren.

Die Wunde Srebrenica schmerzt am erstarrten Körper Europas.

In der seitdem vergangenen Zeit erscheinen wir immer weniger vor der aufgebahrten Leiche Jugoslawiens, der Erinnerungsraub hat das Seine getan. Vor der Totenbahre salutieren nur einige Freunde und mir unbekannte Menschen in stillem Gedenken, Serben, Kroaten, Slowenen, Bosniaken, Montenegriner, Mazedonier … Sie alle stehen mit gesenktem Kopf da. Es gibt keinen Festredner, wir sind nicht zum Würdigen gekommen, nur zum Trauern. Meine Freunde haben alles verloren, was ihnen einmal gehört hat, sie nehmen resigniert zur Kenntnis, dass sie alle in eine neue Heimat geraten sind, Staatsgrenzen trennen sie voneinander, sie sind Bürger stolzer und souveräner Nationalstaaten geworden, die sie dereinst, eines schönen Tages in das nationale Pantheon aufnehmen werden, denn ein Nationalstaat kann auch gegenüber verlorenen Söhnen gnädig sein.

Ich trauere mit ihnen gemeinsam, als Mitglied einer Minderheit habe ich denselben Verlust erlitten wie die Mehrheit, bloß habe ich als Kompensation keinen Nationalstaat bekommen. Ich wurde ein Waise Jugoslawiens. Meine Freunde werden neue Hymnen bekommen, sie erinnern sich an die alte höchstens mit Nostalgie, singen die neue gezwungen mit, ich aber bleibe ohne Hymne und bei großen Nationalfeiern werde ich nur den Mund tonlos aufreißen, wie ein Fisch auf dem Trockenen. Das abgestumpfte Europa ahnt nicht einmal, dass Pandoras Büchse geöffnet und ein Virus freigesetzt wurde, das Virus des ethnischen Populismus, das binnen zweier Jahrzehnte den ganzen Kontinent befallen wird. Vorerst sinniert es darüber, dass es einen Cordon sanitaire errichtet, der es beschützt, und es wendet unschuldig den Blick von der Szene ab, in der der Rechtsextremismus fröhliche Urständ feiert.

Meine trauernden Freunde und ich sind am Massenmord unschuldig, und trotzdem sühnen wir vor dem Leichnam, denn die Sühne ist unumgänglich für uns, büßen doch heutzutage nur die Unschuldigen.

Wir sehen einander ratlos an.

Wir wissen nicht, wo wir das heimatlose Jugoslawien bestatten sollen.

Es hat keine Grabstätte.

Ich möchte anregen, in einem beliebigen europäischen Museum einen Platz für die ewige Ruhe Jugoslawiens zu suchen. Doch ich überlege es mir, bedeutete doch Jugoslawien für mich ein Leben lang Europa, war es doch meine Europa ersetzende Ersatzheimat.

Ich habe sie verloren. Meine heimatlos gebliebenen Freunde haben als Wiedergutmachung eine bis an die Ohren waffenstarrende Miniheimat bekommen, ich aber habe eine europäische Ersatzheimat verloren und mir wurde ein bewaffneter Nationalstaat als Erbteil zugesprochen.

*

Ich hatte die Strecke Skopje-Ljubljana öfter im Glauben zurückgelegt, im vielfarbigen Europa zu reisen. Die Unterschiede zogen mich an, niemals hätte ich gedacht, sie könnten dermaßen explosiv sein. Es musste nur jemand die Lunte anzünden.

Inzwischen zaudert die Europäische Union. Sie kann nicht viel ausrichten, ist sie doch nur eine Union von Nationen. Jeder Nationalstaat verfügt über ein Vetorecht, Europa erinnert an einen lahmen Riesen. Zwischen der europäischen Utopie und der Brüsseler Wirklichkeit gähnt eine Schlucht. Mein einziger Trost ist, dass ich zwei Reservebänke habe: Serbien und Ungarn. Von Zeit zu Zeit wechsle ich sie, mal sitze ich hier, mal da. Ich gaukle mir vor, mit meinen beiden Kulturen reicher zu sein, indessen höre ich die vorwurfsvolle Frage, mit welchem Recht ich zwei Reservebänke beanspruche, ich soll mich entscheiden und mich mit einer zufriedengeben, ich soll hierher oder dorthin gehören.

Verwaist stehe ich vor der Leiche herum, die wir nicht beerdigen, vor der wir nur träge Wache schieben und stumm trauern.

Selbst nach drei Jahrzenten gibt es niemanden, der sie würdig bestattet hätte, sie liegt, gemeinsam mit unsrer Vergangenheit, aufgebahrt im Niemandsland.

*

Ich stammle, im Kampf mit meinem Gewissen: Wir hatten einst einen Sozialismus, den nicht die Bajonette der Sowjets gebracht hatten, er war ein Produkt unsrer eigenen antifaschistischen Bewegung. Es gibt niemanden, auf den wir die Verfehlungen des Sozialismus und mit ihm zusammen unsere eigenen abwälzen könnten. Wir können nicht sagen, die Russen hätten ihn uns aufgezwungen. Über die Verfehlungen aber sollten wir sprechen, doch ermangelt es mir an Seelenstärke, habe ich doch damals, als er sich auf dem Höhepunkt seiner Kraft befand, mit ihm argumentiert; nach seinem Hinscheiden werde ich ihn nicht mit Füßen treten. Ich nehme seine Sünden stoisch auf mich und murmle ängstlich seine Verdienste vor mich hin.

Als Gymnasiast ließ ich mit meinen Klassenkameraden die jugoslawische Fahne flattern, als die Limousine Marschall Titos voller Würde die Hauptstraße Újvidéks/Novi Sads entlangrollte. Wir winkten ihm zu und er winkte zurück. Seine Frau Jovanka grüßte uns mit ihrem allseits bekannten Jugo-Lächeln. Wir hatten eine Utopie, die heutzutage als sündhaft gilt. Wir hatten eine Welt, die wir für wirklich hielten.

Sozialismus, brummle ich dahin, derweil ich den antikommunistischen Tiraden ehemaliger Kommunisten lausche. Die neue Generation, Kinder des Kapitalismus, sie verstehen nicht, was hier bewiesen werden soll. Wenn nur jemand eine Lanze für den Sozialismus bräche, dann verstünde die heutige Jugend vielleicht die seinerzeitigen leidenschaftlichen Diskussionen, deren Tonaufnahmen und Abschriften in staubigen Aktenbündeln versenkt wurden. Ich nahm zur Kenntnis, dass man darüber am besten schweigt. Dies erkannte ich, als ich vor Kurzem, unterwegs in die Buchhandlung in der Njegoš-Straße, zwei Schülerinnen erblickte, die vor einem alten Haus stehen blieben. Die eine zeigte auf eine Figur, die im Schaufenster stand. „Siehst du, das ist der Tito. Großvater hatte sein Foto auf der Anrichte stehen. Einmal fragte ich ihn, wer der Typ sei. Vielleicht ein entfernter Verwandter? Darauf sagte er nur, Liebes, du bist noch ein Kind, du würdest es eh nicht verstehen, wer Tito war.“ Das andere Mädchen sah nachdenklich drein und fragte: „Und hat er nicht gesagt, wann er dir verraten will, wer dieser Tito ist?“ „Nein, er ist vor zwei Jahren gestorben“, antwortete ihre Freundin. Im Weitergehen blickte ich noch zurück, die ratlosen Kinder des Kapitalismus standen noch immer vor der Auslage. Ich glaube, so stehen auch die verwaisten Generationen vor dem Tor der Geschichte herum.

Bei mir regte sich Schuldbewusstsein. Wir schulden uns die Vergangenheit des 20. Jahrhunderts. Was bedeutet Faschismus? Was bedeutet Kommunismus? Heutzutage setzen viele ein Gleichheitszeichen zwischen die beiden Begriffe, und das belastet die Väter und Großväter schwer. Ich bin noch die Kalkulation schuldig. Wäre der Sozialismus nicht über mich hereingebrochen, wäre ich wahrscheinlich in meinem Dorf geblieben, Arbeiter geworden wie mein Vater oder Bauer wie mein Großvater. Als erste Generation, die vom Land in die Stadt kam, stellte ich mir vor, ich würde eine neue Welt erschaffen, ich protestierte und diskutierte, ereiferte mich und träumte von einem Sozialismus mit menschlichem Antlitz, sodann von einem Kapitalismus mit menschlichem Antlitz, schwärmte für die Samtene Revolution, schließlich taumelte ich im Zeitalter der digitalen Revolution in die feudale Tradition.

Der Sozialismus hat mich zur Schule geschickt, für mich gesorgt, mich erhoben – und oft erniedrigt. Jahrzehntelang grübelte ich, wie ich ihm denn gerecht gegenübertreten sollte, denn so, wie ich meine eigene Vergangenheit nicht korrekt beurteilen kann, kann ich mit meiner Gegenwart auch nichts anfangen.

Im Interesse der größeren Freiheit wurde ein Verhalten, das an die Grenze des Verrats streift, ein politischer Zwang. Ich weine der Vergangenheit nicht hinterher, habe keinen Grund dafür, lebe ich doch auch jetzt in denselben bescheidenen Verhältnissen wie seinerzeit. Ich war kein Kommissar des Einparteiensystems, aber auch des Mehrparteiensystems nicht. Nie hatte ich irgendeine Funktion inne, war weder Chefredakteur noch Direktor. Als Autor kann ich freier sprechen als damals, zugleich aber gehört es zur Wahrheit dazu, dass seinerzeit das Wort mehr Risiken barg und mehr Gewicht besaß. Immer öfter nehme ich die Bibel zur Hand, um auch damit dagegen aufzubegehren, dass die Politik zur neuen Religion geworden ist. Die Parteienführer sind die neuen Kirchenoberhäupter, die Priester und Popen ministrieren lediglich neben ihnen.

*

Ich weine der Vergangenheit nicht nach, doch betrauere ich sie, wie es sich gehört. Nach dem Friedensabkommen von Dayton machte ich mich in elender Stimmung auf in die Nachfolgestaaten meiner ehemaligen Heimat. Ich wurde von Schuldbewusstsein geplagt, wiewohl ich kein Wort gegen den einen oder anderen neu entstandenen Staat sagte. Angsterfüllt ging ich von Serbien aus in die ehemaligen Länder Jugoslawiens, wurden doch diese auch auf den Leichen Unschuldiger errichtet. Die Verbrechen wurden in meinem Namen begangen. Wenn ich zu den Wahlen gegangen bin: deshalb. Wenn ich nicht zu den Wahlen gegangen bin: deshalb. Wie ich es auch drehe und wende, ich habe zur Verfestigung und zum Sichern der Macht der neuen Ordnung beigetragen, auch wenn ich mir darüber im Klaren war, dass die roten Teppiche, die in die Parlamente führten, von Blutstropfen gefärbt waren. Ich lebte in einer Zeit der Sühne ohne Schuld.

Mit der Zeit blieben die Beteuerungen der Rechtsstaatlichkeit aus. Sie wird heutzutage ohnehin nur noch von den verwaisten und mitleidig belächelten Menschenrechtsorganisationen angemahnt, die zu ihrem Unglück immer wieder verdächtigt werden, fremde Interessen zu bedienen. An einer Wand erblickte ich zwei Riesenplakate, auf dem einen prangte das Portrait Ratko Mladić‘, des Angeklagten in Den Haag, auf dem anderen die Reklame einer multinationalen Firma. Man könnte sagen, ein Marketing-Handschlag, der in diesem Fall nichts anderes bedeutete als das Eintreffen der Zukunft. Das Kapital hat die Utopie der Europäischen Union besiegt.

*

Die Jahre, ja, die Jahrzehnte ziehen ins Land. Serbien trottet auf die Europäische Union zu, den Berichten aus der EU zufolge aber recht behäbig. Die neunziger Jahre liegen hinter uns, doch bedrücken sie uns noch immer. Schwer zu sagen, was geschehen ist. Wurde Milošević gestürzt oder ging eine Ära zu Ende? Ich hoffe, sie möge beendet sein, andererseits wage ich nicht zu behaupten, dass eine neue Ära angebrochen ist. Stattdessen lebe ich bis heute in einer Übergangszeit. Ein Minister der gegenwärtigen Regierung erweist dem Grab des damaligen Diktators seine Reverenz, nennt ihn einen Helden der Nation, und die Mehrheit des Landes nickt bei den Wahlen alles stumm ab. Wir sind zum Ausgangspunkt zurückgekehrt, nur sprühte damals ein Fünkchen Hoffnung, jetzt aber heilen wir die von der Hoffnung geschlagenen Wunden mit der Medizin des Überlebens. Alles hat aufgehört. Und es ist nicht möglich, eine unvollendete Geschichte dem Vergessen anheimzugeben.

Sie sind dieselben, dortselbst, und doch nicht genauso. Damals war die Welt schwarz-weiß, heute ist alles klebrig und grau in grau.

Serbien war in den Neunzigern ein Kontrapunkt Europas, ein Paria, ein Ausgestoßener. Heute hat es sich den ostmitteleuropäischen ethnopopulistischen Trends angeglichen. Der grobe und ungezügelte Nationalismus der neunziger Jahre wechselte zum Diskurs des demokratischen Nationalismus. Die Idee des Nationalstaates gewann an Kraft, sie schloss sogar mit dem Großteil der politischen Eliten der nationalen Minderheiten Frieden. Serbien wird von keinem wirtschaftlichen Embargo bedroht, die ausländischen Investoren bezeugen Interesse, das internationale Kapital, gestützt mit dem Geld der serbischen Steuerzahler, ist an der Konsolidierung der gegenwärtigen Regierung interessiert. Die neue Generation entsagt dem öffentlichen Leben und zieht sich trotzig in den Cyberraum zurück. Die zornigen und misslaunigen Jungen um die zwanzig revoltieren von Zeit zu Zeit gegen die konformistischen Väter. Die biederen Demonstrationen sind folgenlos geblieben. Linke Intellektuelle wiederholen immer wieder, die Arbeiterklasse sei verschwunden, wir lebten nicht im Zeitalter der Revolutionen. Die Extremisten blinzeln verführerisch nach dem rechten Spielfeld. Auf Hausmauern werden Hakenkreuze gepinselt, aus dem Dunstkreis der schulterzuckenden herrschenden Elite wird auf die Meinungsfreiheit verwiesen. Ein Großteil der Intellektuellen hat mit der Macht einen Sonderfrieden geschlossen, oder er verhält sich subversiv, oder aber er kehrt dem öffentlichen Leben einfach den Rücken, wie die Zwanzigjährigen. Was bleibt, ist der Schreibtisch, keine Funktion, kein Posten, kein Amt.

*

Die größte Veränderung ist auf den Friedhöfen zu beobachten, sie sind viel gepflegter als vor fünfzig oder zwanzig Jahren. Ich lese bekannte Namen von den Grabsteinen. Eine Frau kommt mir entgegen, sie schiebt ein dreirädriges Fahrrad voller Blumensträuße und Gießkannen. Außen hängen am Dreirad Rechen, Spaten und Hauen. Ich fange mit ihr ein Gespräch an, es stellt sich heraus, sie ist eine professionelle Grabpflegerin. Es gehe nämlich darum, erklärt sie mir, dass Leute massenhaft ins Ausland gegangen seien und nicht mehr, so wie einst, als Besucher in die Heimat zurückkehrten. Für zehn Euro pro Monat legt sie, wie bestellt, einen Blumenstrauß auf das Grab, wischt die Marmorplatte ab und bringt eventuell die Umgebung des Grabes in Ordnung. In den Begräbnisstätten eröffnet sich für uns das typische ostmitteleuropäische Panorama nach den samtenen Revolutionen.

*

In meinem Roman Balkáni szépség, avagy Slemil fattyúja (Deutsch etwa: Die Schönheit vom Balkan oder Der Bastard Schlemihls) befrage ich das 20. Jahrhundert. Die Geschichte beginnt 1918, ein Handwerker versteift sich darauf, seine Werkstatt und seine Heimat selbst um den Preis seines Lebens zu erhalten. Es geschieht nichts weiter, als dass er beide verliert. Wo einst die Werkstatt stand, wird ein Wellnesshotel errichtet und ein Gedenkpark angelegt. Anfangs dachte ich, dieser Roman behandle den Menschen in der Minderheit. Mit der Zeit aber sah ich ein, dass es auch eine andere, eine geheimnisvolle europäische Minderheit gibt, die mich an meine Romanfigur Schlemihl erinnert. Sein Problem besteht nicht darin, dass ihm der Schatten genommen wird, sondern dass er mehrere Schatten besitzt und nicht weiß, welcher der echte sei. Wenn er das wüsste, wäre er kein Europäer mehr. In diese Lage ist Europas geheimnisvolle Minderheit geraten, der europäische Bürger, der seine europäische Identität ernst nimmt und sie behütet. Alle, die sich ungebrochen als Europäer sehen, sind zu Waisen Europas geworden. Unter ihnen suche ich nach Zuflucht.

*

War das 20. Jahrhundert so kurz und wurde es 1989 tatsächlich beendet, wie Historiker es behaupten? Eines ist sicher, die Wunden sind nicht verheilt, also blieb das Jahrhundert verstümmelt. Die Zeit raste ohne uns davon, sie ließ die Menschheit am Wegrand zurück. Der Fortschritt vergaß uns, was weder human noch inhuman ist, er brauchte uns einfach nicht mehr, also beging er Fahrerflucht. Wir hingegen bezeichneten ihn aus Rache als Mohnsaft der Aufklärung.

Von welchem Fortschritt sprechen wir? Die neue Utopie ist konservativ, rückwärtsgewandt. Wir, die Waisen Europas, trotten alleingelassen durch das Buschwerk am Straßenrand, dem Fortschritt hinterher, den nicht mehr wir lenken, er zwingt uns vielmehr nach seinem eigenen Gesetz in eine uns unbekannte Richtung.

Die apokalyptische Uhr

von Faruk Šehić
Deutsch von Elvira Veselinović

Credits: Dženat Dreković, NOMAD

Die Zeit meines persönlichen Kataklysmus beginnt am 21. April 1992. An diesem Tag griffen bewaffnete serbische Extremisten, unterstützt durch die ehemalige Jugoslawische Volksarmee, meine Stadt an. Es waren unsere ‘Nachbarn’, Mitbürger, die sich in einer konzertierten Aktion aus der Stadt zurückgezogen hatten, um uns von den umliegenden Bergen her anzugreifen.

Der Angriff auf mein Land hatte schon vor diesem Datum stattgefunden, denn bis zum 21. April waren bereits viele Städte an der Ostgrenze zu Serbien, das damals noch Jugoslawien hieß, zerstört. In dem Moment, in dem Slowenien, Kroatien sowie Bosnien und Herzegowina Jugoslawien verlassen hatten, hörte dieser Staat in unser aller Bewusstsein nominell auf zu existieren. Doch dieser Staat stellte sich gegen uns alle, die wir ihn liebten und auf jede erdenkliche Weise zu seinem Erfolg beigetragen hatten.

Jeder Bürger von Bosnien und Herzegowina trägt diese zwei Uhren, diese zwei Zeitrechnungen tief in seinem Bewusstsein, in Leib und Seele sowie im Herzen.

Die erste Uhr fängt dort an zu schlagen, wo alles offiziell begonnen hat, die zweite ist eine wesentlich wichtigere, persönlichere Uhr, sie misst die Zeit ab dem Moment der Vertreibung aus dem eigenen Haus. Sie misst die Zeit, seit der man zum Flüchtling wurde, oder sie zählt die Stunden seit dem Moment der eigenen Verwundung, dem Kriegstod einer nahestehenden Person. Manche Uhren sind zum Abzählen bis zur Todesstunde bestimmt. In meiner Stadt ticken fünfhundert Soldatenuhren so lange, wie wir, die Überlebenden, existieren. Solange wir uns an unsere toten Freunde, Verwandten und Mitkämpfer erinnern.

Was die persönliche Uhr alles misst, kann man unmöglich zu Papier bringen. Ich versuche das schon die letzten 20 Jahre, seit ich als Schriftsteller öffentlich auftrete, doch ich weiß, dass ich mich kaum vom Ausgangspunkt entfernt habe. Schon die Tragödie eines einzelnen Menschen ist unbeschreiblich, hier aber reden wir von der Tragödie Hunderttausender Menschen aus diesem Land.

Diese persönliche Uhr ist die apokalyptische Uhr. Jeder Mensch hat eine. Der Krieg ist die Apokalypse, nur war damals niemand da, um uns das zu sagen. So wie auch nach dem Krieg niemand da war, um uns zu sagen, dass wir im postapokalyptischen Zeitalter leben. Lediglich den Fachbegriff ‘Post-Konflikt-Gesellschaft’ haben uns wohlmeinende Menschen aus dem Ausland verliehen, der erklären sollte, in was für einer Gesellschaft wir da jetzt leben.

Die kühle Terminologie der Wissenschaftssprache wird der apokalyptischen Uhr in keiner Weise gerecht. Sie erkennt sie nicht an, denn der Terminus ‘Post-Konflikt-Gesellschaft’ kennt nur die sogenannten Kriegsparteien. Nicht in jedem Krieg gibt es Kriegsparteien, es gibt die angegriffene Partei und die angreifende. Deshalb ist dieser Begriff völlig falsch, genau wie der Begriff Bürgerkrieg falsch und schändlich ist, mit dem der ‘wohlmeinende’ Fremde unseren Krieg, unsere Apokalypse beschreiben möchte.

Die Apokalypse besteht nicht aus den physisch zerstörten Städten, Dörfern, Brücken, Geburtskliniken oder Friedhöfen. Für mich ist die Apokalypse jener Moment, in dem alle Werte der bürgerlichen Gesellschaft einstürzen. Wenn alles, was schrecklich, unnormal und fürchterlich ist, völlig normal, gesellschaftlich akzeptabel und sogar wünschenswert wird.

Diese Apokalypse geschieht vor der eigentlichen physischen Zerstörung. Sie geschieht leise und unsichtbar. Der aufmerksame Zeitungsleser kann ihre Vorzeichen erkennen. Allzu oft ist dies eine Entmenschlichung bestimmter sozialer Gruppen, Individuen oder ganzer Völker.

So erschien beispielsweise in der Zeitung Kozarski Vijesnik aus Prijedor vor dem Beginn des Krieges 1992 eine Reihe von Texten, in denen Einwohner bosnischer, kroatischer und weiterer Nationalitäten entmenschlicht wurden. In dem konkreten Fall berichteten der Kozarski Vijesnik und Radio Prijedor von einem angehenden Facharzt der Gynäkologie aus Prijedor, Dr. Željko Sikora, der “bei Serbinnen, die mit männlichen Föten schwanger waren, Abbrüche hervorrief und serbische Neugeborene kastrierte”. Obwohl ethnischer Tscheche, war dieser im Bewusstsein der Bösewichte Kroate, denn alle Kroaten wurden damals von serbischen Nationalisten mit Ustaschas gleichgesetzt.

In der Belgrader Tageszeitung Ekspres politika wurde er “Monster-Doktor” genannt. Im Bericht der damaligen Bundesrepublik Jugoslawien an die Expertenkommission der UN unter »Indizien über Täter im unmenschlichen Umgang mit Zivilisten in Prijedor 1989-1992« wird Dr. Željko Sikora (gemeinsam mit zwei Ärzten bosniakischer Nationalität) erwähnt. Als ihr Hauptvergehen wird angeführt: “Systematische Drosselung der Geburtenrate unter der serbischen Bevölkerung im Bereich der Gemeinde Prijedor mittels Kastration von Neugeborenen serbischer Nationalität. (…) Durch Anwendung verschiedener Medikamente und Experimente machten sie Kinder im Krankenhaus von Prijedor zeugungsunfähig, stellten absichtlich Fehldiagnosen und gaben Erwachsenen serbischer Nationalität die falschen Medikamente.”

Als Folge solcher Anschuldigungen durch die Medien wurde Dr. Željko Sikora im Konzentrationslager Keraterm genauso wie Tausende seiner Mitbürger ‘falscher’ ethnischer Zugehörigkeit (in anderen Lagern) ermordet. Sein Leichnam wurde neben einem Müllcontainer auf dem Gelände des Lagers gefunden. Bevor man ihn tötete, war er täglich verprügelt worden.

Der Kozarski Vjesnik erscheint bis heute regelmäßig. Wenn man Željko Sikora als Suchbegriff ins Zeitungsarchiv eingibt, bekommt man überhaupt keine Information. Željko Sikora war der letzte männliche Nachkomme der Familie Sikora. Für seine »Verbrechen« wurde nie auch nur ein einziger Beweis gefunden, ebenso wenig wurde er je vor Gericht gestellt. Auch ist sein Name bis heute nicht von der Verleumdung reingewaschen.

Die Entmenschlichung und Dämonisierung von Gruppen, Einzelpersonen und ganzen Völkern währte schon lange vor dem unmittelbaren Kriegsbeginn auf dem Territorium des auseinanderfallenden damaligen Jugoslawiens. Das Ziel dieser Vorgehensweise war es, die gewöhnlichen Menschen auf Morde, Massaker und schließlich auch auf den Völkermord selbst als etwas vollkommen Gewöhnliches vorzubereiten.

Am 21. April 1992 wurde ich erstmals zum Flüchtling, und ich werde wohl nie mehr so ganz aufhören, ein Flüchtling zu sein, denn das ist nicht nur ein Status in der Kartei des Roten Kreuzes, sondern das Gefühl der fehlenden Zugehörigkeit in einem drin, zu nichts und niemandem. Ich liebe das Land, in dem ich lebe, aber nicht als Staat, nur als Land: als Summe von Landschaften und Naturschönheiten.

Wenn du Flüchtling wirst, ist das kein physischer Schmerz, es ist ein völlig schmerzfreier Vorgang, aber es gibt andere, unsichtbare Teile von dir, die noch jahrelang an fürchterlichen Phantomschmerzen leiden werden. In der Medizin verwendet man diesen Begriff, wenn ein Bein wehtut, das man nicht mehr hat, das einem abgeschnitten wurde. Uns hat man von unserem Vorkriegsleben abgeschnitten, und diese Phantomschmerzen sind etwas, das wir mit ins Grab nehmen werden.

Man wird mit der eigenen Biographie konfrontiert und muss sie annehmen wie alle Narben, die man an Leib und Seele trägt. Auf diese Weise kommt man immer vorwärts, denn das Einzige, was im Krieg nicht von einer Artilleriegranate zerstört werden kann, ist das Leben selbst. Der Wunsch nach Leben ist größer und stärker als alles.

Also griff ich zur Waffe und wurde Soldat.

Oft werde ich bei Lesungen im Ausland gefragt, ob ich Freiwilliger war. Für mich ist das immer ein Problem, denn wie soll ich den Leuten erklären, dass ich aus meiner Wohnung, meiner Straße und meinem Viertel vertrieben wurde, nur weil ich eine andere Augenfarbe hatte. Natürlich griff ich im selben Moment zur Waffe, eigentlich hatte ich nur eine Pistole, denn im April 1992 waren wir nicht gerade üppig bewaffnet.

Die ‘Außenwelt’ in Form der Vereinten Nationen verhängte ein Waffenembargo gegen unser Land. So waren wir dem bis auf die Zähne bewaffneten Feind auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.

Der Grund, weshalb man uns im Stich ließ, liegt darin, dass die feindliche Propaganda uns sehr erfolgreich als Fremdkörpergewebe im Leib Europas darstellte. Wir wurden als ‘blutrünstige Moslems’ bezeichnet, ‘die grüne Gefahr’, ‘Mudschahedin’, obwohl viele von uns Atheisten waren, säkulare Bürger, Jugoslawen, Bosnier, Linke, Kosmopoliten, Waver, Punker usw. All diese Identitäten wurden getötet und unter die Erde verfrachtet. Während das geschah, sprachen einzelne hochrangige europäische Politiker von der ‘schmerzlichen und qualvollen Restauration des christlichen Europa’. Wir waren Versuchskaninchen bei der Entwicklung der heutigen globalen Islamophobie.

Ich war mitnichten ein Freiwilliger, denn es war für mich keine Frage des freien Willens, zum Gewehr zu greifen, vielmehr war ich gezwungen, für mein biologisches Überleben zu kämpfen. Wir waren im April 1992 bereits von allen Seiten umzingelt, weshalb es nicht möglich war, dem Krieg zu entfliehen und aus sicherer Entfernung den Klugscheißer-Pazifisten zu geben, der sich zynisch über die Kriegsparteien äußert.

Über meine Erfahrungen im Krieg und als Soldat habe ich zahlreiche Gedichte, Kurzgeschichten, einen Roman und viele journalistische Texte geschrieben, weshalb es überflüssig wäre, alles zu wiederholen. Ich war Angehöriger der Armee von Bosnien und Herzegowina, nicht irgendeiner ‘muslimischen’ Armee, wie uns unser Feind und die ausländischen Beobachter von 1992-95 nannten. Einmal wurde ich schwer am linken Fuß verwundet. Ich ging ein halbes Jahr an Krücken. Danach kehrte ich zu meiner Einheit zurück und tat den gleichen Dienst wie vor der Verwundung. Ich wurde Zugführer (die Säule einer jeden Armee) und führte gegen Kriegsende 130 Mann in offensiven Aktionen an. Wie die meisten Menschen in Bosnien und Herzegowina hatte auch ich PTBS, dessen Auswirkungen erst spürbar werden, wenn der Krieg zu Ende ist.

Für meine militärischen Fähigkeiten wurde ich während des Krieges und danach mehrfach ausgezeichnet.

Als der Krieg vorbei war, versuchte ich das zu sein, was ich vor dessen Anfang war, ein Student der Veterinärmedizin im dritten Studienjahr. Doch schnell ließ ich das wieder sein und schrieb mich für Literatur ein. Ich begann täglich auf einer Olympia Monica von 1967 zu schreiben. Ich wollte Schriftsteller werden und wurde es.

Im Manuskript meines Romans Zimtbriefe gibt es folgende Passage, die am besten abbildet, in was für einer Welt wir da lebten, nachdem der Krieg nur formal zu Ende war:

„Das war keine ruin bar, jedenfalls war es das noch nicht geworden. Und wir nannten es Zauberwürfel, nicht weil es würfelförmig oder gar zauberhaft war, sondern weil das gut klang.

Wir kamen jeden Tag dorthin, zur täglichen und nächtlichen Therapie. Die ganze Stadt war eigentlich eine riesige Freiluft-ruin-bar, während der Zauberwürfel aufgeräumt, sauber und ziemlich neu war. Ich weiß nicht, woher der Hauptmann die für die Inneneinrichtung notwendigen Dinge besorgt hatte, aber sie waren da und glänzten wie die längst verlorenen Sonnen irgendeines Friedens.

(…)

Die Kellner hatten wohl Nerven wie Drahtseile, denn unser erster Krieg war gerade erst zu Ende. Wir konnten damals nicht wissen, dass dies erst unser erster Krieg war. Wer hätte wissen können, was passieren würde, wenn wir alles, was wieder aufzubauen war, in Gänze wieder aufgebaut hätten? Erst flickten wir die Häuser, bauten sie neu. Die Innenausbauten in uns selbst gingen nur langsam vonstatten. Unsichtbare Brandschäden waren schwerer zu beseitigen. Ersatzteile für den Innenaufbau standen uns nicht zur Verfügung, denn der Rest der Welt hatte uns vorübergehend aus den modernen Abläufen der Zivilisation ausgeschlossen. Und auf Krieg folgt Korruption und die Fortsetzung des Krieges mit friedlichen Mitteln; der Nationalismus wuchert wie Unkraut und ist nur schwer aufzuhalten. Manche Dinge geschehen hinter den Kulissen. Unsere Kulisse sind Ruinen voller kalter Asche, etwas ist außerhalb unseres Willens und wächst, obwohl wir es nicht beachten, da wir mit unseren eigenen Wunden beschäftigt sind.

Wunden sind wichtig, und es ist notwendig, die eigenen Wunden und die der Stadt zu versorgen. Dass wir uns nicht mit dem Hass beschäftigt haben, heißt nicht, dass er nicht in der Stille seines Amtes gewaltet hat. Die Schrecken des Krieges haben uns vom Hass geheilt. Nur, wer im Krieg alles Mögliche erlebt hat, weiß, dass der Hass den Menschen eingetrichtert wird, um die stets gleichen Kriegsziele leichter zu verwirklichen – Kampf ums Territorium und den Reichtum, den dieses mit sich bringt.

In vielen Menschen existiert der Hass bereits und muss nicht mehr angestachelt werden. Das Böse hat Vor- und Nachnamen, Augenfarbe, Finger, Brusthaare, Muttermale und Leberflecke, Narben vom Bolzplatz. Das Böse ist familientauglich, mag Kinder, das Böse ist sozial, verkehrt in Vorkriegscafés, hat ein breites Lächeln und noch alle Zähne im Kopf. Es ist das kleinbürgerliche, graue Böse. Es gibt auch ein anderes, besoffenes Böses, das Lumpenproletariat mit Zahnlücken. Es ist schwierig, das mit dem Bösen einfach zu klassifizieren, es entzieht sich jeder Beschreibung und Klassifizierung.

Das Böse ist nie banal.

Wir tranken im Zauberwürfel, das wünschten wir uns sehnlichst, uns fiel nichts anderes ein, was wir hätten tun sollen oder können. Da spazierten keine Psychologen oder Psychiater mit Zauberkapseln herum, um uns zu heilen. Auf den Straßen war niemand, bis auf uns und die streunenden Hunde, die die Heimkehr der menschlichen Wärme spürten und deshalb kamen, um sich aufzuwärmen. Medizin brauchten wir nicht, dachten wir, wie hätten wir das auch denken sollen, wenn wir uns selbst nicht für krank hielten. Wir waren nicht krank, es waren eben solche Zeiten.

Keiner von uns wusste, was die Abkürzung PTBS überhaupt bedeutete. Wir überließen uns einfach nur dem Lauf der Friedenszeit. Den unendlichen Diskussionen im Zauberwürfel. Vielleicht heilte uns das auch, denn ich erinnere mich an einen Moment, in dem das Xanax nicht wirkte. In dem es mir nicht half, als ich die Hitze aus dem Bauch in Brust und Kopf hochsteigen spürte, eine heftige Energie, wegen der ich befürchtete, in Flammen zu geraten und den Raum zu erhellen wie eine Leuchtrakete, allein, versteckt irgendwo auf der Brandstätte des Handwerkszentrums, erleuchtet von Mondschein, im Schatten des gesprengten Gotteshauses, dessen Turm in Richtung Erde und Unterwelt zeigte.

Je mehr das normale Leben in seine gewohnten Bahnen zurückkehrt, umso mehr Raum nimmt die Angst vor dem Tod ein. Uns selbst überlassen, lösten wir das mit Alkohol und leichten Betäubungsmitteln, wenn die Tabletten schon nicht wirkten. Wir dachten, der übermäßige Lebensgenuss würde uns eher in die zivile Normalität zurückbringen.

Wenn man einen Krieg überlebt hat, sollte man am besten sofort aus dem betreffenden Teil der Welt wegziehen und niemals zurückkehren. Warum hatte uns das niemand sagen können? Selbst wenn es uns jemand gesagt hätte, hätten wir ihm nicht geglaubt. Wir hätten weiter unser Ding gemacht.

Wo endet und wo beginnt unser erster Krieg? – ist eine Frage, die wir uns oft stellten, bis wir die Lust daran verloren, uns das zu fragen.

Was mich gerettet hat, war die Liebe, ein starker Glaube an das Leben als sinnvolle Ordnung der Dinge in Zeit und Raum, als Zeit und Raum noch linear waren. Denn mit den ersten Granaten verloren Zeit und Raum und alle anderen Dimensionen ihre unschuldige Geradlinigkeit unwiederbringlich. Wir versuchten die Schäden am linearen Verlauf von Zeit und Raum und allen anderen Dimensionen zu reparieren, aber es gelang uns nicht. In der nichtlinearen Welt wollten wir lineare Individuen sein. Es lief nicht. Selbst wenn wir gewusst hätten, dass es einmal in der Zukunft modern sein würde, vintage Gegenstände zu schätzen, vintage Poetik, Retro-Style, hätten wir uns nicht für irgendwelche Vorreiter gehalten, denn unser Leben war kein modischer Stil. Der Gegenwart hinterhertrauern kann man erst, wenn man alles verloren hat, wenn die eigene Zeit und der Raum unumkehrbar annulliert sind. Wir waren keine Hipster, obwohl wir alte und ungewöhnliche Dinge mochten.

Zwar kamen Leute aus dem Ausland und boten Kurse für das Weiterleben nach der Apokalypse an, doch ich nahm das nicht ernst, kaum jemand konnte das ernst nehmen. Wie hätten sie auch wissen können, wie wir leben sollen, wenn sie selbst noch nie einen Krieg überlebt hatten?“

Dieser Textausschnitt zeigt, wie die apokalyptische Uhr schlägt, nachdem die Apokalypse auch offiziell zu Ende ist. Sie setzt ihre Arbeit fort. Eine Apokalypse überleben heißt nicht nur physisch den Krieg und die allgegenwärtige Zerstörung zu überleben. Viele glauben nur, sie hätten überlebt, doch der Krieg hat sie in ihrem Wesen entwertet und die Fortsetzung des Lebens in Friedenszeiten für sie unmöglich gemacht. Sie sind Kriegszombies, denn sie kommen aus dem Krieg nie wieder heraus. Er regiert ihren Verstand, ihre Nerven.

Meine apokalyptische Uhr schlägt nun schon das 29. Jahr seit meinem persönlichen Kriegsbeginn. Ich habe gelernt, mit dem Ticken dieser Uhr zu leben. Diese Uhr ist ein Teil von mir und sie stört mich kein wenig, denn ich kann darüber schreiben. Ich habe mich mit ihrem Ticken synchronisiert.

Den wenigsten Menschen ist dieses Glück beschieden, aber sie kommen irgendwie klar und überleben die Schrecken des Friedens, denn wir wissen, dass das Leben größer und stärker ist als alles Böse, als die Vernichtung und jede Art von Apokalypse.

Ach so, und falls sich jemand fragt, ob ich Menschen getötet habe: Ja, ich habe feindliche Soldaten im Nahkampf auf dem Schlachtfeld getötet. Da gibt es keine Reue. Krieg ist leider die älteste Beschäftigung des Menschen. Wer überlebt, kann erzählen, kann schreiben. Es ist ein großes Privileg derer, die keine Erfahrung von Krieg oder Flucht und keinerlei traumatische Grenzerfahrung haben, den Überlebenden zuzuhören, damit es nie wieder Krieg gibt, für niemanden. Dies ist ein utopischer Wunsch, der vielleicht eines Tages in Erfüllung gehen mag. Ich glaube ganz fest an eine solche Utopie.

Drohnenflug

von Darko Cvijetić
Deutsch von Mascha Dabić

Credits: Draženko Jurišić

(poetischer Essay, früher November des Jahres 2020)

EINFÜHRUNG

DIE GESCHICHTE DER ARGONAUTEN

Im Jahre 1982 ging ich in die achte Klasse

und schrieb für den Wettbewerb “Auf Titos Pfaden der Revolution”

eine Geschichte

über drei Brüder – Omar Toma und Ljuba

 

Ich nannte sie nach drei Eisenbergwerken

Omar Omarska

Toma Tomašica

Ljuba Ljubija

 

Mein Gewinnerpreis war ein Sommerurlaub

an der Adriaküste in Medulin

 

Zehn Jahre später

wurden Massengräber gefunden und weitere zwanzig gesucht

in Omarska Tomašica Ljubija

 

Ljuba tötete Omars

Toma versteckte Leichen in Bergwerken

 

Ich schrieb eine Geschichte

über die Argonauten

und Rippen vom Goldenen Vlies im Eisenerz gefunden

zu Stahl eingeschmolzen

 

Daraus wurde ein Schiff gegossen

 

Den Preis erhielt ich

um dieses Schiff zu lenken

 

Zurück auf dem Pfad der Revolution

 

/Mali ekshumatorski eseji/Kleine Essays über die Exhumierung, D. Cvijetić, Zadužbina Petar Kočić, Banja Luka, Beograd, 2015/

 

 

1991

1. BETTDECKEN DER MARKE AMBASADOR, VUKOVAR

Gekrümeltes Brot,

in Handflächen

hinausgetragen aus dem Vogelhunger.

 

Derjenige, der das träumt,

wird mir sagen, ich stand am Wasser. Es könnte das Jahr 1991 gewesen sein.

Ich wusch mir das Gesicht, gebeugt über die Badewanne,

und ein Gedanke durchströmte mich – es wird Krieg geben!

 

  1. Ich lese in der Zeitung über einen Arzt in einer Kinderklinik, der Geräte besorgt, um auf das Deckengewölbe eines Krankenzimmers einen Sternenhimel zu projizieren. Ich will nicht, sagt er, dass unsere Kinder mit einem leeren Blick sterben, ohne irgendwas!

 

 

1992

  1. BLUT WIRFT KEINEN SCHATTEN

Den ganzen Herbst kämpften wir bei Bihać um das Stück Land bei Grabež.

Dort befindet sich jetzt ein Flüchtlingslager für Menschen aus Syrien.

Ja, Siniša kam auch bei Grabež um.

An dieser Stelle sitzt jetzt ein dunkelhäutiger junger Mann auf dem Boden.

Am Smartphone schaut er die Fotos seiner fünfjährigen Tochter an und weint.

 

In Sarajevo tötete ein Scharfschütze mein Kind im Arm, sagt Hasija.

Hätte ich es nicht getragen, hätte die Kugel mein anderes Herz getroffen.

 

 

1993

  1. EIMER AUS ERDE, MIT ERDE GEGOSSEN

Holst du jemandem das Herz heraus und legst es sogleich in warmes Wasser,

aber schnell, schnell, dann wird es noch ein paar Mal schlagen, bis zu sieben Mal, und erst dann wird es die Farbe von Spucke alter Menschen annehmen

und in sich zusammensacken.

Wer staunt über das Stehenbleiben des ersten Herzens?

Wer hat beim ersten Stehenbleiben zugeschaut, mit Augen,

eingeölt durch stummes Gebet?

 

  1. Auf dem vergessenen Bahnsteig bei Keksara

wächst der Waggon, mit Rost bespritzt, in einen anderen Namen hinein.

 

Indessen sagt der heilige Franjo:

 

Tötet dich eine Granate, gibt es keine Schlaflosigkeit,

gibt es kein Wasser unter den Wimpern,

und der Traum weiß nicht, auf welcher Seite er brennt.

 

 

1994

  1. DER AUSTAUSCH DER TOTEN AUF DEM BERG VLAŠIĆ

Oma hütete ihren Haarzopf,

abgeschnitten bei der Konfirmation

vor 75 Jahren.

 

Dejo hat bei der Chemotherapie sein Haar verloren

und er erzählte uns im Büro:

 

Sie brachte mich in ein dunkles Zimmer.

Oma hat da was für dich, sagte sie,

in einer Schachtel ganz unten im Regal ein weißer Haarzopf,

getrennt von ihr ist das Haar ergraut,

Dejo schwor es.

 

Oma, was soll ich mit deinem Haar?

 

Mach dir eine graue Perücke,

dein Sohn soll darin alt werden.

 

 

1995

  1. EINE BUCHSE VOLLER SCHNEE

Der Sommer war entsetzlich. In Prijedor zogen an mir mehr als 100 000 Menschen vorbei, Flüchtlinge vor der kroatischen Militäraktion.

Die Menschen weinen, bitten um Wasser. Ein alter Mann auf einem Traktor. Hinten im Anhänger sitzt seine alte Frau neben einem erdverschmierten Sarg.

Darin der im Vorjahr umgekommene, heute Morgen ausgegrabene Sohn.

 

2.

Großmütterchen, möchtest du Wasser, frage ich.

Nein, nein, ich will nicht, und der Kleine auch nicht, sagt sie.

 

 

1996

1. SCHWIMMEN LERNEN

Es ist schwer, in unseren Sprachen länger als neun Wörter zu denken.

Singen ist noch schwerer, ist die Sprache doch verstümmelt und zerschnitten,

grausam verarmt durch systematische Zermürbung.

Die Jungen Slawen gehen weg.

In mehrere Konfessionen, die multikonfessionellen Slawen gehen weg.

Die Altslawen stammen von den Südslawen. Bald werden die Südslawen Altslawen werden und beginnen, auf Altkirchenslawisch zu sprechen und zu schreiben.

Die wenigen gealterten Slawen, die von den Südslawen übrig bleiben, wird Praslovan von Lačni Franc abspielen, auf dem krankenhausartigen Nachtkasten, entwendet aus dem Hotel Jugoslawien.

Die Südslawen fressen ihre kleinen Sprachen auf, bald werden sie alle aufgefressen haben, und dann werden sie Englisch und Deutsch und Schwedisch und Dänisch sprechen, mit nur 577 Wörtern, mit einem Google-Übersetzer um den Hals, wie Pekić mit den Diktaphonen mit Aufstieg und Fall des Icarus Gulbenkian.

Entslawisieren werden sie sich und sich stattdessen progermanisieren, und ihre Frisuren werden mitteleuropäisch sein.

Derweil die Alten Slawen, die übrig gebliebenen, werden Heldengräber besuchen und immer jüngere und weißere Kirchen aufbauen, und immer schwerere, aber in die Krankenhäuser werden sie weiterhin selbst Süppchen und Gaze mitbringen.

Und so seit Jahrzehnten.

Wir haben uns überslawisiert.

Es wurde Süden für die Slawen. Das kommt schon mal vor, vor dem Sturm, sagt Arsen, wenn die Inseln sich in Grau hüllen.

Und was hat am Dnjepr nicht gepasst?

Oder bei den Feuern unter den Toten?

Jesus hätte von uns nichts erfahren und hätte den Fresken gefehlt, besonders im Winter. Auch Mohammed hätte nichts von uns erfahren. Niemand hat uns wegen der Wüsten im Gedächtnis behalten.

 

Was hatten wir hier zu suchen, warum sind wir gekommen, keiner kann sich erinnern und hat auch keine Sprache, in der er sich erinnern könnte, niemand weiß es mehr und niemanden kümmert es.

 

2.

Dabei warten zu Hause die Frauen noch immer auf uns, und wie immer stellen sie lauwarme Eintöpfe vor die erfolglosen Jäger und spenden ihnen Trost, verschwitzt keuchend.

 

 

1997

  1. PRIMÄR, SEKUNDÄR

Selbst ein Dorffriedhof könnte mit so viel Stille nicht zurechtkommen.

Er würde die Hemden ausziehen, sollen doch die Schatten schmaler werden.

Die Windmühle im Brot.

 

  1. So gute Freunde.

Besuchten sich sogar noch im Grab.

 

 

1998

  1. DIE TERZ AUF DEM DRAHT

„Selbst wenn ich draufkomme, wer ich bin,

bleibt die Frage – wer sind alle anderen“ (Wenders)

 

In meiner Stadt gibt es jeden Sommer ein „kollektives Dschanaza-Totengebet“.

Ich treffe viele Schulfreunde, die die Knochen ihrer Väter und Brüder beerdigen.

Derjenige, der sämtliche Gräber bewacht, so denkt über mich Aida.

 

 

1999

  1. ANDRIĆSTADT

Stark geregnet.

Der angeschwollene Bach hat die alten Grabsteine vom muslimischen Friedhof davongetragen.

Früh am Morgen der Hodscha in Gummistiefeln,

weißköpfig im Nebel, er stapft auf dem Friedhof umher und ruft Namen auf.

Einer hat ihn erhört,

einer, der vor der Überflutung am Fuße des Bergs war,

hat ihn erhört –

als wäre er mitsamt seinem Grab flussaufwärts geschwommen.

 

 

NATO-Flieger über uns. Sie bombardieren die Reste Jugoslawiens.

Als die Obrenovićs von der Schwarzen Hand umgelegt wurden, war keine einzige Glocke zu hören gewesen.

Für Drago und Aleksandar.

Keine einzige.

Auch die Mönchsglocke hatte nicht gescheppert.

Stille nach der abgeschnittenen Brust und dem verbrannten Haar.

Stille nach dem aufgeschlitzten Bauch, wie bei Rotkäppchens Wolf.

Darin ein junger, zweiköpfiger weißer Adler,

unschlüssig, von welcher Leber er zuerst fressen soll,

und auch, mit welchem Schnabel.

 

 

2000

  1. MÖNCHE MACHEN SEILE

Gott ist ein Waise und Jesus hat keinen Großvater

in Klammer sei dazugesagt

einzig Lazarus starb zweimal.

 

  1. Blumen treiben aus dem Knochen

meiner Hand mit der ich nicht schrieb

Wie Ringe für Fässer

Wie Efeu vom Gewehrtragen

 

 

2001

  1. AKKUFABRIK, POTOČARI

Gleich nach dem Schuss betrat er das Badezimmer.

Im Wasser, das lange getröpfelt hatte wie Regenwasser, sah er einen Freund aus der Schule für Bauwesen,

uniformiert und in Stiefeln,

zerschossenen Kopfes. In der Hand eine Magnum, herabhängend.

Chrombeschichtete Trommel, eine Trophäe.

Die Augen waren offen, der Hals pulsierte noch, der Krieg war angezapft.

Vor ein paar Tagen treff ich ihn am Flohmarkt.

Er lacht, grüßt, verkauft Magnums aus Plastik,

für Kinder, Wasserpistolen.

Er hat mich sogar mit Wasser bespritzt und mir zwei Pistolen in die Taschen geschoben.

 

Zu Hause füllte ich eine Pistole mit heißem Wasser.

Ich stieg in die Badewanne mit Stiefeln an den Füßen

und ließ dunkles Blut aus der Wand ein, bis es überging.

 

 

2002

 

DER GESCHNEIDERTE KIRSCHGARTEN

1. Unser Theaterschneider verließ das Projekt „Iwanow“ nach Tschechow, weil der Hauptdarsteller und er sich nicht einigen konnten, in was für einem Hemd der unglückliche tschechowsche Protagonist sich umbringen sollte.

Der Schneider verließ die Probe und nahm das umstrittene Hemd mit.

Die Premiere ging bestens über die Bühne und Iwanow brachte sich bei der Vorstellung in einem ganz gewöhnlichen schwarzen Rollkragenpullover um.

 

2.

Jedoch brachte sich der Freund des Schneiders im genannten Hemd um, ein Jahr später,

als man seinen Kirschgarten abholzte.

 

 

2003

  1. OBEN IM HIMMEL, GLEICH NEBEN DER MUTTER

 

Špugi brachte sich am Donnerstag mit einer Kalaschnikow um. Er ließ Rigoletto laufen, die Wohnung dröhnte.

Er schob einen Adler in den Gewehrlauf, und dieser ließ seinen Kopf bersten.

 

Und sonst, Špugi war ein Vorzugsschüler gewesen

Und sonst, Špugi war Veteran aus zwei Kriegen gewesen

Und sonst, Špugi war Sniper gewesen

Und sonst, Špugi ließ seinen Sohn zuschauen

 

Noch am Dienstag hatte er mir betrunken in der Bar erzählt, wie er im Traum die Mütter von jenen sah, die er erschossen hatte.

 

2.

Und wie er jeder einzelnen wegen der Söhne versprach

im Schlaf zu sterben

 

 

2004

  1. ZAHNFEE

Ohne große Beunruhigung keine Versöhnung, pflegte Camus zu sagen.

Offensichtlich sind wir noch nicht beunruhigt.

Es gibt immer weniger von uns, wir versöhnen uns auf den Fluren deutscher Krankenhäuser.

 

 

  1. In einem Taschentuch bewahrte Zokas Mutter

seine Milchzähne auf –

 

kleine Eckzähne, kleine Backenzähne, kleine Schneidezähne

 

Als eine Granate ihn an der Front in Stücke riss

blieb nichts mehr übrig

 

Also nähte sie das Taschentuch zu.

 

 

2005

1. ÜBERSCHRIFTEN, TEXT

 

  • „Keine Zytostatika für leukämiekranke Kinder.“
  • „Sänger ließ zurückgebliebenen Sohn im Kloster zurück und startete Tournee.“
  • „Schwester getötet, Körper fünfundzwanzig Jahre im Kühlschrank aufbewahrt, unter der Treppe.“
  • „Mutter getötet, anschließend zum Fastenbrechen gegangen.“
  • „Šaban gemeinsam mit Kiš und Andrić in der Allee der Großen.“
  • „Handballer Hände verloren bei Verkehrsunfall.“
  • „Drei Kinder vom Balkon geworfen, im beliebten Ferienort.“
  • „Frau erstickte ihre Mutter im Schlaf, erhängte sich anschließend selbst.“
  • „Religionslehrer vergewaltigte einen Schützling aus einem Heim für Kinder mit Entwicklungsschwierigkeiten.“
  • „Volleyballerinnen spendeten Haare für Perücken für Krebskranke.“
  • „Fünfhundert tote Zugvögel durchgeschmuggelt.“

 

 

  • Damit Ophelia sich ins Grab legt, muss man zuerst den Schädel des Scherzboldes rausschmeißen.
  • Ein Lift, der in Bewegung ist, veranschaulicht Heraklits Aussage – Der Weg nach oben und der Weg nach unten ist ein und derselbe.
  • Mit den Flügeln zu zucken ist das Gleiche wie mit den Schultern zu zucken. Dennoch, ein Engel zuckt nicht.
  • Das Gefühl, welches die Märchen nach ihrem Erzähltwordensein überfällt.
  • Der Maler ist eine Tube mit Blut, das Gesprochene mit den Augen zurückgegeben.
  • In der Lehre lernt der Clown, in jedem Schwamm eine Gelegenheit für eine rote Nase zu sehen.
  • Origen sagt, Jesus bleibt am Kreuz, so lange, bis das Böse von jedem Menschen hinuntersteigt.
  • Es gibt auch einen durchtriebenen Engel, der demjenigen, der sich zu beten anschickt, sein Gebet klaut und es „für später“ aufbewahrt.
  • Wenn alle Bosnien verlassen haben, werden verminte Felder und neue verlassene Gebetshäuser zurückbleiben.
  • In apokryphen Schriften steht geschrieben, Jesus sei ein freches Kind gewesen und einige Kinder seien gestorben, weil er sich das gewünscht hatte, ohne zu wissen, dass er der Sohn ist.
  • Kafka schrieb über Käfige, die sich auf die Suche nach Vögeln machen.

 

2006

  1. HUNDE, HUNDE UND BÜCHER

Wir führten die Vorstellung „Ein Grabmal für Boris Davidovič“ im „Theater Prijedor“ auf. Ich weiß noch, wie ich mit Frau Mirjana Miočinović, der ersten Ehefrau von Danilo Kiš, über die Autorenrechte verhandelte und sie mich fragte:

„Moment mal, Sie meinen in Prijepolje?“

Ich sagte: „Nein, nein … in Prijedor.“

Sie fragte abermals: „In Prnjavor?“

„Nein, nein, nein … In Prijedor.“

„Moment mal, Sie meinen in jenem Prijedor?“

„Ja, in jenem Prijedor.“

„… Also … dort wird mein Danilo …“

Der Gestank der Vergangenheit dieser Stadt breitete sich aus, und es wird viel Zeit, die wir dort verbracht haben, benötigen, um diese Vergangenheit hinter uns zu lassen, um einander in die Augen zu sehen, Boris Davidovič, und zu sagen, so ist es gewesen, es ist schrecklich gewesen, die Knochen der Nachbarn haben gefroren.

 

 

2007

  1. WOLFGANG BORCHERT, „GENERATION OHNE ABSCHIED“

„Wenn ich tot bin,

möchte ich immerhin

so eine Laterne

sein“

 

(Wolfgang Borchert, Motto für den Film WENN ICH TOT BIN UND BLEICH von Živojin Pavlović, 1967 mit Dragana Nikolić in der Rolle von Jimmy Barka)

 

2.

Und was, wenn das Älterwerden bloß ein Evolutionsfehler ist?

Mir scheint, wir sind geboren, um lange genug da zu sein, um unsere Gene an die nächste Generation weiterzugeben. Die Gene für die Generation. Vom evolutionären Standpunkt aus betrachtet ist alles über dreißig oder höchstens vierzig Jahre ein Überschuss.

Alles, was über die realisierte Nachkommenschaft hinausreicht, ist aus evolutionärer Sicht unwichtig.

Ein Großvater zu sein bedeutet also, sich überflüssigerweise davon zu überzeugen versuchen, dass unsere Nachkommen das genetische Material weitergegeben haben.

Würden wir mit der gleichen Geschwindigkeit altern, mit der wir zwischen dem zwanzigsten und dreißigsten Lebensjahr altern, könnten wir Hunderte von Jahren alt werden.

Aber nach dem dreißigsten Lebensjahr beschleunigt sich alles plötzlich und unerklärlich, und die Menschenjahre gehen schnell in Hundejahre über. Und so zeichnet sich für die vorbeiziehenden Karawanen plötzlich ein sehr deutliches Bild ab: Stöhnen und Schwanz einziehen und ein trauriger Blick.

 

 

2008

  1. ENTLASSUNGSSCHREIBEN

 

Hör mal, jemand müsste den Europäern sagen,

dass Paulus aus Tarsus war

Scha’ul – Zeltmacher und produktivster Evangelisator –

in Damaskus wurde er zum heiligen Paulus,

in Syrien.

 

2.

 

Stell dir vor –

Jesus hat nie Schnee gesehen.

 

Vor dreizehn Jahren lernte ich im Schützengraben,

lautlos das Gewehr zu tragen, den Schulterträger so um den Arm zu wickeln,

dass die Metallteile sich nicht berühren und keinen Lärm machen.

 

 

2009

  1. EIN BESCHÄMENDES BILD DER FREIHEIT

Es ist zu viel Zeit vergangen, und bald wird niemand mehr da sein, um eine Schande anzuerkennen und zu akzeptieren. Es scheint, das kollektive Gedächtnis wartet geradezu darauf.

Dass niemand mehr da ist, der etwas zugeben könnte, und dass niemand da ist, dem gegenüber man etwas zugeben könnte.

Das bedeutet ein großes Kapital für Wiederholungen.

Darin steckt das Wesen der Niederlage.

2.

Der Medizintechniker im Rettungswagen in Prijedor heißt Danilo Kiš.

Er geht gerne fischen.

Er bedauert, mir nicht sagen zu können, ob sie jemals auch Boris Davidovič in ihrem Wagen transportiert haben.

 

 

2010

  1. ABTASTEN

Wenn Kunst bedeutet, Trost zu spenden, wenn Kunst eine empathische Umarmung ist – dann bedeutet Kunst auch, das eigene Martyrium zu lieben, das eigene Märtyrerschicksal. Die Zerlegung des Wortwörtlichen in der Intimisierung des Tragischen – das bedeutet in Bosnien, Künstler zu sein – seiner eigenen Nichtgleichgültigkeit von Herzen Glauben schenken.

2.

Für mich selbst bin ich ein Einzelgänger, eine Birke ohne Blätter, ein Kaninchen mit einem Ohr … Für mich selbst bin ich ein Junge, der eben erst zu sprechen gelernt hat … Für mich selbst bin ich eingeholt von einem früheren Lachen aus einer früheren Zeit … Für mich selbst bin ich derjenige, der seinen Staub ans Ende des Waldes trägt … für mich selbst bin ich eine Lampe aus Papier … Für mich selbst bin ich eine Sammlung von Tropfen, frisch nach dem Regen – glänzend auf dem Spinnennetz … Für mich selbst bin ich der Versuch zu singen, unternommen im Gestotter der Welt.

 

 

2011

  1. NOCH ETWAS ÜBER DIE HUNDESÖHNE

Zuerst sagte er zu ihr.

Sie habe tiefe Augen.

 

Später schwor er uns

er habe noch nie

so tiefe Augen

herausgeholt.

 

2.

Mit einem Schlagbolzen näht man nichts

vom Vogel ins Gewehr.

 

Steh auf, Eleazar

Die Zunge schwitzt im Mund.

 

 

2012

  1. NACHKRIEGSZEIT, SCHLAFLOS

 

Oh, Dunkelheit …

Ene mene muh

und raus bist du.

Dunkel.

Und raus bist du.

Tika taka bumm.

 

2.

Das Haus, das losgezogen ist, seine Buchstaben zu nächtigen.

Schere, Stümmel, Bronze, Srebrenica.

 

 

2013

  1. POSTKARTE ANS MEER

Im nächsten Jahr sind es hundert Jahre seit dem Ersten Weltkrieg. Im Jahre 1914 gab es in diesem Land, in Bosnien und Herzegowina also, innerhalb des gleichen Territoriums, sechs Gymnasien!

Innerhalb von hundert Jahren haben drei Kriege stattgefunden – und was für drei Kriege es waren! Von den sechs Gymnasien, über drei Kriege, bis hin zu den Privatfakultäten in jedem dritten Haus und festgenagelten Museum.

Es gibt kein Volk, keine Familie, kein Feld, kein Wald, keine Stadt, kein Dörfchen, das nicht völlig zertrampelt wurde in einem dieser drei Kriege. Aus jedem Städtchen verschwanden Köpfe (Männer, Frauen, Kinder) in einem der drei Massaker.

 

2.

Literatur löst nichts. Der Schreibprozess ist der Kulminationspunkt innerer Katastrophen, der sich ausbreitet zu einer – Null.

Das Gedicht kann der Finsternis unserer Zeit nichts anhaben. Die Sprache hat das Bedürfnis, sich zu bewegen, ihren Körper nach vorne zu bringen. Die Funken sprühen bei dieser Bewegung durch Poesie. Dass unsere Sprache (BKMS) den Rückzug angetreten hat und sich dabei selbst zum Einsturz gebracht und sich verletzt hat – das resultierte in meinem Fall in einer Poesie, die gezwungen ist, diese Vergangenheit auszuleuchten.

Ich habe die Thematik meiner Dichtung nicht gewählt. Vielmehr hat sie mich gewählt. Die Rede ist von einem gut eingelaufenen Müssen.

 

 

2014

  1. NEUE

Ratten bekommen keinen Herzanfall.

Sie leiden auch nicht unter Alzheimer. Die Ratten altern nicht langsam wie wir, sondern gehen plötzlich ein, ihre Muskeln atrophieren plötzlich und schnell.

Die Versuchsratte, der das Blutplasma eines achtjährigen Menschenkindes eingespritzt wurde, war in der Lage, den Ausgang aus dem Labyrinth eine ganze Minute schneller zu finden als eine gewöhnliche Ratte voller Rattenblut.

2.

Minute für Minute.

Wie Nägel aus Kindersärgen, wenn die Engel sie raushämmern.

 

 

2015

  1. FARMEN, LEDER, REBALANCE

Der echte Oskar Schindler, nicht der von Spielberg,

flüchtete gleich nach dem Zweiten Weltkrieg aus Deutschland nach Argentinien

durch einen der Rattenkanäle

 

Viel hat es nicht gebraucht, dass Oskar vom Emailgeschirr

der Schindlerjuden

zu einem neuen Business überging –

eine Farm mit Küken und erwachsenen argentinischen Bibern

 

Die Arbeit ging hervorragend von der Hand

Deutschland entzog ihm die Staatsbürgerschaft

als einem verdienten SS-Mitglied, und die Biber waren zunächst sehr gefragt:

 

So manch ein Frauenhals liebt die weiche Sanftheit

der erwachsenen Biber.

 

Die Küken dagegen verbringen ihr ganzes Minileben in Kammern

derart zusammengepfercht, dass sie ihre Flügelchen nicht auszubreiten vermögen

 

(Mit einem Zepter werden ihre Schnäbelchen abgestumpft,

damit sie sich gegenseitig nicht blenden und töten

in einer solchen Nähe zueinander mit solchen Flügeln)

 

Deutschland gibt ihm die Staatsbürgerschaft zurück

diesmal ist er ein verdienter Industrieller und Retter!

 

Aber wieder dreht sich der Teller aus Email und sein Geschäft geht ein

Und alle seine Biber werden ausgerottet; gar alle

Moshe Bejski bringt Oskar nach Jerusalem

nun ist er ein Held, der 1200 Menschen vor ihrem eigenen Rauch gerettet hat

 

Oskar beginnt zu trinken und fürchterliche Szenen zu machen

(Am Toten Meer hatte er eine Geliebte namens Eva Kisch)

 

Sogar die Geretteten von der Liste meiden ihn

und der betrunkene Oskar winkt jetzt mit Wetttickets

wie einst mit den herausragenden Namen von den Listen der Schlächter

 

2.

 

Und nur manchmal

beim koscheren Hühnchen

verspürte er das emaillierte Jucken

ein schlimmes Jucken am Hals

 

wie vom Biberfell aus Buenes Aires

 

 

2016

  1. DISNEYLAND, TROPFEN

Bei den Feierlichkeiten zur fünfundzwanzigjährigen Schließung

eines nahe gelegenen Lagers

gerieten ehemalige Lagerinsassen in eine Prügelei

rund um die Frage nach ihren Verdiensten beim Gedenken

 

Die Polizisten, die einst auf sie eingeprügelt hatten

brachten sie auseinander

Lasst das, Leute, es ist eine Schande

2.

Branko wurde nach fünfundzwanzig Jahren gefunden:

Knochen im Morast

und zwei Steinchen,

die drauf und dran waren, Augen eines Schneemanns zu werden

 

 

2017

 

  1. KEHLE UM KEHLE, UMARMUNG

Am selben 10. Januar 1914 wurden Matoš und Andrić an der Kehle in Zagreb operiert

Matoš war 40, Ivo 21 Jahre alt

Der Arzt Dragutin Mašek entfernte Anton Gustav Matoš den Kehlkopf

dieser wird noch immer in Formaldehyd aufbewahrt

als würde er irgendwann später wieder zu jauchzen und zu schlucken beginnen

Der Arzt Oskar Aleksandar, Privatchirurg, öffnete Andrićs verschwiegene Kehle

und schabte die Mandeln mit einem Skalpell ab

Zwei Monate später stirbt Anton Gustav

durch quälendes Ersticken der leeren Kehle

während Ivo halblaut mit Mitgliedern von Mlada Bosna darüber spricht

wie man den Erzherzog am Tag Vidovdan um seine Stimme bringen könnte

 

2.

 

Sobald Samt und Samtspielzeuge auftauchten

krochen Samtwürmer

in die Bäuche der Spielzeuge

 

 

2018

  1. ES GAB SCHON EINEN UNFALL

 

Ein nicht wiederholbarer Unfall des Falles in die Zwei.

Meine Dichtung in der gleichen „Arithmetik des Mitgefühls“ bindet sich an den konkreten Einen und besingt sogleich auch seinen Fall, seine Tragik.

Dieser Eine ist der kleinste gemeinsame Nenner, dem das Hinzufügen einer Null sein Unglück nicht vergrößert, denn er steckt bereits in seinem Unglück.

Die Poesie kommt damit zu Rande, indem sie Gnade zu diesem Einen einführt, denn er ist die Projektion der Mehrzahl.

Gnade also, als Arithmetik der Ampathie für den Einen.

Dieser Eine ist zu schwer für eine Träne wie auch für eine Gewehrkugel.

Er sticht heraus aus der Gewehrsalve und trägt die gleiche Menge an Tod, die gleiche Menge an Unglück, und benötigt die gleiche Menge an Liebe.

 

2.

 

So lehrte uns Borges, Jesus habe uns so belehrt.

 

 

2019

  1. DER KLEINE BRUMMKREISEL

Ich habe nichts geschafft, ich habe, scheint mir, nichts wachsen lassen können außer eines gepflegten Zweifels, notiert im Notizblock eines Gärtnerlehrlings.

Sowohl Wüste als auch Garten dauerten nur eine viel zu lange Nacht, dieselbe Nacht, der beckettartige gleiche Vers, getrocknet in der Sonne des vorigen Tages in mir.

Heute weiß ich, der morgige Tag war nicht weggegangen.

 

2.

 

Aber, ich werde im Garten immer kleiner und immer tiefstehender bin ich im Hinblick auf den Horizont.

 

 

2020

  1. EIN WEITSICHTIGES BILD

Drei mit Gliedamputationen machen ein Selfie auf einer Bank im Hof des Heimes für Kämpfer.

Bei Oma im Dorf hingen drei Gedenkanzeigen an der Wand, für die beiden Kinder und den Mann, die in Jasenovac verbrannt wurden.

Im vierten Akt wird geschossen.

Die Mauer bricht ein.

 

2.

Der Sohn des toten Kriegshelden.

Liegt auf der Onkologie.

Man hat ihm die Hoden entfernt.

 

Am iPhone tötet er Digimons.

Die Infusion tropft in unregelmäßigem Rhythmus, weil er ständig die Finger bewegt.

Kahl, ohne Augenbrauen, in seinen Kopfhörern hinkt die Stimme von Tom Waits, er zwinkert der schwarz gekleideten Mutter zu.

Einmal hat ihn sein Vater von der Musikschule abgeholt und zum Kuchenessen eingeladen, denkt er.

 

Auf seinem Display stapeln sich die Leichen der jungen Pokemons.

Die Leichen stapeln sich, sagt er.

 

 

2021

  1. METROPOLITAN OPERA

Ein Libretto mit dem Tragen des an der Ansteckung Verstorbenen durch die Stadt

alles ist wie füher, und Gazimestan ist nach Podgorica gekommen

Die Jugend kniet auf dem Stadtplatz, denn das Auto mit der Leiche fährt vorbei

als würde ein Ajatollah, erfüllt vom Virus, vorübergetragen werden

Und da all das mitten in der Pandemie passiert, trägt keiner eine Maske, als sei

die Maske etwas Westliches, etwas Amerikanisches und etwas Ihriges

 

2.

Ungeachtet des Kabarettcharakters

Zwei Anführer der Armee und ein Oberst ein Verstorbener

Jesus mit dem Vagabunden, ich sage euch, wirklich, in jenen Tagen

 

 

DIE EBENE DES EPILOGS

Vor dem verfallenen Riesengebäude des Kaufhauses aus der Vorkriegszeit PATRIA verkauft jemandes Großvater Kaninchen. Der Preis beträgt 10 und 15 Konvertible Mark pro Häschen.

PATRIA bedeutet auf Latein Heimat, Vaterland, und ebenso heißt auch der höchste Gipfel von Kozara, ganz in der Nähe.

 

In zwei Käfigen. Hasen und Heimat.

Aleksandra Zec ist aus Zagreb.

Sie war zwölf Jahre alt, als sie auf dem Berg Sljemen umgebracht wurde, vor fünfundzwanzig Jahren.

 

Ihr Vater war aus Prijedor. Er wurde zusammen mit der Mutter in derselben Nacht liquidiert.

Vater war Serbe, Mutter Kroatin.

 

*

 

Dubravka Zec ist aus Prijedor.

Sie ist fünfundfünzig Jahre alt, und schon seit fünfundzwanzig ist sie allein.

Und sie hat den Verstand verloren.

Ihr Vater war Sportlehrer im Gymnasium, Handballer.

In Omarska wurde er geschlagen und geschlagen.

 

Ihr Bruder wurde vor ihren Augen getötet.

 

*

 

Ich wusste nicht, dass Zec als Nachname auch bei den Kroaten existiert, sagt mein Freund.

Und, sagt man dann für eine Frau Zečeva oder Zecova?

 

Er fügt hinzu, er habe nicht gewusst, dass die ermordete Zagreber Familie Zec in Prijedor beerdigt wurde, und fragt, ob man Dubravkas Bruder in einer der hiesigen Gruben gefunden habe.

 

*

 

Dubravka irrt schon seit Jahren verloren durch die Stadt.

Ein schmaler, hoher, kurzgeschorener, verwirrter, erschrockener Engel.

Im Mantel.

 

Sie geht ins Theater, ins Kino, zum Konzert, in die Kirche, in die orthodoxe, in die katholische, sie führt Selbstgespräche, flüstert, geht auf den Friedhof, kommt wieder heraus …

 

Sie wohnt ganz allein, ohne Strom, ohne Heizung.

Sie dreht sich um. Keiner da.

Immer allein. Immer allein. Immer.

 

*

 

Es gibt einen Ort in der Nähe von Prijedor – Zecovi.

Halb serbische Hasen, halb bosniakische.

Zwei Käfige der Heimat.

Jugoslawien in meinem Leben, mein Leben in Jugoslawien in zehn Abschnitten

von Lidija Dimkovska
Deutsch von Michael Ebmeyer

Credits: Tihomir Pinter

1) Meine jugoslawische Kindheit

Ich verbrachte meine Kindheit in einem kleinen Dorf in Mazedonien, Šlegovo hieß es, bei meinen Großeltern. Meine Eltern blieben der Arbeit wegen in Skopje, meiner Geburtsstadt, und sie besuchten mich an jedem Feiertag. Daher liebte ich die nationalen Feiertage Jugoslawiens, den Tag der Armee, den Tag des Staates, den 1. Mai, denn sie brachten meine Eltern zu mir. Später brachten die gleichen Feiertage mich zu meinen Großeltern.

Meine Großeltern waren einfache, fleißige Leute vom Land – Analphabeten, aber weise, großherzig und offen. Meine Oma verehrte und fürchtete Milka Planinc, die jugoslawische Premierministerin der 1980er-Jahre, erste und einzige Frau in diesem Amt. Sie kam oft in den Radionachrichten zu Wort. Ihre Stimme war tief und laut, und meine Oma drehte den Ton leiser, wenn Milka Planinc über die wirtschaftliche Blüte und die Einigkeit Jugoslawiens sprach.

2) Die »Reise durch Jugoslawien«

Die Reise durch Jugoslawien wurde an fast jeder jugoslawischen Schule angeboten und war ein sieben- bis zehntägiger Bustrip zu den wichtigsten historischen und touristischen Sehenswürdigkeiten des Landes. »Vom Fluss Vardar zum Berg Triglav«, wie es in einem bekannten Lied hieß. Das Motto der Reisen lautete: »Lerne dein Land kennen, um es noch mehr zu lieben.«

Und so gelangte ich als 13-jährige Schülerin ins wunderschöne Dubrovnik, wo ich den ersten Lippenstift meines Lebens kaufte, zu den herrlichen Plitvicer Seen, zu Titos Geburtshaus in Kumrovec, in das ehemalige Konzentrationslager Jasenovac, zum Denkmal für die ermordeten Schulkinder in Kragujevac – das Gedicht »Blutige Geschichte« der serbischen Lyrikerin Desanka Maksimović, das von diesem Massaker handelt, hatten wir in der Schule auswendig gelernt –, ins prachtvolle Belgrad mit seinen langen Alleen, in die quirligen Cafés von Sarajevo, aber nicht bis nach Slowenien. Uns fehlte die Zeit, um die Höhle von Postojna und den Berg Triglav zu sehen. War es die Enttäuschung darüber, die sechste Republik Jugoslawiens nicht bereist zu haben, die mich unbewusst antrieb, mich Jahre später in Slowenien niederzulassen?

3) Brüderlichkeit und Einigkeit der Völker und Nationen Jugoslawiens

Ein einschneidendes Erlebnis hatte ich Ende der 80er-Jahre in einem Dorf in Montenegro, bei Verwandten, die ich nie zuvor gesehen hatte (im jugoslawischen Denken war das kein Problem: Verwandte waren Verwandte, egal, ob nah oder fern). Mich befremdete, dass die Männer dort mit Pistolen unter dem Kopfkissen schliefen, aber für meinen Cousin war das selbstverständlich. »Echt, dein Vater hat keine Waffe?«, fragte er mich verblüfft.

Eines Morgens, ich stand gerade vor dem Haus, sah ich ein Auto vor einem der Nachbargebäude halten. Ein Mann und ein Mädchen in meinem Alter stiegen aus. Er gab ihr einen Kuss und fuhr gleich wieder ab, während sie mit ihrem Koffer die Stufen zur Haustür hochging, klopfte und eintrat, ohne dass ihr jemand geöffnet hätte. Meine Oma bekreuzigte sich dreifach und sagte zu mir: »Wehe, du treibst dich mit der herum, die taugt nicht als Freundin für dich.« Ich wunderte mich und fragte immer wieder, warum ich das Mädchen nicht kennenlernen sollte.

»Hast du ihren Vater gesehen? Er darf nicht mal ins Haus. Er ist ein Šiptar, deshalb! Ihre Mutter ging zum Studieren nach Priština, da traf sie ihn und wurde schwanger. Nun reden ihre Eltern schon seit Jahren nicht mehr mit ihr. Sie haben sie enterbt, und ihn wollen sie gar nicht erst sehen.«

Das alles kam mir unverständlich vor, in der Schule hatten wir doch gelernt und fast jeden Tag wiederholt, dass Brüderlichkeit und Einigkeit unter den Völkern und Nationen Jugoslawiens herrschten.

4) Der Krieg in meinem Leben

Jahre später war ich schockiert zu erfahren, dass einige der Verwandten, die wir in jenem Sommer besucht hatten, nach Bosnien gegangen waren, um dort auf serbischer Seite gegen die bosnische Zivilbevölkerung zu kämpfen. Das hatten wir nicht gewusst, und nach dem Krieg schickte meine Mutter mich mit dem Bus nach Montenegro, um den Verwandten Mehl, Öl und Zucker zu bringen. Es war das erste Mal, dass ich keine jugoslawische, sondern eine mazedonische Grenze überquerte. Und es waren keine normalen Grenzwachen, die im Bus die Papiere kontrollierten, sondern Soldaten mit Maschinenpistolen.

Mein Onkel erwartete mich am Busbahnhof. Mit festem Händedruck sagte er zu mir, ohne Umschweife und auf Serbisch: »Mazedonien ist also separatistisch? Ihr wollt nicht mit uns sein, mit den Serben? Ihr wollt sein wie die Slowenen und Kroaten? Dann wird Mazedonien zusammenbrechen, komplett zusammenbrechen!«

Während der ganzen Autofahrt bis zu seinem Haus wiederholte er, wir seien Separatisten, und niemand auf der ganzen Welt komme Slobodan Milošević gleich. Als wir angekommen waren, führte mein Onkel mich auf den Dachboden, um mir die Vorräte zu zeigen. Säckeweise Mehl und Zucker, Kisten voller Öl und Essig, Nudeln, Konserven und was nicht alles. »Wir sind versorgt, wir brauchen keine Almosen von Mazedoniern«, sagte er: »Aber die Zeit wird kommen, da werdet ihr sie von uns brauchen.« In aller Ausführlichkeit erzählte er mir dann, was für große Krieger die Serben in Bosnien gewesen sein und dass es jedem wahren Serben (dabei war er selbst halb Montenegriner, halb Mazedonier) zur Ehre gereiche, in Kroatien und Bosnien gekämpft zu haben. Ich blieb stumm und fummelte in meinen Hosentaschen herum.

Am Abend lud eine seiner verheirateten Töchter zum Essen. Auf einer Tafel, die sich durchs ganze Zimmer erstreckte, waren Lammbraten und Töpfe voll Reis und Kartoffeln aufgetischt. Der Mann meiner Cousine legte eine Kassette ein, und der traditionelle Serbische Tanz erklang. Alle sprangen auf, fielen einander in die Arme, und sie zogen mich mit sich. Mit festen Stimmen sangen sie, Männer wie Frauen, und wirbelten im Kreis, wirbelten mich mit, und mitten im wilden Tanz dröhnten die Worte: »Srbo, Srbo – Slobo, Slobo!« Ich hielt es nicht mehr aus und schrie: »Ich will nach Hause, ich will nach Hause!« Endlich brachten sie mich hinaus und setzten mich in ein Auto. Am Morgen nahm ich den ersten Bus nach Skopje, winkte meinem Onkel am Bahnhof nur flüchtig zum Abschied. Ich habe diese Verwandten nie wiedergesehen.

5) Eine seltsame postjugoslawische Zusammenkunft

Eine seltsame Zusammenkunft ergab sich im Jahr 1995, kurz nach dem Genozid von Srebrenica, als ich in Straßburg auf andere junge Jugoslawinnen und Jugoslawen traf. Alle wie ich in den 70ern geboren, alle zerbrechlich und verwirrt: Wir fühlten uns schuldig an einem Krieg, den wir nicht gewollt hatten. Die Bosnierinnen waren so wütend und traurig, dass ich mich fast schämte, aus Mazedonien zu sein, das damals als »Oase des Friedens« galt. Eine von ihnen sagte zu mir: »Stell dir vor, du studierst, aber dein Studentenausweis verbrennt in der Nationalbibliothek von Sarajevo, zusammen mit all unseren Dokumenten und all unseren Büchern – deine persönliche und deine nationale Identität ist verloren. Du bist niemand, bist nichts, und um dich herum sterben die Leute.«

Sie hatte recht. Wir versuchten einander zu verstehen und sangen sogar zusammen den Song My Balkan von der Rockband Azra, den wir alle sehr mochten. Die Dozenten an der Universität Straßburg, die uns aufgenommen hatte, riefen: »Aber ihr liebt euch doch!« Sie wollten mit uns ins Gespräch kommen, um zu verstehen, was geschah und warum. Wir konnten ihnen nicht weiterhelfen. Was in Jugoslawien passierte, nahm uns zu sehr mit, und wir begriffen es ja selbst nicht. Gewiss liebten wir einander, aber tief im Innern blieb das Gefühl, an dem Krieg schuld zu sein, auch wenn niemand von uns an irgendetwas schuld war.

6) Die jugoslawische Literaturszene und ihre Netzwerke

Wenn junge Autorinnen aus Ex-Jugoslawien ältere Kollegen reden hören, könnten sie denken, die jugoslawische Literaturszene sei das reinste Märchen gewesen. Das stimmt nicht ganz, doch immerhin galt damals jede Nationalliteratur als Teil der jugoslawischen Literatur. An den Unis gab es Fakultäten für jugoslawische Literatur, die heute Fakultäten für die südslawischen Literaturen heißen. Das wichtigste Lyrikfestival des Landes waren die 1961 gegründeten »Abende der Poesie« in Struga, in meiner Heimat Mazedonien. Der Goldene Kranz der Dichtkunst wurde dort Lyrikern wie Mahmoud Darwish, W. H. Auden, Joseph Brodsky, Allen Ginsberg, Pablo Neruda, Desanka Maksimović, Hans Magnus Enzensberger, Nichita Stănescu, Ted Hughes, Adonis (Ali Ahmad Said Esber) oder Tomas Tranströmer verliehen. Überhaupt organisierten Autorinnen und Autoren in Jugoslawien viele Festivals, zu denen sie immer auch die Kollegen aus den anderen Republiken einluden.

Seit Ende der 80er, als ganz junge Lyrikerin, war ich dreimal bei einem Festival in Kikinda in der serbischen Provinz Vojvodina zu Gast, wo junge Dichter aus ganz Jugoslawien zusammenkamen. Ich übernachtete immer bei demselben Mädchen, wir wurden Freundinnen. Beim letzten Mal, im Mai 1991, einen Monat bevor alles begann, sagte ihr Vater, der bei der jugoslawischen Armee war, am Esstisch, er habe aus seiner Einheit den Befehl erhalten, sich zum Abmarsch nach Kroatien bereit zu machen, dort werde etwas organisiert. Ihre Mutter begann zu weinen. Er sagte, er müsse das tun, es sei seine Pflicht. Mich verwirrte das sehr. Noch Jahre danach habe ich immer wieder versucht, bei ihnen in in Kikinda anzurufen, um zu fragen, ob sie wohlauf seien, doch die Leitung blieb für immer tot.

7) Postjugoslawisches Schreiben

Unmittelbar nach den Kriegen war die postjugoslawische Literatur erfüllt von all dem, was geschehen war. Bei meinem ersten Besuch in Sarajevo in dieser Zeit kaufte ich die neueste Anthologie bosnischer Kurzgeschichten: Fast jede einzelne handelte vom Krieg. Auf der postjugoslawischen Literatur lastet die kollektive Erinnerung, doch zugleich vermag sie in den Spiegel der Geschichte zu blicken.

Natürlich haben wir nicht alle unmittelbar über den Krieg geschrieben, die Werke meiner Generation sind vielseitig. Manche behandeln historische Ereignisse, viele konzentrieren sich auf die Erfahrung, ortlos geworden zu sein, oder stellen Fragen zu Nation, Nationalismus, Freiheit, Identität. Andere greifen nach universell politischen Themen oder versuchen uns als Opfer des Systems zu schildern.

Viele von uns setzen Humor ein, um gegen das Trauma anzukämpfen. Und viele Schriftsteller sind aus Ex-Jugoslawien ausgewandert. Manchmal treffen wir uns bei Veranstaltungen, bei denen wir unsere (neuen) Länder vertreten. Diese Treffen sind sehr emotional, und wir lachen viel. Wenn all das Grauen, das in und mit Ex-Jugoslawien geschehen ist, irgendein Gutes mit sich brachte, dann, dass die politischen Krisen Interesse an der Literatur der Region weckten. Bitte Ironie: Weil das Furchtbare ihr Schreiben prägte, wurden vor allem Autorinnen, die vor den 70er-Jahren geboren waren, in zahlreiche Sprachen übersetzt und auf Festivals rund um die Welt eingeladen. Dieses Interesse ist längst wieder abgeflaut. Es gibt neue Kriege, neue Exilierte, neue Autorenschicksale. Der Buchmarkt lebt bekanntlich im Hier und Jetzt.

»Es war ja nicht unser Krieg«, sagte mir eine Dozentin am Institut für Mazedonische Literatur, als ich dort nach Büchern über das Zerbrechen Jugoslawiens und die Kriege in den Republiken suchte. Dabei war der erste Soldat, der in den Kriegen der 90er-Jahre getötet wurde, Sašo Gešovski aus Mazedonien – erschossen in Split vor laufenden Fernsehkameras. Wir waren alle schockiert. Der Krieg war allzu nah in Mazedonien, wir spürten ihn am eigenen Leib. Dennoch wirkt es wohl seltsam, wenn ein Buch, das der mazedonischen Literatur zugerechnet wird, sich mit diesem Thema beschäftigt, wo doch Mazedonien selbst kein Schauplatz der jugoslawischen Kriege war und sogar als »Oase des Friedens« galt.

Heute arbeiten wir postjugoslawischen Schriftsteller in vielfältiger Weise zusammen. Wir übersetzen einander, lesen einander, laden einander auf Festivals ein. Das erklärte Ziel von Sarajevske sveske, der großen Literaturzeitschrift im exjugoslawischen Raum, ist erreicht: Wir sind (wieder) Freunde. Wir haben viel gemeinsam, wir leben alle in derselben Welt.

8) Die Geografie meines Lebens

Ich verließ Mazedonien 1994, als die Kriege in Jugoslawien noch andauerten. In Bukarest promovierte ich in rumänischer Literatur und unterrichtete dort an der Universität mazedonische Literatur und Sprache. Ich begann in beiden Sprachen zu träumen, Mazedonisch und Rumänisch. Ich lernte meinen Mann kennen, der aus Slowenien ist, und anfangs sprachen wir Serbokroatisch miteinander, fanden aber bald, dass wir eine andere, eine neutrale Sprache bräuchten. Srebrenica geschah in unserem ersten Sommer als Liebespaar, und wir wichen auf die rumänische Sprache aus, um dem Jugoslawien in unserem Leben zu entfliehen, dem Land, das wir so sehr liebten und dass uns so sehr verletzt hatte. Sieben Jahre lang sprachen wir rumänisch miteinander, doch als wir nach Slowenien zogen, wechselten wir ins Slowenische. Da war Jugoslawien schon Vergangenheit, doch die Folgen seines Auseinanderbrechens spüren wir auf die eine oder andere Art bis heute.

9) Das letzte Jugoslawische

Auch wenn es Jugoslawien nicht mehr gibt, war mein Heimatland immer noch ein jugoslawisches Land, eine politische Farce im großen Stil. Als sie sich mit dem Zusammenbruch unabhängig machten, behielten alle jugoslawischen Republiken ihre alten Namen: Republik Slowenien, Republik Kroatien usw. Nur Mazedonien wurde, wegen der Probleme Griechenlands mit dem Namen Mazedonien, bei den Vereinten Nationen als »Ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien« geführt. Alle waren nun also etwas anderes als jugoslawisch, nur wir blieben »ehemals jugoslawisch«.

Als Kind hatte ich ein Mantra (oder Gebet?), das ich immer aufsagte, wenn ich ein Problem hatte, mich einsam fühlte oder vor einer Herausforderung stand: »Madzari (unser Stadtteil) ist in Skopje, Skopje ist in Mazedonien, Mazedonien ist in Jugoslawien, Jugoslawien ist in Europa, Europa ist in der Welt.« Hatte ich das ein paar Mal wiederholt, fühlte ich mich besser.

Ich weiß noch, einer meiner ersten Gedanken nach der Teilung Jugoslawiens 1991 war, dass es nun nicht mehr heißen könnte, »Mazedonien ist in Jugoslawien, Jugoslawien ist in Europa« – sondern direkt »Mazedonien ist in Europa«. Jahre später fragte mich meine Tochter, ob Mazedonien in Europa sei. Ja, sagte ich, doch sie zeigte mir eine Liste aus der Schule mit den Staaten der Europäischen Union, und darauf fehlte Mazedonien.

Heute heißt das Land Nordmazedonien und ist immer noch nicht in der EU. Doch fast 30 Jahre nach dem Ende Jugoslawiens existierte in Europa eine »Ehemalige Jugoslawische Republik«.

10) Ersatz-Leben

Für meinen Roman Rezerven život (auf Englisch als A Spare Life erschienen) erhielt ich 2013 den Literaturpreis der Europäischen Union und den Stale-Popov-Preis in Mazedonien. Die Geschichte eines siamesischen Zwillingspaars, das getrennt werden muss und die symbolisch-mazedonischen Namen Srebra und Zlata trägt, wurde als eine Metapher für die Trennung der jugoslawischen Republiken gedeutet. Als Vertreterinnen meiner Generation sind die beiden Zeuginnen der Aufspaltung Jugoslawiens: Zlata, die Erzählerin, spricht auch von ihren und Srebras Mitstudierenden und von den jungen Männern, die aus der jugoslawischen Armee desertierten: »Einmal sagte einer von ihnen, ›Scheiß auf alles, wie konnte ich zur falschen Zeit an den falschen Ort geraten?‹ Und das traf auf sie alle zu – eine verlorene Generation, die sich zur falschen Zeit am falschen Ort befand.«

Als ich mit der englischen Übersetzung meines Romans auf Lesereise durch die USA war, besuchte ich in zwei Wochen zehn Städte, von New York bis Los Angeles. In den Buchhandlungen sprach ich über mein Schreiben und mein Leben und beantwortete auch viele Fragen zu Jugoslawien. An einem der Flughäfen sah ich eine Maschine nach Dayton angekündigt. Ich staunte, wie konkret auf einmal die Stadt war, in der die jugoslawischen Kriege endeten und die Zukunft begann, ohne je von der Vergangenheit abgetrennt zu sein.

(Teile dieses Aufsatzes sind Paraphrasen aus meinem Roman »A Spare Life«, ins Englische übersetzt von Christina E. Kramer, die auch den Aufsatz im Ganzen bearbeitet hat.)

Leben am Tatort

von Tomislav Marković
Deutsch von Margit Jugo

Edi Matić

Der blutige Zerfall Jugoslawiens fiel in die Zeit meiner Kindheit und meines Heranwachsens. Während der oberste Kommandant der Horde des Bösen, Slobodan Milošević, danach strebte, mein Land gründlich auseinanderzunehmen, formte ich mich als Person und denkendes Wesen. Nicht nur in meinem, sondern im Namen von uns allen, die wir in den Siebzigern geboren sind, kann ich sagen, dass uns die Erfahrung des Zerfalls Jugoslawiens entscheidend beeinflusst hat, dass sie uns als Menschen geprägt und bestimmt hat, was wir sind und sein werden. Auch wenn die Bezeichnung „Zerfall der SFRJ“ ziemlich weit verbreitet ist, ist sie nicht wirklich die adäquateste, es handelt sich vielmehr um einen grausamen, hinterlistigen Mord aus niederen Beweggründen. Als Tatzeitpunkt gilt für gewöhnlich das Jahr 1991, in dem sich Slowenien und Kroatien von Jugoslawien abspalteten und die kriegerischen Auseinandersetzungen ihren Anfang nahmen.

Ich tendiere eher zur Meinung des Rechtsanwalts Srđa Popović, des wahrscheinlich weisesten Interpreten unseres Grauens, wonach sich der Tod Jugoslawiens genau am 28. September 1990 ereignet hat, dem Tag, an dem die Verfassung Serbiens angenommen wurde, durch die sich Miloševićs Republik vom Bundesstaat praktisch abgespalten hat. Mit diesem Rechtsakt hat sich Serbien zum unabhängigen und souveränen Staat erklärt und fortan die rechtliche Ordnung der SFRJ nicht mehr geachtet. Serbien hat sich faktisch als Erstes von Jugoslawien abgespalten, was im allgemeinen Chaos dieser turbulenten Zeit jedoch unbemerkt geblieben ist, verdeckt von Miloševićs Propaganda über die Wahrung des Bundesstaats, hinter der sich der Plan verbarg, Kriege zu beginnen und ein Großserbien zu schaffen, in dem er der absolute Herrscher sein würde.

Zu diesem Zeitpunkt war ich 14 und besuchte die achte Klasse der Grundschule. Es folgte der komplette Zusammenbruch einer Welt, die ich gerade erst kennenzulernen begann, der Welt des sozialistischen Systems, das fest und beständig wirkte, als würde es für immer andauern. Alles, was sie mir acht Jahre lang in der Schule beigebracht hatten, war plötzlich nicht mehr gültig, alles wurde in Feuer und Blut zerstört, woraus etwas Neues und Anderes geboren wurde – eine Missgestalt, die unvergleichlich schrecklicher war als Dr. Frankensteins Monster. So begann, wie Radomir Konstantinović zu sagen pflegte, das Leben mit dem Monster. Und es dauert bis zum heutigen Tag an, denn das nationalistische Ungeheuer ist immer noch gesund und munter, es hat sich lediglich in seine Höhle zurückgezogen, um sich nach mehreren Kriegsniederlagen die Wunden zu lecken und auf eine günstige Gelegenheit zu neuem Menschenmorden zu warten.

Hass, Chauvinismus, Gewalt, Verbrechen, Konzentrationslager, Genozid, Armut, gesellschaftlicher Zerfall, Kriminalität, nationale Homogenisierung, Rehabilitierung der Tschetniks, Freiwilligenbanden, Kriegshetzerei, Bombardierung, Isolation, Sanktionen, Verschwörungstheorien, Leugnung der Verbrechen, Glorifizierung der Massenmörder — das ist das Ambiente, in dem ich aufgewachsen bin. Doch für Selbstmitleid und das Lamentieren über das schlimme Schicksal, allzu beliebte Disziplinen in dieser Region, ist kein Platz – ich habe es gut erwischt. Ich war im Land des Aggressors, auf dessen Territorium kein Krieg geführt wurde, ich hatte Glück, im Gegensatz zu vielen meiner Altersgenossen aus Kroatien, Bosnien oder dem Kosovo, die gelitten haben, weil sie keine Serben waren, deren Schulfreunde und Schulfreundinnen, Nachbarn, Eltern, Verwandte und Freunde getötet worden sind.

Auf der Suche nach einer rationalen Erklärung

Gegen Ende des Lebens, in seinen späten Jahren, schrieb Srđa Popović in sein Notizbuch: „Zuerst lebt der Mensch, später versteht er dann, was er wirklich durchlebt hat.“ Dieser weise Spruch lässt sich auch auf meinen Fall anwenden, mit einem unbedeutenden Eingriff: Zuerst lebt der Junge, später versucht dann der Mann zu verstehen, was der Junge wirklich durchlebt hat. Die jahrzehntelange Praxis hat gezeigt, dass diese Aufgabe alles andere als leicht ist. Ich habe Tausende Seiten darüber gelesen, was uns widerfahren ist, Hunderte ausgezeichnete Texte und Analysen, Dutzende kluge, fundierte Bücher, in denen nahezu alles erklärt ist, und doch habe ich den Eindruck, dass mir nichts klar geworden ist. Schlimmer noch, ich habe mindestens mehrere Tausend Seiten über den Mord an der SFRJ, den großserbischen Nationalismus, Kriegsverbrechen, das Leugnen, die Rolle der Intellektuellen und der Kirche in der nationalistischen Konterrevolution, die Geschichtsrevision und Dutzende ähnliche Themen geschrieben, aber immer noch quält mich derselbe Eindruck der Unbegreiflichkeit des Grauens, in dem wir seit Jahrzehnten weiter bestehen.

Mit meinem Eindruck bin ich nicht allein, ich teile ihn mit Menschen, die unsere Apokalypse noch viel ernsthafter, ausführlicher und fundierter untersucht haben. Nach Dutzenden Interviews und Texten, den vielen Jahren, in denen er zuerst davor warnte, was passieren würde, und dann den Untergang der serbischen Gesellschaft im Bösen präzise analysierte, sprach Srđa Popović im Sommer 2000 von jahrzehntelangen Freunden, die auf die andere Seite wechselten, Hass verbreiteten und bewusst zu Krieg und Gewalt aufstachelten: „Sie haben mein Verständnis von der Natur des Menschen verändert. Es hat sich gezeigt, dass Menschen zu unvorhersehbaren Metamorphosen fähig sind, dass Freundschaften brüchig sind, dass Menschen unter bestimmten Bedingungen zu Monstern werden können. Ich versuche noch immer zu verstehen, wie das geschieht. Erfolglos. Ich weiß, manche wollten schnell an die Macht, ließen sich von billigem Applaus hinreißen, manche sind korrupt, trotzdem verstehe ich dieses Aussterben jeglichen Verstands, jeglicher Ehre, jeglichen Anstands, jeglichen menschlichen Mitgefühls nicht.“

In ihrem Buch Kovanje antijugoslovenske zavere („Das Schmieden der antijugoslawischen Verschwörung“) schlussfolgert Sonja Biserko nach einer ausführlichen Analyse der intellektuellen Elite und des serbischen nationalen Programms, nach einer Chronologie der Ereignisse von 1966 bis 2006 mit Hunderten von Zitaten, nach fast vierhundert Seiten fundiertester Darlegung der Genese des großserbischen Nationalismus, in der alles bis ins Detail erklärt ist: „Eine rationale Erklärung für alles, was in Serbien geschehen ist, nicht nur während der letzten zwei Jahrzehnte, sondern auch während des gesamten 20. Jahrhunderts, ist nicht möglich. Es gibt keine rationale Antwort auf die unnötigen Opfer der Kriege, die während des 20. Jahrhunderts und der megalomanischen Prätention auf dem Balkan geführt worden sind.“ Wie gut das Böse und dessen morbide Manifestationen auch untersucht werden, selbst wenn rationale Erklärungen für jede politische und ideologische Gewalttat gefunden werden, bleibt immer ein irrationaler Rest übrig, der sich nicht in rationale Kategorien einordnen lässt. Es bleibt immer eine innere Unruhe zurück, die unaufhörlich im Kopf pocht und immerzu dieselbe Frage wiederholt: Wie ist das alles überhaupt möglich?

Genau davon spricht auch die Figur von Faruk Šehićs Erzählung Pregaženi čovjek („Der überfahrene Mensch“): „Wenn mir jemand erklärt, was das für ein Mensch ist, der 1992 eines Morgens aufwacht, das Gewehr aus dem Versteck holt, die serbische Trikolore mit den vier „S“ über der Türschwelle aufhängt, zu seinem Nachbarn geht, diesen aus dem Haus in den Matsch jagt, auf die Knie zwingt, das Bajonett zückt und das Menschenwesen abschlachtet, den Nachbarn, den Trauzeugen, den langjährigen Freund; wenn mir das jemand rational erklärt, in einfache Elemente zerlegt, dann wird es einfacher sein zu leben. Ich glaube, eine solche Antwort gibt es nicht. Die moderne Wissenschaft, die Parapsychologie, die Religion, die Metempsychose – niemand und nichts hat eine Zauberformel für die Lösung dieser Frage, die wir alle mit unter die Erde nehmen werden.“

Die Begegnung mit dem Bösen

Wir alle haben erlebt, was Joseph Brodsky in seiner Rede an die Diplomanden des Williams College als „Begegnung mit dem Bösen“ bezeichnet hat. Ein lakonischer, einfacher Ausdruck für etwas, was wir bis ans Ende unseres Lebens zu begreifen versuchen werden. Bei einer anderen Gelegenheit beschrieb Brodsky das stalinistische System mit dem Syntagma „anthropologische Katastrophe“, das auch auf unseren Fall anwendbar ist. Auch für die offizielle Bezeichnung unserer Gesellschaftsordnung wäre es ein Kandidat. Ich lebe weder in einer Demokratie noch in einer Diktatur noch in einer Stabilokratie — sondern in einer anthropologischen Katastrophe. Von allen Bezeichnungen für diese anomische, amorphe Ordnung scheint mir dieses Syntagma am treffendsten zu sein.

Die Geschichte oder eine andere personifizierte Macht der Unterwelt hat meinem fernen Vorgänger von vor dreißig Jahren, diesem Jungen, der in der Zwischenzeit irgendwo verschwunden ist, eine Begegnung mit dem Bösen beschert. Mehrere Jahrzehnte später versucht der Mann, der „mit diesem Jungen“, wie Zbigniew Herbert über sein frühes Selbst sagt, „nichts gemein hat außer dem Geburtsdatum und der Papillarlinie“, diese juvenile Erfahrung in irgendwelche Begriffe zu übersetzen, zu verstehen, was geschehen ist, denn er hat inzwischen einen Erkenntnis- und Analyseapparat gewonnen, der dem verwirrten Junge nicht zur Verfügung gestanden hat.

Es fällt leicht, das nationalistische Galimathias eines Dobrica Ćosić oder Matija Bećković zu demontieren und deren chauvinistische Floskeln über die „humane Umsiedlung“ oder „das teuerste serbische Wort“ auf den Kopf zu stellen, aber die Erfahrungen des einstigen Jungen zu bewältigen ist schwer. Denn weder Ćosić noch Bećković haben im Dezember 1990 Verräterlisten angefertigt, von denen, die nicht für Miloševićs Sozialistische Partei Serbiens gestimmt hatten, Erschießungslisten, auf denen sich auch die Eltern des Jungen wiederfanden. Das haben seine Nachbarn getan, die örtlichen Mitarbeiter der Geheimpolizei UDB, vielleicht für eine würdige Apanage, vielleicht aber auch freiwillig — der patriotische Elan dieser euphorischen Jahre war groß, wenigstens an Denunzianten hat es uns nie gemangelt.

Der junge Mann, der dem Jungen das Schachspielen beigebracht und ihm die Sizilianische Verteidigung, die Italienische Partie und das Damengambit gezeigt hatte, wurde, als der Krieg begann, zu Vojislav Šešeljs Freiwilligem, zum Bauern in einer Partie, bei der die Mächtigen mit Menschenköpfen spielten. Als er aus dem slawonischen Kriegsgebiet zurückkehrte, angetrunken und mit zerrütteten Nerven, erzählte er dem Jungen, wie es ist, ein Gebiet zu säubern, eine Bombe in ein Haus zu werfen und dann zuzusehen, wie Kinderdärme durch die Luft fliegen. Der Junge hörte erschüttert und ungläubig zu, es ging ihm nicht in den Kopf, wie dieser stille und ruhige junge Mann, mit dem er bis gestern noch Nachmittage am Schachbrett verbracht hatte, sich auf einmal in etwas Monsterhaftes verwandelt hatte. Er hatte das Gefühl, der Schachspieler würde übertreiben und fabulieren. Einige Monate später nahm der Schachspieler sich das Leben. Er erhängte sich an einem Balken auf dem Dachboden seines Geburtshauses.

Diejenigen, die ihn in den Krieg getrieben haben, sind heute noch am Leben, gesund, mächtig und reich. Einer von ihnen war bis vor Kurzem Volksabgeordneter, ein anderer ist der ehemalige und ein dritter der heutige Präsident Serbiens. Der Mann, der das Geburtsdatum und den Fingerabdruck mit dem Jungen teilt, hat zu Hause noch die Bücher im Regal stehen, die ihm der Schachspieler geschenkt hat, die Biografien der Großmeister und Schachchampions Anatoli Karpow und Raúl Capablanca. Bis heute weiß er nicht, ob der Schachspieler die Wahrheit gesagt oder auf morbide Weise mit vorgetäuschten Kriegstaten geprahlt hat. Es ist schwer zu glauben, dass jemand, mit dem du aufgewachsen bist, zum Verbrecher geworden ist.

Der Junge wurde groß, er war schon ein junger Mann, als im Kosovo Krieg geführt wurde. An diesem Krieg beteiligte sich auch ein Verwandter des Jungen, als Unteroffizier der Jugoslawischen Armee. Nach der Rückkehr wollte dieser nichts von seinem ruhmvollen Kampf erzählen. Eines Sommerabends jedoch tat der Alkohol das Seine, und der Soldat schob die Tür zu seiner Seele einen Spalt breit auf. Mit leidenschaftlichem Elan erzählte er davon, dass es nichts auf der Welt gebe, was mit den Freuden der Kriegsführung verglichen werden könne, es gebe nichts Schöneres und Aufregenderes als den Kampf, das Schießen, die Konfrontation mit dem Feind. Ihm tue nur leid, dass wir im modernen Zeitalter lebten, mit Waffen, die zwischen den gegnerischen Armeen Distanz erforderten, er misse und sehne sich nach der Zeit des Mittelalters, nach der Kosovo-Schlacht, bei der man dem Feind Brust an Brust gegenübergestanden habe, mit Messer, Säbel und nackten Händen. Er würde sich am liebsten in eine Zeitmaschine setzen, in die Vergangenheit reisen und mit den Türken raufen, um den Rausch des echten Kampfes zu spüren, den höchsten Genuss und die höchste Freude, die es auf der Welt gebe.

Dem einstigen Jungen kam Dmitri Karamasow in den Sinn, der in ähnliche Abgründe der menschlichen Seele geblickt und gesagt hatte: „Der Mensch ist weit, meine Herren, allzu weit sogar. Ich würde ihn enger machen!“ Weil das aber ein unmögliches Unterfangen ist, bleibt uns nur, das eigene Verständnis von der menschlichen Natur auszuweiten. Viele Jahre später las ich Miloš Crnjanskis Oklevetani rat („Der verleumdete Krieg“), worin noch dieser Satz steht: „Die aber, die im Krieg waren und zwischen den Toten lagen, wissen, dass der Krieg erhaben ist und es keinen höheren Moment im Leben eines Menschen gibt — es hat ihn nie gegeben — als die Teilnahme des Bewussten in der Schlacht“. Dieser Satz klang mir irgendwie vertraut, als seien wir uns schon einmal irgendwo begegnet.

Die Abrechnung

Die Begegnung mit dem radikalen Bösen, das alles vor sich zerstört, bestimmt in den formenden Jahren unausweichlich auch das Verständnis von der Natur des Menschen, ein Verständnis, das seinen Ausgangspunkt im anthropologischen Pessimismus findet. Diese Position hat nichts mit ideologischen Neigungen zu tun, vielmehr hat sie ihren Ursprung in einer sehr konkreten und extremen traumatischen Erfahrung. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie sich Menschen über Nacht in Menschenfresser verwandeln, wie anständige Leute, Familienväter, angesehene Bürger, die bis dahin keiner Fliege etwas zuleide getan haben, zu Blutrünstigen werden, die zur Endabrechnung mit den „Ustascha“, den „Balije“ und den „Šiptari“ aufrufen, mit sonderbaren Entitäten, von denen sie nur eine nebelhafte Vorstellung haben, da sie ihnen meist noch nie im Leben begegnet sind. Die fehlende Empirie hat sie nicht daran gehindert, das Ausrotten anderer menschlicher Wesen zu propagieren, denn Miloševićs wütende Propaganda hat diese als Feinde definiert.

Es gibt keinen Irrsinn, an den die Menschen nicht glauben, wenn irgendeine Autorität sie nur oft genug ausspricht. Zum Beispiel reden sie euch seelenruhig ein, Serbien befinde sich nicht im Krieg, und schicken gleichzeitig eure Nachbarn und Verwandten an die Front. Oder in Srebrenica sei kein Völkermord verübt worden, es handle sich hier um Rache an Soldaten, obwohl sie im Fernsehen das Video der „Skorpione“ gesehen haben und wie diese in Potočari Kinder töten und bestialisch verhöhnen. Wir befanden uns, wie Nadeschda Mandelstam sagt, „unter Menschen, die sich bewusst vom Guten losgesagt und sich von ganzem Herzen daran gemacht haben, die monsterhaftesten Triebe in sich und ihren Volksgenossen zu befördern.“ Es zeigte sich, dass diese Triebe nicht viel benötigen, um sich zu regen, es sind dünnhäutige Seelenmächte, die selbst auf den zartesten Reiz einer agitierenden schriftstellerischen Feder empfindlich reagieren.

Ich habe das schlimmste Gesicht des Menschengeschlechts gesehen, von Hass verzerrt, blutig und böse, gemein und niederträchtig. Ich möchte nicht generalisieren, aber ich kann mich den Schlussfolgerungen auch nicht entziehen, die der Lebenserfahrung in einer Gesellschaft entsprungen sind, die sich freiwillig auf den Weg des Zerfalls und der Zerrüttung begeben hat, als hätte die gesamte Gemeinschaft beschlossen, Selbstmord zu begehen und dabei noch jeden, der sich in der Nähe befindet, mit in den Tod zu nehmen. Die Schlussfolgerungen sind niederschmetternd, es ist schwer, mit ihnen zu leben, aber sie müssen aufgeschrieben werden. Menschen sind weder vernünftig noch human, Menschen sind völlig wahnwitzige Wesen, verzerrt, roh, böse und niederträchtig. Es gibt kein Grauen, keine Gemeinheit, keine Qual, keine Misshandlung, nichts, was ein Mensch einem anderen nicht antun würde, und das ohne jeglichen Grund, einfach nur, weil er es kann. Wenn uns das Großwerden und Heranreifen in der anthropologischen Katastrophe irgendetwas gelehrt hat, dann, dass der Mensch radikal verwerflich ist. Genau denselben Schluss hat auch Joseph Brodsky gezogen, der ebenfalls in der soeben erwähnten Gesellschaftsordnung groß geworden ist und darin gelebt hat, bis sie ihn vertrieben haben.

Diese niederschmetternde Schlussfolgerung wirkt auf den ersten Blick, ganz im Geist des anthropologischen Pessimismus, fatalistisch, doch das ist nur Schein. Denn der Mensch ist nicht radikal böse, weil es seinem Wesen entspricht, sondern weil er sich frei dafür entschieden hat, seine monsterhaften Triebe von der Kette loszulassen. Wenn wir die Erkenntnis akzeptieren, dass der Mensch radikal verwerflich ist, also fähig zum furchtbarsten Bösen, dann ließe sich darauf auch etwas aufbauen. Die Akzeptanz dieser Vorstellung könnte zum Beispiel der erste Schritt zur Bewusstwerdung Serbiens sein, zur Auseinandersetzung mit dem Verbrechen, das in unserem Namen begangen worden ist. Zu glauben, dass wir potenzielle Verbrecher sind, ist näher an der Wahrheit, bescheidener und weniger gefährlich als zu glauben, wir wären himmlische Engel.

Im ersten Fall errichten wir die Gesellschaft auf der Vorstellung, dass wir die anderen vor unserer Bosheit bewahren müssen. Genau darauf gründet doch wohl jede Rechtsordnung. Wozu sonst dienen die Gesetze? Der gegenteilige Fall, wenn wir uns für erhabene Wesen halten, für Übermenschen, Angehörige eines himmlischen Volkes — wohin dieser führt, wissen wir. Mitten hinein in Gewalt, Verbrechen, Genozid und Faschismus. Das ist die einzige Lehre, die ich aus dem alles umfassenden Zerfall ziehen kann, der einzige Hoffnungsschimmer in der geballten Finsternis. Vielleicht ist es gut, dass der Junge spurlos verschwunden ist, sodass ich ihm nicht verkünden kann, zu welchen Erkenntnissen ich gekommen bin, wohin mich seine qualvolle Erfahrung geführt hat. So wie ich ihn kenne, würde er auf all dies nur verächtlich abwinken und meine Überlegungen zum falschen Trost eines mittelalten Mannes erklären, der mit der Welt einen Pakt zu schließen versucht. Wenn mich das trügerische Gedächtnis nicht täuscht, war er ein erbitterter Gegner jeglicher Kollaboration mit der mürrischen Struktur des Universums.

Nostalgie: die Melancholie der Rechten

von Andrej Nikolaidis
Deutsch von Margit Jugo

Credits: Tanja Draškić Savić

Was kann euch einer über Nostalgie erzählen, der sein Leben lang über sie liest und schreibt?

Vielleicht kann er sich vor allem selbst die Frage zu erklären versuchen: Woher diese ganze Nostalgie? Wo entspringt ihr breiter Lauf, der sich wie eine füllige, uralte Schlange nicht zum Meer hinbewegt, sondern zur blauen Leere der Melancholie?

Der Fluss ist da, aber die Quelle gibt es nicht mehr. Die Nostalgie entspringt keinem Ort, der durch die Frage nach dem „Wo“ zu bestimmen ist. Zu fragen ist vielmehr nach dem „Wann“. Wenn wir die Quelle der Nostalgie orten möchten, sollte der Finger statt auf den Globus auf den Kalender zeigen.

Also: Wann? In Sarajevo, in Jugoslawien. Genau das: Sarajevo, Jugoslawien als Zeitbestimmung, das bedeutet für unseren Nostalgiker – sollte eine Übersetzung in die standardisierte Zeitmessung notwendig sein – im späten April 1992.

I

Der Raum/die Zeit der Nostalgiequelle kann noch präziser bestimmt werden: die Milentije-Popović-Straße, der Sarajevoer Vorort Dobrinja, der Augenblick vor der Abfahrt, als er beim Einsteigen ins Auto, an dessen Lenkrad sein ungeduldiger Vater sitzt, der Gruppe winkt, die wie jeden Tag, an jenem Tag ohne ihn, am Rand des nahegelegenen Platzes Basketball spielt.

Oder hat alles ein paar Augenblicke früher begonnen, während er beim Aufbruch aus der Wohnung zum letzten Mal die Bibliothek des Vaters betrachtete? Als seine Familie die Wohnung abschloss, die seine Mutter als Angestellte bei Energoinvest ein paar Jahre zuvor von dem dahinschwindenden Staat bekommen hatte, hinterließ sie nichts Wertvolles – außer der Bibliothek des Vaters. Sie nahm, um klar zu sein, auch nichts Wertvolles mit, von den eigenen Leben abgesehen, deren in Friedenszeiten niedriger Wert im Krieg noch zusätzlich gesunken war.

Jahrzehntelang hatte der Vater Bücher gesammelt. Manche davon – wie die antike zerfledderte Bibel, in der Vaters Vater täglich gelesen und versucht hatte, den griechischen Text buchstabierend die Angst vor dem Tod zu verjagen – hatte er aus Ulcinj mitgebracht, von wo aus er nach Sarajevo gekommen war, um Literatur zu studieren, dort hatte er dann geheiratet, ein Kind bekommen und war geblieben, womit alle Ideale einer kleinbürgerlichen Existenz erfüllt waren. Manche hatte er von seinem Onkel geerbt. Manche – meist als Buchblock, ohne Einband – brachte er aus dem Zeitungsverlag Oslobođenje mit, wo er als Korrektor arbeitete: zum Beispiel Krležas „Zastave“. Die übrigen kaufte er, sammelte er, bekam er geschenkt … wie Bücher nun mal zu denen gelangen, die sie haben möchten. Es war eine gute Bibliothek. Ein Bekannter von ihm, selbst Dichter, versuchte monatelang, nachdem Soldaten die Wohnung verwüstet hatten, die Bücher aufzuspüren. Schließlich erfuhr er, dass ein Priester sie den Soldaten abgenommen hatte. Er versuchte, sie zu retten, begrub sie jedoch: Die Bücher endeten im Kirchenkeller in Kasindo, der im Herbst 1992 voll Wasser gelaufen ist.

II

Was noch kann euch einer über Nostalgie erzählen, der sein Leben lang über sie liest und schreibt?

Vielleicht, dass der erste Roman, den er geschrieben hat, grauenhaft war – wie bestenfalls die beiden nachfolgenden. Er hat ihn nicht veröffentlicht – die danach aber schon: ein bedeutender Unterschied. Es handelte sich um eine unglaubwürdige und prätentiöse Geschichte, geschrieben unter dem Einfluss von Pavić und Márquez, hier und da war auch der Einfluss von Boris Vian zu erahnen, dessen Bücher er zu jener Zeit verschlang. Er war siebzehn. Das soll nicht als erleichternder Umstand begriffen werden. Es soll Teenagern nicht verboten werden, zu schreiben, aber es sollte ihnen verboten werden, zu veröffentlichen. Wenn euch Sorgen plagen, weil euer Kind seinen hausgemachten Porno ins Internet gestellt hat, tröstet euch – es könnte schlimmer sein, es hätte auch einen Roman oder eine Gedichtsammlung veröffentlichen können.

Seinen unveröffentlichten Roman bewahrt der Vater zwischen Katasterauszügen, Besitzurkunden und den Taufscheinen der Vorfahren auf. Da es sich um schwer kompromittierendes Material handelt, hat er mehrmals erfolglos versucht, es zu entwenden. Er weiß nicht, ob sich die Geschichte als Tragödie oder als Farce wiederholt, er weiß nicht, ob sie sich überhaupt wiederholt, aber noch ein Priester, noch ein Keller und noch eine Überschwemmung kämen ihm gelegen.

Nun ja … Viele Jahre später erst, als er seine eigene Bibliothek besaß, in die er alle Titel aus der Dobrinja-Kollektion des Vaters eingereiht hatte, die ihm in Erinnerung geblieben waren, begriff er, dass seine Welt verschwunden war, und mit ihr sein früheres Leben, mit allen Möglichkeiten, allen Freuden und Katastrophen, die es in sich getragen hatte. Er begriff, dass das Verschwinden jeder Sache, und sei sie noch so klein, nicht weniger ist als das Ende einer Welt, und dass der Verlust nicht geringer ist aufgrund der Tatsache, dass die verschwundene Welt augenblicklich von einer anderen aus dem unerschöpflichen Vorrat an Welten ersetzt wird. Er begriff, dass das ganze Leben eine Reihe intimer Mikro-Enden von allem ist; dass, was wir geliebt haben, verschwindet und die Nostalgie zu unserer Religion wird.

Die sich täglich bestätigt, denn die Welt, wie wir sie gekannt haben, verliert sich vor unseren Augen, mit immer höherer Geschwindigkeit. Es verschwinden sowohl die Schicksale als auch die Landschaften, an die wir uns erinnern – die Macchie, die bis ins Meer hinunter wächst; die Flüsse aus gelben Ginsterblüten, die sich in alle Nuancen des Blaus ergießen, vom klaren, flachen Wasser bis hin zum tiefblauen offenen Meer. Es verschwinden die Gerüche und Geräusche, mit denen wir gelebt haben. Solange sie existierten, waren sie alltäglich. Wir sind durch sie hindurchgegangen, als wären sie nicht da. Jetzt, da es sie tatsächlich nicht mehr gibt, empfinden wir ihre Abwesenheit als unwiederbringlichen Verlust. Genauso ist es mit uns nahestehenden Menschen und dem Duft des Kiefernwalds – feuchte Erde, Harz, Jod – am frühen Morgen: Sie mussten verschwinden, damit wir begreifen, wie sehr wir sie brauchen. Daher hat unser Nostalgiker Folgendes verstanden: Er wird sich in Zukunft verzweifelt bemühen, sich an möglichst viel von allem zu erinnern, denn die verschwundene Welt wird nur in der Erinnerung fortdauern, die so brüchig und unverlässlich ist – weil die Erinnerung verblasst, weil es so vieles gibt, was wir verlieren, und so wenig, was wir in Erinnerung behalten können. Daher zeugt nur die unermessliche Trauer, von manchen Melancholie genannt, solange wir noch in der Lage sind, sie zu spüren, davon, dass dort, wo sich letztlich eine gähnende Leere auftut, einmal etwas gewesen ist.

Unser sich erinnernder Protagonist wird verstehen, dass der wahre Verlust nicht in dem besteht, was wir verloren haben, sondern in der Unmöglichkeit, darum zu trauern. Weshalb er, entgegen der Ansicht kluger Köpfe, meint, dass nicht die Nostalgie und Melancholie uns daran hindern, zu kämpfen, sondern dass es genau umgekehrt ist: dass in Wahrheit die Nostalgie und Melancholie der Kampf sind. In Wahrheit ist die Nostalgie das, womit wir gegen die Atemporalität des Augenblicks kämpfen, und die Melancholie das, womit wir uns gegen den falschen Enthusiasmus des falschen Fortschritts der marschierenden Augenblicke verteidigen.

 Die Nostalgie gewinnt immer, wie die Gravitation. Ist die Nostalgie, nebenbei bemerkt, nicht eine Art Gravitation der Erinnerung? Die Gravitation bringt Trost, denn sie bestätigt, dass doch eine gewisse Ordnung besteht: Alles wird fallen. Die Erinnerung wiederum ist die Ordnung selbst: Sie ist die Welt, die wir sortieren, die wir ordnen konnten, eine Welt, die sich unserem Bemühen, sie zu verstehen, nicht mehr widersetzt. In der Erinnerung ist endlich alles in Ordnung. In der Erinnerung konservieren wir eine Welt, die es nicht mehr gibt – und auch nicht gab. Die Nostalgie ist keine Erinnerung an die Welt, wie sie war, sondern daran, wie sie hätte sein können. Sie ist eine in die Vergangenheit versetzte Utopie, eine Phantasie in Form von Erinnerung, sie stellt das Vergangene über alles, was erst sein wird. Die Nostalgie ist der Triumph der Melancholie der Rechten.

Die Nostalgie liebt die Tradition, so wie es sich für die Rechten gebührt. Die Auswanderer, Flüchtlinge und die übrige Menagerie, die in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts aus Jugoslawien nach Europa übergeschwappt sind, pflegen zahlreiche nostalgische Rituale. Eine Gruppe jugoslawischer Auswanderer – es wird erzählt, es sei in Holland gewesen – hatte beschlossen, zum Ersten Mai, dem internationalen Tag der Arbeit, dem Grundstein jeglichen Bauwerks der Erinnerung an das einstige Land, ein Lamm zu drehen. Sie fanden eine geeignete Wiese, auf der sie, während das Lamm gebraten würde, Fußball spielen konnten. Die Wiese lag an einem Fluss, in dem sie Bier kaltstellen konnten. Sogar ein gutes Stück Holz für den Spieß fanden sie. Sie fanden alles, nur kein Lamm. Aus irgendeinem Grund war es nicht möglich, ein Lamm zu kaufen. 

Unsere Holländer fanden eine Lösung. Nachdem ihnen, in der wer weiß wievielten Metzgerei, gesagt worden war, dass kein ganzes Lamm zum Verkauf stehe, fragten sie: Gut, aber ein Lamm in Stücken haben Sie? Dann kauften sie alle Lamm-Fragmente, die sie in der Metzgerei finden konnten. Den Kopf und das linke Hinterbein kauften sie in einem anderen Geschäft. Dann begingen sie ihren Ersten Mai, auf ihrer Wiese am Fluss, wo sie mit einem Draht alle Stücke zu einem entstellten Körper zusammenbanden und das Lamm aufspießten. Das so stabilisierte Frankenstein-Lamm, diese flüchtlingshafte Lesart von Mary Shelleys Werk, war die Verkörperung ihrer Nostalgien selbst …

Ein Nostalgiker wird vor der Bizarrheit der Hollandgeschichte nicht erschaudern. Für ihn ist sie lediglich eine Illustration: dafür, wie weit die Menschen gehen, um das, was als Normalität in ihrem Gedächtnis verankert ist, zu re-kreieren. Die wahre Bizarrheit findet er nicht im Vergangenen, sondern im Heutigen. Denn die Gegenwart, so glaubt er, werde von der Ökonomie des Irrsinns gesteuert. Es gibt im Jetzt keine Scheußlichkeit, keine Niedertracht, nicht einmal eine Verrücktheit, die ihn überraschen würde. Als wäre den Menschen der Irrsinn zur Heimat geworden. So ergreift Menschen der Wirklichkeit, Menschen ihrer Zeit, die Angst, sobald sie einen Schritt in die Rationalität wagen, weshalb sie schnell nach Hause zurückkehren, in ihre Sanatoriumsländer, deren Fahnen da hängen wie zum Trocknen aufgehängte Zwangsjacken.

Spuckt nicht auf unsere Existenzen

von Mile Stojić
Deutsch von Klaus Detlef Olof

Credits: privat

Drei Jahrzehnte sind seit dem Tod des sozialistischen Jugoslawien vergangen, und darüber ist mehr oder weniger alles gesagt. Der Sozialismus ist untergegangen, und untergegangen ist auch der Staat, der diese Bezeichnung getragen hat, denn, so wird der ausländische Betrachter sagen, nichts auf der Welt ist ewig, auch kein Staat. Der zweite Staat der Südslawen ist allerdings schmählich untergegangen, sein Zerfall war ein blutiger und lange währender, mit Bergen von Leichen, die jetzt die ehemaligen „Brudervölker“ spalten, aber sein geistiges Vermächtnis ist noch vorhanden, nicht nur in den Erinnerungen meiner Generation, sondern auch in jenem Bereich, den wir gewöhnlich als gemeinsamen Kulturraum bezeichnen.

Für uns, die wir in diesem System geboren und aufgewachsen sind, haben sich seine Inhalte ins Feld der Nostalgie geflüchtet. Ein Paradoxon ist es, dass Jugoslawien von jugoslawischen Kommunisten zerstört wurde, von einer Generation, die die Idee der klassenlosen Gesellschaft geboren hat. Diese verschworenen Kämpfer des Marxismus-Leninismus blieben nicht länger Adepten der planetaren Utopie, sondern zerstörten einen komplizierten Organismus mit Hilfe eines einfacheren. Mit einem Hammer lässt sich der Mechanismus einer Uhr leicht zerschlagen, umgekehrt ist es unmöglich.

Die Idee der Utopie hatte dem Partikularismus zu weichen, das Projekt der sozialen Emanzipation dem – Nationalismus. In der Dekadenz des jugoslawischen Monismus wurde der nationale Führer geboren, der zum Volk, vor allem zum serbischen, in der „Sprache des Volkes“ redete. Aber kann man so komplizierte Dinge mit so einfachen Worten ausdrücken? Wir jedenfalls konnten, wie László Végel sagt, unsere Vergangenheit nicht einfach begraben. Denn Jugoslawien war eine große Idee, die von großen Dichtern besungen wurde:

            Setzt alles in Brand, was brennen kann

            Zerstört alles, was sich zerstören lässt, alles, was nicht ewig ist

            Findet in allem und nach allem die Hoffnung

            Revolution!, was bleibt, ist der Mensch

            Was vergeht, ist die Vergangenheit

(Branko Miljković, Jugoslawien)

 

Dieser Staat, in dem wir geboren wurden und der fast achtzig Jahre lang Jugoslawien hieß, ist also vor drei Jahrzehnten definitiv in die „Rumpelkammer der Geschichte“ gewandert. Barbarisch in Stücke gerissen, haben sich auch die Reste seiner Überbleibsel aufgelöst. Die Brüder sind im Kampf um die materielle Hinterlassenschaft des respektablen Toten ausgeblutet, und um die geistige schert sich niemand mehr, denn die wird allgemein als geringfügiger Besitz angesehen, als gescheitertes Projekt. Sein Name wird von niemandem mehr benötigt, er dient jetzt als Spottwort und Menetekel.

Alles, was nicht imstande ist zu leben, ist auch die Erinnerung nicht wert, lehren uns die darwinistischen Gesetze der Geschichte. Und doch werden uns, den in dieser Welt Geborenen, manche Gewohnheiten und Begriffe bis zu unserem Tod im Gedächtnis bleiben, manche längst jeden Inhalts entleerte Worte werden von uns verlangen, dass wir nach ihren vergessenen oder verlorenen Bedeutungen suchen und sie erneut deuten. Eine dieser Phrasen ist in jedem Fall das Kompositum Einheit und Brüderlichkeit, ein Schlüsselwort der ideologischen Sprache im sozialistischen Jugoslawien.

Wie viel Mühe hatte ich, mein Gott, als ich als hoffnungsfroher Student meinen jungen deutschen Freunden die Begriffe übersetzen und verdeutlichen sollte, auf denen unser damals mächtiger und allseits respektierter Staat gegründet war. Am schwersten fiel mir, Begriffe wie „Blockfreiheit“ oder „Einheit und Brüderlichkeit“ ins Deutsche zu übersetzen, vor allem letzteren, der der feste Zement war, von dem der gigantische jugoslawische Monolith zusammengehalten wurde. „Zur Brüderlichkeit braucht es zwei, Einheit ist eine einzige“, lautete die prompte Antwort, aber ich ging nicht in die Knie. „Einheit und Brüderlichkeit“, wiederholte ich und führte stolz die Tatsache an, dass Marschall Tito persönlich dieses große Wort in jeder seiner Reden verwendete und uns dringend ermahnte, „Einheit und Brüderlichkeit wie unseren Augapfel zu hüten“.

Erst später habe ich begriffen, dass diese Begriffe biblischer Herkunft sind und dass sie für uns eine Art kosmopolitischer Ersatz waren. Uns war nicht bewusst, dass sie zugleich Synonyme der Diktatur waren. Darin lag der helle Schein des Sozialismus – dass er jedem die Illusion gab, er könne seinen Platz finden und in seinem Schutz beruhigt und gelassen sein.

Den Namen der Einheit und Brüderlichkeit trugen damals Brücken, Plätze, Eisenbahnzüge, Schulen, Fabriken und Verlagshäuser. Die erste moderne Straße auf dem Balkan, der größte Verkehrsweg, der Zagreb und Belgrad verband, hieß Autoput bratstva i jedinstva, Autobahn der Einheit und Brüderlichkeit. Den Bau dieser Straße reklamierte man lange Zeit als eines der größten Wirtschaftswunder Jugoslawiens, über sie hinterließen die damaligen Dichter erschütternde Zeugnisse in den Schulbüchern. Auch heute dringen diese vollen Akkorde durch den Tunnel der Zeit, durch das gewaltige Brausen und Rauschen an unsere Ohren:

            Zwischen den zwei Bruderstädten

            Belgrad und Zagreb

            Erstreckt sich die weiße Straße …

            Wie der Regenbogen über den Himmel …

            Erstreckt sich die weiße Straße

            Sie erscheint dir von Weitem

            Als schneeweißer Strom

            Zwischen Äckern und Auen …

So beschrieben patriotische Dichter die Entstehung und den Zweck der ersten jugoslawischen Autobahn, indem sie ihr einen metaphysischen, keinen verkehrstechnischen Sinn gaben.

Heute hat diese Straße ihren Namen geändert und heißt nicht mehr Autoput bratstva i jedinstva, wie es im sozialistischen Staat der Fall war, und sie heißt auch nicht nach den Städten, die sie verbindet, wie es überall in der Welt üblich ist; heute trägt sie die Bezeichnung Autocesta Zagreb-Lipovac. Der Name der einstigen jugoslawischen und heute serbischen Hauptstadt wurde aus ihrem Namen gelöscht, an seiner Stelle figuriert die Bezeichnung eines kroatischen Grenzdörfchens in Slawonien.

Es ist verständlich, dass die einstige ideologische Bezeichnung dieser Verkehrsader heute manch einem grotesk vorkäme, manchem vielleicht auch nostalgisch (wie „Seidenstraße“, „Heilsweg“ usw.), aber der jetzige Name wirkt verwirrend und ungenau. Stellen Sie sich vor, die Autobahn Wien-München hieße Wien-Oberberg oder so ähnlich, stellen Sie sich vor, welch Kopfzerbrechen das den Autofahrern und Reisenden tagtäglich bereiten würde. Den Straßen der Welt ist es egal, wie sehr wir die Städte lieben, zu denen sie führen.

Zur Autobahn Zagreb-Belgrad würde unter Einrechnung der aktuellen Resultate der Nationalpolitiken noch am genauesten die anagrammatische Bezeichnung Zagrab-Belgrab passen. Genosse Tito, dein Brief soll stets uns mahnen – Einheit und Brüderlichkeit steht auf unseren Fahnen, hatten die Jugendbrigaden bei den freiwilligen Arbeitseinsätzen gesungen, überzeugt davon, dass die Botschaften der zahlreichen Parteikongresse Wegweiser seien in eine hellere und bessere Zukunft. Aber das ideologisch unterlegte Verdrängen und Negieren der Unterschiede zwischen den jugoslawischen Völkern machte einem Hervorheben und Überbetonen dieser Unterschiede Platz. Die balkanischen Liliputstaaten hatten Gulliver-Ambitionen, was vor allem für den großserbischen Nationalismus gilt.

Alle diejenigen lügen, die da sagen, sie hätten den Kommunismus von innen heraus gestürzt – die damaligen politischen Gefangenen liebte niemand – die Mehrheit glaubte, die Kommunisten hätten einen Šešelj, Đo­go oder Tuđman zu Recht verurteilt und eingesperrt. Der Kommunismus wurde global durch die Initiative Michail Gorbatschows gestürzt und gebar neue unabhängige Staaten, während Jugoslawien von innen gestürzt wurde, heimtückisch und hinterhältig.

Sein definitiver Verbleib ist nach alledem die Rumpelkammer der Geschichte, denn unter den neuen Bedingungen habe das berühmte Syntagma, wie ein zeitgenössischer Chronist ätzend bemerkt, eine neue Bedeutung bekommen: es seien die Brüderschaft des Verbrechens und die Einheit der Finsternis, die die südslawischen Völker nun miteinander verbänden. Die Worte der Pionier- und Soldateneide, der lyrischen Gedichte, sozialistischen Weckrufe und Kampflieder waren der Einheit und Brüderlichkeit gewidmet, dieser Errungenschaft aller Errungenschaften des Volksbefreiungskampfes und der sozialistischen Revolution. Jetzt sind sie nur noch leere Begriffe, tote Schriftzeichen.

Einheit und Brüderlichkeit war vo vremja ono, zu jener Zeit, Ausdruck der Liebe, eine rhetorische Figur, mit der die gegenseitige Beziehung „unserer Völker, Völkerschaften und nationalen Minderheiten“ beschrieben wurden, die Illusion, dass wir alle gleichberechtigt seien, aber auch die Schafsmaske, hinter der sich lange Zeit die Wolfsgesichter versteckten. Heute sind wir allein, nackt und tot. Verwundert, dass die Worte leer sind wie die Augenhöhlen eines Schädels, dass wir ihre Bedeutungen zerstört haben, die einmal mit optimistischen, rosigen Sinngebungen lebendig pulsten. Die Utopie von Einheit und Brüderlichkeit, von Gleichheit und Gerechtigkeit hat sich in kurzer Zeit in Weinen und Zähneknirschen verwandelt.

Jugoslawien war ein Projekt der Modernisierung der zurückgebliebenen Balkangesellschaften, allerdings im autoritären Modus. Gestürzt wurde es durch den serbischen Großstaatsnationalismus, alle Waffen, die Tito zur Verteidigung des sozialistischen Staates gegen äußere Feinde angeschafft hatte, stürzten über seine Bürger herein. Die Neunzigerjahre brachten die Reinkarnation des Faschismus, mit Konzentrationslagern, Massendeportationen und Genozid. Seine Einzelteile, vor allem Bosnien und Herzegowina sowie Serbien, sind heute postgenozide Gesellschaften, ohne klare Orientierung, mit Hunderttausenden verwundeter und ihrer Rechte beraubter Menschen, die ihr Heil zumeist in der Emigration suchen und das Land immer zahlreicher verlassen.

Die Geschichte von Jugoslawien erscheint der jungen Generation heute wie eine Erzählung von Karthago und dem alten Rom. Wir, die wir in diesem Staat unsere schönsten Jahre verlebt haben, wir hätten unseren alten Staat kaputtgemacht. Der junge serbische Schriftsteller Marko Dinić beschreibt in einer Abrechnung mit seinen Eltern meine Generation wie folgt: „Irgendwo war in der Zwischenzeit eine Veränderung eingetreten: Krieg, Kindheit, Bombardierung, Wald, Schule, Flucht, fremdes Land, Großmutters Tod, Autobus, Rückkehr, Ring – der Vater war immer erschöpft und angefressen, wenn er von der Arbeit nach Hause kam, so als hätte die Stadt allmählich auch ihn und seine Existenz eingesaugt. In Wien hatten die Menschen nie so erschöpft ausgesehen. Er war, so wie ich, alleingelassen, seine Generation war wie ein in die Ecke getriebenes Schlachtlamm, Stimmvieh für ein schönes, neues und gerechtes Land …“

Der Dichter Predrag Lucić hat einmal geschrieben, Jugoslawien sei von seinen besten Söhnen erbaut und von seinen schlechtesten zerstört worden. Es lebt nur noch in den Erinnerungen der Alten, die an die ideale Gesellschaft geglaubt, sie erbaut und zerstört haben. Bringt deshalb ein wenig Mitleid für sie auf, spuckt nicht auf diese gescheiterten Existenzen.

Von der Namenlosigkeit

von Goran Vojnović
Deutsch von Klaus Detlef Olof

Tanja Draskić Savić

Mein Vater liebt unsere Lieder, und ich auch. Volkstümlich würde mein Vater sie nennen, aber das mir scheint nicht die richtige Bezeichnung für sie zu sein. Diese Lieder sind Sevdalinke, traditionelle altstädtische Romanzen, Kaffeehauslieder, mazedonische Volkslieder, jugoslawische Schlager. Sie habe viele Namen und sind doch namenlos. Bosnische Lieder würde man hier, in Slowenien, zu ihnen sagen, obwohl es unter ihnen auch kroatische, serbische, mazedonische und montenegrinische Lieder gibt. Am besten könnte ich sie wohl als Lieder beschreiben, die meine Eltern mit ihren Freunden an Tischen voller Speisen und Getränke sangen. Oder als musikalischen Hintergrund meiner Kindheit. Lieder, die es nicht auf Platten und Kassetten gab und die ich nur in der Interpretation eines beschwipsten Quartetts, Sextetts oder Oktetts an unserem Esstisch kannte.

Es gibt niemanden mehr, der diese Lieder so singt, wie meine Eltern sie gesungen haben. Es gibt niemanden mehr, der so wie Hazim, Vaters bester Freund, ganz plötzlich, aus heiterem Himmel, mit seiner hohen Stimme ‚Eleno, kerko Eleno …‘ vorgibt. Es gibt niemanden mehr, der sich denen zugesellt, die aus heiterem Himmel ein Lied anstimmen.

Ich singe unsere Lieder manchmal meinen Söhnen vor. Manchmal auch mir selber, im Auto, zusammen mit der Ausnahmesängerin Amira Medunjanin, deren Repertoire dem Repertoire meiner Eltern noch am meisten entspricht. Aber sonst ist es heute in Ljubljana fast unmöglich, eine Gesellschaft zu finden, mit der man unsere Lieder singen könnte. Zuletzt sind sie hier nach der Premiere meines Theaterstücks „Jugoslavija, moja dežela“ erklungen. Wir haben sie fast so gesungen, wie es einst meine Eltern getan haben. Aber das ist schon mehr als fünf Jahre her. In Bosnien haben wir sie letztes Jahr gesungen, als wir den 18. Geburtstag des Sohnes meiner Cousine gefeiert haben. In Bosnien können die Menschen diese Lieder besser, und deshalb fängt man dort eher an zu singen, aber auch dort immer seltener und nicht mehr so wie früher. Auch dort gibt es immer weniger Lieder, die unsere Lieder sind.

Und doch lausche ich diesen Liedern heute mehr als je zuvor. Ich höre Mostar Sevdah Reunion, ich höre Damir Imamović und ich höre Amira. Eine Zeit lang habe ich versucht, auch meinen Vater für die neuen Interpreten der alten Lieder zu gewinnen, aber das habe ich aufgegeben. Einmal habe ich ihn sogar zu einem Konzert von Amira mitgenommen, aber während ich geschwelgt habe, hat er ihre Interpretation korrigiert. Weil er weiß, wie man die alten Lieder singt. Er lässt sich auf keine neuen Arrangements ein, auf keine andere Vokalinterpretation, vor allem aber hat er kein Verständnis für Jazz. Mostar Sevdah, Amira, die alle verderben unsere Lieder, weil sie sie nicht so singen, wie es früher Zaim Imamović, Toma Zdravković oder Silvana Armenulić getan haben.

Diese Lieder kannst du nicht verbessern, die kannst du nicht besser spielen oder singen, weil sie genau so bleiben müssen, wie sie waren, glaubt mein Vater. Nur so versetzen sie ihn wieder in die Zeit, bringen ihn zurück in die sechziger oder siebziger Jahre, in seine Jugend, was er sich von diesen Liedern als Einziges wünscht. Die Nostalgie meines Vaters ist eine zeitliche, meine eine räumliche. Ich wünsche mir, dass mich unsere Lieder in den Raum zurückversetzen, dass sie mich zurückbringen zu dem, was mir eigen ist, zu dem, was nach der Zerstückelung meiner Kindheitswelt hinter den Grenzen und Bergen noch geblieben ist. Die Heimat meines Vaters ist in der Zeit verloren gegangen, meine im Raum, deshalb sehnt er sich nach der verlorenen Zeit, ich mich nach dem verlorenen, dem unerreichbaren und entschwundenen Raum.

Diese Unterscheidung habe ich lange nicht begriffen, und deshalb habe ich auch die Missverständnisse nicht begriffen, mit denen ich mich immer wieder konfrontiert sah, wenn ich von meinem Vaterland gesprochen habe. Nach ihm wurde ich immer aufs Neue gefragt, denn ich bin ein Kind von Zugewanderten, ein Kind zweier Sprachen und mehrerer Kulturen. Meine Mutter ist aus dem kroatischen Istrien nach Slowenien gekommen, mein Vater aus Zentralbosnien. Was bist du, wurde ich deshalb gefragt. Wer bist du, wurde ich gefragt.

Und wenn ich das benennen wollte, was das mir Eigene ist, das, was ich bin, bot sich mir wie von selbst der Name Jugoslawien an, aber etwas in diesem Namen klang nicht richtig. Jugoslawien war der Name jenes Staates, in dem ich geboren wurde, jenes Staates, den meine Eltern hatten und den sie noch als den ihnen eigenen ansehen, und es war mehr und zugleich weniger als mein Vaterland. In ihm gab es vieles, was mir fremd war, gleichzeitig umfasste es nicht alles, was mir zu eigen war, und weckte deshalb in den Menschen ganz falsche Vorstellungen von mir. Wenn ich als mein Vaterland Jugoslawien nannte, musste ich deshalb immer betonen, dass ich nicht vom Staat Jugoslawien spreche, von dieser unglücklichen sozialistischen Föderation, die noch heute, dreißig Jahre nach ihrem blutigen Zerfall, erregt und aufregt. Meine Welt waren weder Tito noch die Partei noch der Selbstverwaltungssozialismus, sagte ich immer wieder, wurde aber überhört und als Jugo-Nostalgiker abgetan. Ich, der ich elf Jahre alt war, als dieser Staat zerfiel, und von allem Jugoslawischen eine emotionale Bindung nur an die Basketball- und Fußballnationalmannschaft hatte.

Heute weiß ich, dass diese Missverständnisse unvermeidlich waren. Wenn ein Staat aufhört zu existieren, landet er im Raum der Erinnerungen, in der Literatur. Erst wenn die Erinnerungen verblasst sind und es uns nicht mehr gibt, die wir uns an diesen Staat erinnern, wird er Geschichte. Und erst dann wird man über ihn leichter sprechen können, weil es in der Geschichte mehrere, aber nicht Millionen Jugoslawien geben konnte, es wird nicht so viele Jugoslawien geben, wie es in unseren Erinnerungen gibt. Dereinst, wenn wir nicht mehr sind, wird Jugoslawien nicht alles und noch mehr sein, vom Mangel an Schokolade und Bananen bis hin zur Abireise nach Dubrovnik, von der galoppierenden Inflation bis hin zu Ćopićs Ježeva hišica. Nur in den Erinnerungen, in der Literatur kann Jugoslawien zugleich der Name für die erste Liebe und den Genozid sein, für Lieder und für Dekrete, für Krieg und Frieden und wieder – oder noch immer – Krieg. Deshalb nenne ich mein Vaterland nicht mehr Jugoslawien. Deshalb hat mein Vaterland keinen Namen mehr.

Wenn ich Vaterland sage, denke ich zum Beispiel an den Feigenbaum, der im Hof eines Mehrfamilienhauses in Pula steht, an den Kirschbaum, der zwischen zwei bosnischen Häusern wächst. Ich denke daran, wie ich auf beide Bäume geklettert bin und ihre Früchte gepflückt habe, an die Menschen denke ich, die die Feigen und Kirschen gegessen haben. Wenn ich Vaterland sage, denke ich an eine überfüllte Wohnung in Novi Sad, voll mit Kleidungsstücken, die niemand mehr anziehen wird, weil sie Stücke aus einem vergangenen, in Angst zurückgelassenen Leben sind. Wenn ich Vaterland sage, denke ich an die Jahorina, an Nebel und vereiste Rohre, an das wegbleibende Fernsehbild und an die Skifahrerin, die mit ihm zusammen wegbleibt. Ich denke an den einen Strand in Pula unter dem Leuchtturm und an den anderen, zu dem wir Dreckmeer gesagt haben. Ich denke an die Pizza in Rovinj, an die ich mich nicht erinnere, weil ich mich nur erinnere, wie wir spät abends im Zastava 101 meiner Tante aus Rovinj zurückfahren. Wenn ich Vaterland sage, denke ich an Friedhöfe, an Gräber. Ich denke an einen alt gewordenen Mann, der im Unterhemd eine Patience legt, an den verkrusteten Schmutz auf seinen Karten. Ich denke an eine alt gewordene Frau, die mich fragt, ob ich Tee, Milch oder Milchkaffee möchte. Wenn ich Vaterland sage, denke ich an männliche Bartstoppeln, so scharf, dass man sich an ihnen schneiden kann. Ich denke an den unersättlichen Ziegenbock aus dem Märchen und an die unermüdlich sinnlos Flachs brechende Großmutter aus dem Kinderlied. Ich denke an die Schüssel voller bunter Plastiklöffel, mit denen die Kinder, die längst schon keine Kinder mehr sind, Eis gegessen haben.

Wenn ich von Vaterland spreche, spreche ich also von einem Raum der Erinnerungen, einem Raum der Familienbande und Freundschaften, einem Raum der Erfahrungen, auch des Lesens und Zuhörens, einem Raum, der sich nur im Groben mit dem Raum jenes Staates deckt, dessen Name Jugoslawien war. Ich spreche von einer emotionalen Geographie, von einem Raum, der real und zugleich nicht real ist, der teilweise noch existiert, teilweise aber nicht mehr, einem Raum, der vergeht und zugleich wiederkehrt. Auf der sich ewig verändernden Landkarte meines Vaterlandes erscheinen unaufhörlich neue Menschen, während andere vergehen. Dafür suche ich einen Namen. Ich suche einen Namen für mich.

Aber um für mich und mein Vaterland einen Namen zu finden, muss ich zuerst einen Namen für meine Sprache finden. Wenn ich von meinem Vaterland spreche, spreche ich auch von meiner Sprache, denn ich bin in einer Sprache aufgewachsen. Wortwörtlich. Geboren wurde ich in Slowenien, schon als Baby habe ich Slowenisch gelernt, das ist die Sprache, die ich mit meinen Kindern und meiner Frau spreche, die Sprache, in der ich schreibe. Aber in meiner Kindheit befand sich, was mir am meisten zu eigen war, in einer anderen Sprache, in der Sprache meiner Eltern, in einer Sprache, die keinen Namen hat. In der Sprache war mein Zuhause, in ihr war meine Familie, in der Sprache war die ganze Liebe. Die Liebe in der anderen Sprache habe ich lange nicht gekannt. Ich musste erst ein großer Junge werden, bevor mich zum ersten Mal jemand auf Slowenisch geliebt hat.

Meine erste Sprache ist damals genauso zerfallen wie der Staat Jugoslawien, nur völlig unbemerkt. Serbokroatisch hat man sie einmal genannt, heute nennt man sie Kroatisch, Bosnisch, Serbisch und Montenegrinisch. Alle diese vier Sprachen sind mir verständlich, aber keine ist wirklich meine. Meine Sprache, meine Muttersprache gibt es nicht mehr, sie existiert offiziell nicht. Wenn ich in meiner Sprache schreibe, passe ich sie daher laufend einer der vier offiziellen Sprachen an, ich übersetze und lektoriere mich. Wenn ich spreche, achte ich unbewusst darauf, dass mich mein Gesprächspartner versteht, wähle die Wörter sorgsam und verwende oft auch solche, die mir nicht zu eigen sind. Als würde ich meiner Sprache nicht ganz trauen, als würde ich mir selbst nicht ganz trauen. Meine namenlose Sprache hat eben kein Wörterbuch, keine Rechtschreibung, vor allem aber hat sie keine anderen Sprecher. Viele verstehen sie, sprechen tue aber nur ich sie. In langen Jahren der Einsamkeit in mir hat sie sich verselbstständigt, ist den anderen Sprachen ungleich geworden.

Aber diese Sprache, das bin genau genommen ich. Und dieses Vaterland ohne Namen, auch das bin ich. Namenlos bin ich, und doch bin ich. Niemand kann mich verneinen. So wie auch niemand mein Vaterland verneinen kann. Ich bin kein Apatride. Ich wurde von nirgendwo vertrieben. Nach vierzig Jahren lebe ich noch immer dort, wo ich geboren wurde. Und immer leichter komme ich mit der Namenlosigkeit zurecht, immer weniger möchte ich das benennen, was ich bin, was ich fühle, was ich liebe. Den Schriftsteller in mir habe ich schon fast davon überzeugt, dass bestimmte Dinge ohne Namen existieren können, dass sie wegen der Namenlosigkeit nicht weniger existent sind. Ich glaube sogar, dass ich die Namenlosigkeit bald so sehr liebgewinnen werde, dass ich nicht mehr auf sie verzichten möchte.

Namen sind nämlich hier, in unseren Gegenden – sehen Sie, ich habe schon begonnen –, ganz besonders einengend. Sie sagen so wenig über uns aus, obwohl sie immer zu viel sagen. Unsere Namen sind seit jeher gewohnt, in die Irre zu führen und zu lügen, sie sind gewohnt, uns vor anderen und vor uns selbst zu verstecken, uns zu verfälschen und zu verändern. Deshalb kann in unseren Gegenden nur ein Mensch ohne Namen sich selbst gehören. Und nur ein Mensch, der sich selbst gehört, kann ein Mensch sein.