Sag ich das Wort Zukunft,
ist seine erste Silbe bereits Vergangenheit.

Sag ich das Wort Stille,
vernichte ich sie.

Sag ich das Wort Nichts,
schaffe ich etwas, das in keinem Nichtsein Raum hat.

—  Wisława Szymborska

 

Endlich! Nach drei langen Jahren konnten wir das Common Ground Programm live in Leipzig präsentieren. Zwar konnten wir auch 2022 nicht in den Hallen der Leipziger Buchmesse auftreten, aber das WIR UND SIE Programm fand im großherzigem UT Connewitz Unterschlupf. Den Auftakt machten am Freitagabend Norbert Mappes-Niediek, Manuel Sarrazin und Ralf Beste, die auch vor dem Hintergrund der aktuellen politischen Lage darüber diskutierten, warum der Westen den Osten nicht versteht. Moderiert wurde der Abend von Ulrich Ladurner.

Am Samstagmorgen sprach Ismar Hačam mit Ivana Bodrožić über die Grenzen bzw. die Fluidität von Sexualität und Gender und wie unterschiedliche Gesellschaften mit diesen Phänomenen umgehen.

Die Lyrikerinnen Marianna Georgieva und Luljeta Lleshanaku stellten im Anschluss, moderiert von Tino Schlench, ihre aktuellen Gedichtbände vor, ausweg und Die Stadt der Äpfel. In ihren Gedichten reisten wir weit über die Stadtgrenzen Leipzigs hinaus, bis in die zermürbende Kälte der Antarktis, und tauchten in unterschiedliche philosophische Welten ein.

Petar Andonovskis Roman Fear of Barbarians eröffnet mit der Ankunft einer Gruppe von Flüchtlingen auf der griechischen Insel Gavdos. Es handelt sich dabei um Wissenschaftler aus Tschernobyl. Der Roman, der teils auf wahren Begebenheiten basiert, könnte aufgrund dieser zufälligen Synchronizität nicht aktueller sein. Mit Andonovski auf der Bühne saß Miha Mazzini, der in Du existierst nicht darüber schreibt, was passiert, wenn Kriege und große Umbrüche schon in der Vergangenheit liegen. Im Nachgang werden Menschen oft zu Opfern politisierter Bürokratie – und Identitäten ad hoc ausgelöscht. Auch sein Roman beruht auf wahren Begebenheiten, beide Titel verbindet der Verlust bzw. der Kampf um die eigene Identität.

Bei der Balkannacht stellten sich gleich fünf literarische Stimmen vor: die albanische Autorin Lindita Arapi, Tanja Stupar Trifunović, die in Die Uhren in Mutters Zimmer eine verworrene Mutter-Tochter-Beziehung beleuchtet, Stefan Bošković, der in seinem Roman Der Minister sich selbst als Figur miteinbringt, Tatiana Țîbuleac, die in Der Sommer, als Mutter grüne Augen hatte eine kaputte Mutter-Sohn-Beziehung analysiert, und die junge Lyrikerin Radmila Petrović, die am Ende ihres Auftritts betonte, dass das Einzige was ihr Land habe, die Berge seien, aber diese seien immerhin beständig, und man könne sie nicht so einfach zerstören.

Im Anschluss an die Lesungen brachten die Pantaloons das ganze UT Connewitz zum Tanzen. Der Livestream des Abends, inklusive Konzert, ist noch circa zwei Wochen abrufbar.

Sonntagfrüh starteten wir dann optimistisch in den Tag hinein: Moderiert von Annemarie Türk sprachen Barbi Marković und Ana Schnabl über verschissene Zeiten und ihre Meisterwerke, über das Leben im Belgrad der 90er und Ljubljana der 80er, und über die Existenz als brutales Videospiel und das Schreiben als autoerotische Praxis. Zu guter Letzt flüchteten wir dann mit Georgi Gospodinov in die Obhut der Vergangenheit und Nostalgie. Er präsentierte gemeinsam mit Jörg Plath seinen kürzlich erschienenen Roman Zeitzuflucht.

Und dann, ja dann war auch alles gleich wieder vorbei, und die Zukunft Vergangenheit. Aber WIR UND SIE, wir und sie sind wie die Berge, beständig und felsenfest.

Wir bedanken uns bei allen teilnehmenden Autor:innen und Moderator:innen und vor allem bei den Übersetzer:innen und Dolmetscher:innen, ohne die Literatur nicht über die eigenen Grenzen hinauswachsen könnte. Unser großer Dank gilt selbstverständlich auch der Leipziger Buchmesse und dem UT Connewitz. Merci!

Das digitale Programm (u.a. mit Lavinia Braniște, Aleksandar Hemon und Nataša Kramberger) sowie ausgewählte Aufzeichungen der WIR UND SIE Live-Veranstaltungen sind auf dem TRADUKI-YouTube-Kanal weiterhin abrufbar: